J. Jouanna u.a. (Hrsg.): Hippocrate et les hippocratismes

Cover
Titel
Hippocrate et les hippocratismes. médecine, religion, société


Herausgeber
Jouanna, Jacques; Zink, Michel
Reihe
XIVe Colloque International Hippocratique
Erschienen
Paris 2015: de Boccard
Anzahl Seiten
IV, 486 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lutz Alexander Graumann, Universitätsklinikum Gießen und Marburg

Jeder, der auf dem Gebiet der antiken griechischen Medizin und über die überlieferte Hippokratische Schriftensammlung (Corpus Hippocraticum, Collection hippocratique, kurz: CH) forscht, kommt nicht um die alle drei Jahre stattfindenden Internationalen Hippokrates-Kolloquien (Colloque International Hippocratique, kurz: CIH) herum, ein unentbehrliches Rüstzeug für Altphilologen, Althistoriker, Sozial- und Medizinhistoriker sämtlicher Couleur. Insbesondere als Orientierung über die aktuellen wissenschaftlichen Akteure und deren Themen empfiehlt es sich, regelmäßig diese Kongressbände zu konsultieren. Der zu besprechende Sammelband ist das Ergebnis des 14. CIH in Paris, vom 8. bis zum 10. November 2012. Nach einem orientierenden Überblick durch den Herausgeber Jacques Jouanna über die von ihm mitinitiierten bisherigen Kolloquien (1972–2012) und Ausblick auf das dieses Jahr im Oktober in Manchester stattfindende CIH folgt eine allgemeine Einleitung des Mitherausgebers Michel Zink. Unter dem Gesamttitel „Medizin, Religion und Gesellschaft“ folgen auf fast 500 Seiten 24 Spezialbeiträge (im Einband ist fälschlicherweise von 22 Beiträgen die Rede). Jeder Artikel steht für sich, die meisten Beiträge enden mit einem eigenen Literaturverzeichnis. Am Ende steht eine Liste aller Autoren (S. 483–485) sowie ein Inhaltsverzeichnis (S. 485–486). Nicht alle 24 Beiträge können hier natürlich besprochen werden, ich beschränke mich auf 8 ausgewählte Artikel:

Amneris Roselli (S. 5–22) nimmt das 80-jährige Jubiläum von Karl Deichgräbers (1903–1984) epochaler Studie „Die Epidemien und das Corpus Hippocraticum“ von 1933 zum Anlass, aktuelle Entwicklungen zur Forschung über diese Schriftengruppe zu referieren. Diese außergewöhnliche Textsammlung mit den ältesten europäischen Krankengeschichten überhaupt fasziniert immer noch. Neueste und geplante Texteditionen, ausgewählte Sekundärliteratur und einige aktuelle, teils wohl unlösbare Forschungsfragen werden präsentiert.

Matthias Witt (S. 101–122) bringt eine Übersicht über die medizinethischen Komponenten im CH und revidiert historische und aktuelle, nämlich moderne praktisch-ethische Fehlinterpretationen, insbesondere die des sogenannten „Hippokratischen Eides“. Dieser taucht immer noch als „zeitloses humanitäres“, historisches Relikt in der Weltärzte-Deklaration von Genf auf und gilt irrigerweise bei zahlreichen Nichtmedizinern als verbindlicher Ärzteschwur bei Berufsbeginn. Witt arbeitet die sozial- und berufsbedingt eher „egoistischen“ Handlungsweisen wie Behandlungsablehnung der im CH repräsentierten aristokratischen („esoterischen“) griechischen Ärzte heraus („dark sides of Hippocratic ethics“). Im Schrifttum des CH wird mehrmals ausdrücklich vor wahrscheinlich aussichtslosen Therapien gewarnt, um Schaden von sich selbst abzuwenden. Dies schließt natürlich eine ganz andere, modern eher „altruistisch“ zu nennende Handlungsweise des einzelnen Arztes in der täglichen Praxis keineswegs aus.

Franco Giorgianni (S. 139–160) konzentriert sich auf die Bedeutung der Zahlensymbolik in einem bestimmten Schriftenkomplex des CH, der Gruppe des „Autoren C“ (so betitelt nach Hermann Grensemann): De muliebribus I und II, De Genitura/De natura pueri, De Morbis IV. Wenig überraschend zeigt er, dass insbesondere die Zahl 7 eine weitreichende Bedeutung in der theoretischen Medizin hatte (Schwangerschaftsdauer, Krisentage et cetera). Zumindest für einen Mediziner ist es dabei sehr ärgerlich, dass er als einzige rezente gynäkologische Fachliteratur (im Zusammenhang mit Lochien) ein 22 Jahre altes, italienisches Gynäkologie-Lehrbuch für Medizinstudierende zitiert; darauf hätte man als Philologe und Nicht-Mediziner meiner Meinung nach besser ganz verzichten sollen, oder wenigstens eine aktuelle internationale Referenzliteratur nennen können.

Isabella Andorlini (S. 217–229), die Expertin auf dem Gebiet der medizinischen Papyrologie, konzentriert sich auf die nur spärlich auf Papyrus überlieferte hellenistische medizinische Literatur (nämlich insgesamt nur 18 Stück) und deren Bezüge zum CH. Sie fokussiert ihre Untersuchung auf P.Ärztekammer 1 (circa 220–150 v.Chr), ein ärztliches „volumen“, in dem sich signifikante Bezüge zu im CH verwendeter Terminologie und geschilderter Praxis wiederfinden. Schließlich spekuliert sie noch über mögliche zeitgenössische Autorenkandidaten dieses Papyrus.

