A. Doering-Manteuffel u.a. (Hrsg.): Liberalismus

Cover
Titel
Liberalismus im 20. Jahrhundert.


Herausgeber
Doering-Manteuffel, Anselm; Jörn Leonhard
Reihe
Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Wissenschaftliche Reihe 12
Erschienen
Stuttgart 2015: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
347 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl Heinrich Pohl, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Der vorliegende Sammelband gibt den Ertrag eines internationalen Kolloquiums aus dem Jahr 2013 in Esslingen wieder. Im Mittelpunkt der Beiträge, die – was bei Sammelbänden nicht immer zutrifft – eine konsistente Einheit bilden, stehen die verschiedenen Liberalismen, die sich in unterschiedlichen Perioden im 20. Jahrhundert in Europa und Nordamerika ausgeprägt haben. Bemerkenswert ist, dass die Studie die nationale Perspektive überwindet und sie zum Teil durch einen transnationalen Ansatz (exemplarisch etwa in den Beiträgen von Michael Freeden und Anselm Doering-Manteuffel) erweitert.

Der Mut der Herausgeber liegt auch darin, mit dem 20. Jahrhundert eine Periode gewählt zu haben, in der der Liberalismus vielerorts auf dem Rückzug gewesen zu sein scheint. In dieser Periode der Extreme mussten sich liberale Überzeugungen immer wieder neu behaupten, hatten sich den jeweiligen nationalen, aber auch den entsprechenden gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Bedingungen anzupassen. Aber sie haben dies, so die Tendenz des Sammelbandes, trotz aller Gefährdung weitgehend erreicht – eine sehr positive Wertung, die im Band belegt werden soll.

Aus diesem Grunde gestalten sich einige der Beiträge wie ein Suchspiel nach dem Motto: Wo finden sich noch Überhänge oder Überreste von Liberalismus in einer politischen, ökonomischen und kulturellen Umgebung, die so ganz illiberal erscheint? Und immer wieder gibt es dann das Aha-Erlebnis: Ja, er existiert noch, der gesuchte Liberalismus, wenn auch manchmal leicht dahinwelkend. Wenn man so will, handelt es sich bei dem Unternehmen also auch um eine Spurensuche.

Die Thematik ist in vier große Blöcke aufgeteilt: Zum einen geht es um das liberale Erbe des 19. Jahrhunderts und um den Umbruch durch den Ersten Weltkrieg. Hier ragt vor allem Jörn Leonhard mit seinem transnationalen Ansatz hervor, in dem Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede in der Entwicklung des internationalen Liberalismus herausgearbeitet werden. Im zweiten Abschnitt über die Zwischenkriegszeit steht die Entwicklung in Deutschland im Mittelpunkt, immer jedoch eingebettet in den Vergleich, wie etwa der Beitrag von Philipp Müller über den Neo-Liberalismus in Deutschland und Frankreich belegt.

Im dritten Abschnitt geht es um die „Erneuerung“ des Liberalismus in den 1920er- bis 1960er-Jahren. Dabei stehen Aspekte des Wohlfahrtsstaates im Mittelpunkt, die unter anderem am Beispiel von Deutschland (Jens Hacke) und Dänemark (Jeppe Nervers/ Niklas Olsen) exemplifiziert werden. Der vierte Teil behandelt schließlich die Jahre von 1970 bis 2008 und kreist inhaltlich um Krisen und Krisenbewältigung in den verschiedensten Ländern Europas (Dominik Geppert: Großbritannien; Giovanni Orsini: Italien; Maciej Janowski: Zentraleuropa und Großbritannien im Vergleich). Abgeschlossen wird der Band durch einen Kommentar von Lutz Rafael, der darin eine kenntnisreiche und zugleich kritische Rezension des Bandes vorwegnimmt.

Wodurch ragt der Band heraus und worin könnten zugleich Defizite bestehen? Ausgangslage aller Beiträge ist die Erkenntnis der Vielgestaltigkeit des Liberalismus. Um ihn zu fixieren, wird das Konzept Liberalismus entweder in den zeitgenössischen Kontext gestellt, das heißt als liberal wird verstanden, was in der jeweiligen Periode als liberal bezeichnet wurde, oder aber es wird auf ein Minimum von zeitübergreifenden Werten zurückgegriffen. Es gibt also, trotz aller Anpassung an die jeweiligen politischen und ökonomischen Umstände, ein allgemeines liberales Korsett, allerdings häufig mit ganz verschiedener Schwerpunktsetzung.

Auf der Suche nach dem klassischen Liberalismus in der Kriegszeit wird Jörn Leonhard in seiner Darstellung des Kriegsliberalismus in Europa und Amerika nicht so recht fündig. Basierend auf seinen breiten Studien zum Ersten Weltkrieg bietet er eine exzellente Übersicht über eine Werteveränderung des internationalen Liberalismus, in dem vielerorts die im 19. Jahrhundert erworbenen Freiheiten und Rechte zurückgenommen wurden – und zwar mit Zustimmung der Liberalen. Die Deutungshoheit über Begriffe wie Nation und Bürgertum ging in dieser Zeit weitgehend verloren, auch das liberale Bild einer pluralistischen Gesellschaft wurde erheblich infrage gestellt. Der Liberalismus, wenn man denn noch von einem solchen sprechen kann, stand damit in der Nachkriegszeit, so Leonhard, vor ganz neuen Aufgaben.

Denen stellte er sich in der Weimarer Republik durchaus. Tim B. Müller identifiziert in seiner Fallstudie den nach seiner Ansicht nun dominierenden (neuen) deutschen Sozialliberalismus vor allem in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Um den modernen Wohlfahrtsstaat aufzubauen, eine nach Müller zutiefst liberale Idee, bedurfte es, so die Argumentation, einer diese Überzeugung vertretende Verwaltung. In ihr, und nicht vorwiegend in den liberalen Parteien, war daher der Liberalismus der Zwischenkriegszeit in Deutschland besonders zu verorten, eine durchaus neue Sicht, die allerdings in Zukunft wohl empirisch noch stärker belegt werden müsste. Die Wage zwischen Freiheit und Gleichheit, urliberale Grundwerte, senkte sich in diesem Falle erheblich zur Gleichheit.

In einem partiell ähnlichen Sinne argumentiert Philipp Müller, der den herrschenden Neo-Liberalismus in Deutschland und Frankreich in der Zwischenkriegszeit als einen Kapitalismus der Vermittlung identifiziert. Hierbei zielt er vor allem auf die von liberalen Ideen geprägten Wirtschaftsverbände ab, denen er eine zentrale Rolle einer für alle verantwortlichen Wirtschaftspolitik zuschreibt. Die Wirtschaft, und weniger die Politik, hätten den Charakter Weimars (und auch Frankreichs) geprägt, und zwar im Sinne zeitgenössischer Gemeinwohlvorstellungen. Vor allem die Organisation in den Wirtschaftsverbänden machte das liberale Milieu aus – und dieses habe eine enorme Bedeutung besessen. Dieser Weimarer Neoliberalismus habe nicht mehr nach „dem Prinzip der Konkurrenz, sondern der Vermittlung funktioniert“ (S. 121). Für diese sehr wohlwollende Interpretation industrieller Interessenpolitik hätte man gern ein paar konkrete Beispiele gesehen. Die Politik der Schwerindustriellen-Verbände kann Philipp Müller jedenfalls nicht gemeint haben.

In welch Chamäleon-gleicher Verwandlung zeigte sich nun der Liberalismus in neuester Zeit? Jens Hacke setzt sich exemplarisch mit der Problematik auseinander, ob die Gründung der Bundesrepublik aus „dem Geist des Liberalismus“ vonstatten gegangen sei. Er definiert die Bundesrepublik als einen durch liberale Ideen getragenen Staat, in dem „politische Freiheit, politische Partizipation, Parlamentarismus, die Ermöglichung von Chancengleichheit und der Rechtsstaat zentral sind“ (S. 222). Das aber war nicht allein den Bemühungen der Liberalen oder den liberalen Traditionen zu verdanken, sondern vor allem dem alliierten Einfluss nach 1945. Liberales Gedankengut, so Hacke, ist in Deutschland im 20. Jahrhundert politisch nicht mehr nur in einem speziellen Milieu zu verorten, sondern ist Allgemeingut geworden, was den politischen Liberalismus im Parteienspektrum überflüssig machen könnte.

Und der „neue“ Neoliberalismus? Dominik Geppert ordnet ihn in seinem Beitrag über Großbritannien und die USA als eine konservative Periode des Liberalismus ein, der in beiden Ländern für zwei Jahrzehnte dominierte, dessen Höhepunkt aber gegenwärtig schon wieder überschritten sein könnte. „Es mehren sich“ – so Geppert – „die Stimmen in Politik, Publizistik und Wissenschaft, die ein Ende der Ära von Thatcherismus und Reaganismus kommen sehen“ (S. 271). Die liberale Zielsetzung von Chancengleichheit, sozialer Gerechtigkeit und allgemeinen Bürgerrechten, der „Konsensliberalismus“, könnte also auch in Zukunft, im Gegensatz zu den liberalen Ideen im 19. und späten 20. Jahrhundert, das liberale Wertesystem wieder prägen und damit die Wandlungsfähigkeit des Liberalismus beweisen.

Fazit: Es handelt sich um ein höchst lesenswertes, allerdings nicht in allen Beiträgen leicht lesbares Buch, das methodisch viele Facetten zeigt, nationale Enge in der Argumentation überwindet, viele Fragen aufwirft, aber vielleicht die Bedeutung des Liberalismus für das 20. Jahrhundert ein wenig überschätzt. Denn wer viel sucht, der findet auch viel. Er kann sich aber in der Bedeutung des Gefundenen womöglich manchmal etwas verschätzen.