Marie-Hélène Marganne (S. 283–307) befasst sich mit der christlichen Rezeption der hippokratischen Schriften im byzantinischen ländlichen Ägypten (circa 284–641). Als medizinischer Autor und Autorität erscheint in den überlieferten Textzeugen dieser Gegend und Zeit Hippokrates am häufigsten.

Brigitte Mondrain (S. 385–399) überblickt die Stellung des CH in den überlieferten Manuskripten aus byzantinischer Zeit. Zwar stammen tatsächlich die wesentlichen, heute noch erhaltenen Manuskripte mit den Schriften des CH aus byzantinischer Zeit (teilweise direkt aus Konstantinopel), paradoxerweise wurden aber gerade diese Schriften der medizinischen Autoritäten Hippokrates und Galen selbst sehr wenig gelesen und stattdessen deren Inhalte nur auszugsweise in Enzyklopädien integriert (S. 397).

Oliver Overwien (S. 421–435) liefert einen aktuellen Blick auf die syrischen und arabischen Übersetzer des CH. Demnach muss beispielsweise die bisherige These, nur die von Galen kommentierten hippokratischen Schriften seien ins Syrische und Arabische übersetzt worden, in einigen Punkten revidiert werden (S. 427). Auch ist bemerkenswert, dass die meisten der Übersetzer einen christlichen und/oder griechischen Hintergrund besaßen, und dass es sehr viel mehr als nur die bisher fokussierten Übersetzer Hunain ibn Ishaq oder al-Bitriq gegeben hat (S. 433).

Vincent Deroche (S. 437–460) versucht mit seinem Beitrag, das Bild der hippokratischen Medizin in Byzanz darzustellen. Er zeigt, dass die im christlichen Schrifttum der Zeit (Berichte über Heilwunder durch Priester und Heilige) teilweise anzutreffende polemische Aggressivität gegenüber der zeitgenössischen Heilkunst als unilaterale kirchliche Position einer relativen Schwäche zu deuten ist, eine „redaktionelle Strategie“ (S. 439; S. 447; S. 460), zumal es bekanntermaßen eine enge Zusammenarbeit zwischen der neuen Institution der byzantinischen Hospitäler und den Klerikern gab, in organisatorischer und vor allem finanzieller Hinsicht (S. 451). Die aus vorchristlicher Zeit stammende Inkubation (Heilschlaf) im Asklepioskult fand in christlichen Heilkulten (zum Beispiel Artemios, Kosmas und Damian) eine Art Kontinuität, wenngleich wohl fast nur im oströmischen Bereich (soweit die schriftlichen, klerikaler Zensur unterworfenen Quellen diese Aussage zulassen; S. 441). Kirchenheilige können schmerzfrei sogar chirurgische Erkrankungen heilen (zum Beispiel Artemios; S. 449). Deroche zeigt weiterhin, dass die spät christianisierte Ärzteschaft im Byzantinischen Reich im 12. Jahrhundert schließlich wieder eine hohe soziale Stellung innehatte.

Durchaus alle Beiträge können für den jeweiligen Forschungsbereich im CH als Referenzartikel herangezogen werden. Die Themen sind sehr breit gestreut, vielfach mit innovativen Aspekten. Medizinhistorisch sind insbesondere die Artikel von Witt, Andorlini, Overwien und Deroche von Interesse. Man findet rasch Zugang zu neuesten Entwicklungen, den neuesten Publikationen, geplanten oder bereits erschienenen neuen Texteditionen (zum Beispiel Jacques Jouannas neue kritische Edition des Prognostikon, CUF 2012). Die offensichtlich vorhandenen editorischen Mängel1 werden durch die für eine dermaßen umfangreiche Kongress-Publikation relative kurze Dauer bis zur Herausgabe einigermaßen wettgemacht. Auch bleibt die Anzahl der Schreibfehler relativ klein.2 Dem insgesamt gelungenen Band ist ein breites Publikum, im Speziellen von Medizin- und Sozialhistorikern, zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Die editorischen Mängel zeigen sich in einer fehlenden gemeinsamen Bibliographie, fehlendem Stellenregister, fehlendem Personen- und Stichwortverzeichnis. Weiterhin existiert keine einheitliche, durchgehende Quellenzitation, nicht immer werden die gängigen Referenztitel genannt.
2 S. 12, Anm. 17: Epid.I 8.7 : korrekt Epid.VI,8,7; S. 25, Anm. 8: Golder 2007 zitiert, fehlt aber in Artikel-Bibliographie (gemeint ist: Werner Golder, Hippokrates und das Corpus Hippocraticum, Würzburg 2007); S. 53, Bibliographie: Dierbach, 1969, Der Artzneimittel des Hippokrates, Hieldesheim; S. 56, Bibliographie: Lichtenthaeler, 1992, Zur Kontorverse über das …; S. 111, Anm. 53: Zitat von Schubert [1975]; gemeint ist Triebel-Schubert (1985); S. 117: „in antique medical ethics“; S. 118: “Thus, it becomes clears”; S. 139–160 (Artikel von Giorgianni): I.M. Lonie in Fußnoten durchgehend falsch als “I.A. Lonie” zitiert, im Literaturverzeichnis dann aber als „I.M. ILonie“ genannt; S. 226, Anm. 28: „P.Ärtzekammer“, korrekt „P.Ärztekammer“; S. 406, Anm. 24: Cfr. Anna Maria Ieaci Bio […], 1998, pp. 100–121; korrekt: pp. 99–119.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Land
Sprache der Rezension