A. Grabner-Haider u.a.: Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts

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Titel
Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts.


Autor(en)
Grabner-Haider, Anton; Davidowicz, Klaus S.; Prenner, Karl
Erschienen
Göttingen 2015: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Raffaela Bub, Seminar für Neuere Geschichte, Universität Tübingen

Um die Bedeutung von Religion und Kirche hervorzuheben, hat Olaf Blaschke das 19. Jahrhundert als zweites konfessionelles Zeitalter bezeichnet. 1 Die Autoren des vorliegenden Bandes setzen ebenfalls religionsgeschichtliche Schwerpunkte, indem sie christliche, jüdische und islamische Lebens- und Kulturwelten darstellen, die in einen breiten ideengeschichtlichen Kontext eingeordnet werden. Das Ziel bestehe darin, dem Leser einen „konzentrierten Überblick über wichtige Lebensbereiche der Kultur“ (S. 9) des 19. Jahrhunderts zu vermitteln. Dabei werde ein breiter Kulturbegriff angelegt, um den interkulturellen Dialog zu ermöglichen. Der Versuch einer groben Definition wird nicht unternommen. Das Buch gliedert sich nach Autoren in drei unterschiedlich große Teile: Anton Grabner-Haider befasst sich vorrangig mit den christlichen Lebenswelten Europas in Verbindung mit Nord- und Südamerika, während Klaus S. Davidowicz verschiedene Facetten der jüdischen Kultur des 19. Jahrhunderts vorstellt. Karl Prenner beschließt den Band mit einem Überblick zur islamischen Kulturgeschichte.

Bereits in der Einleitung wird das Jahrhundert als Kampf zweier widerstreitender Kräfte – eines liberalen und eines repressiv-konservativen Lagers – dargestellt. Gedeutet wird dieser Kampf im Spannungsfeld einer als rational verstandenen Aufklärung und der Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Das erste Kapitel stellt dementsprechend die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen im europäischen Raum dar.

In den beiden folgenden Kapiteln wendet sich Grabner-Haider philosophischen und ideologischen Konzepten zu. Die verschiedenen philosophischen Ideen des Jahrhunderts werden anhand prominenter Vertreter vorgestellt. Zu Beginn konstatiert der Autor eine Abkehr vom kritischen und rationalen Denken der Aufklärung in Mittel-, Süd- und Osteuropa. Dort habe sich, im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern, aber auch Frankreich und Holland, ein konservatives Denken durchgesetzt, das nicht zuletzt an den Universitäten staatlich verordnet worden sei. Der deutschen Schulphilosophie und Kultur attestiert der Autor einen „geistigen ,Sonderweg‘“ (S. 24), habe das dort vorherrschende idealistische Denken der kritischen Philosophie der Aufklärung doch eine klare Absage erteilt.

Den Begriff der „Ideologie“ definiert Grabner-Haider als Lehr- und Glaubenssystem mit absolutem Geltungsanspruch. Von konservativer Seite sei häufig auf platonische Ideen und ein europäisches Herrschaftschristentum zurückgegriffen worden, um liberale und sozialistische Ideologien abzuwehren. Insgesamt könne jedoch keine Rede von einer Dialektik der Aufklärung sein: „Denn es haben keine Ideen der rationalen Aufklärung in ihr Gegenteil dialektisch umgeschlagen“ (S. 41).

Die drei folgenden Kapitel sind der Darstellung protestantischer, katholischer und orthodoxer Lebenswelten gewidmet. Neben kirchenpolitischen und sozialen Entwicklungen werden die verschiedenen Denklinien der Theologie nachgezeichnet. Der Protestantismus habe in Europa verschiedene Formen angenommen: Während die Ideen der Aufklärung vor allem in der Anglikanischen Kirche, aber auch in calvinistisch geprägten Ländern auf fruchtbaren Boden fielen, blieb der Spielraum liberaler theologischer Bestrebungen in den deutschen Ländern begrenzt. Vor allem mit Blick auf den anglikanischen Protestantismus formuliert Grabner-Haider die These, dass „die Grundwerte der modernen Kultur hauptsächlich das Ergebnis des protestantischen Denkens“ seien (S. 65). In seiner Darstellung der vielfältigen katholischen Lebenswelten plädiert Grabner-Haider wiederholt dafür, zwischen Kirchenleitung und Kirche zu unterscheiden: Gegen die konservative Haltung der Kirchenleitung habe sich ein liberal ausgerichtetes Laienchristentum gebildet, das zunehmend autonome Züge annahm. Der orthodoxen Kirche des Zarenreichs schreibt der Autor demgegenüber einen durchweg antimodernen und unbeweglichen Charakter zu.

Das siebte Kapitel behandelt den ereignisgeschichtlichen Hintergrund des 19. Jahrhunderts. Der Aufbau des Buchs erschließt sich an dieser Stelle nicht ganz. Kapitel acht befasst sich mit prägenden naturwissenschaftlichen und technischen Neuerungen, deren Ambivalenz der Autor hervorhebt – hätten die Zeitgenossen doch gerade im militärischen Bereich das zerstörerische Potenzial des wissenschaftlich-technischen Fortschritts nicht erkannt. Kapitel neun und zehn bilden verschiedene Strömungen der Literatur-, Musik- und Kunstszene ab, die gesellschaftliche Stimmungslagen und Konflikte widerspiegelten.

Der zweite, von Klaus Davidowicz verfasste Teil beschäftigt sich mit den Kulturwelten des Judentums. Dabei betont der Autor, die jüdische Lebenswelt könne nicht als abgeschlossene Subkultur verstanden werden, sondern sei „Teil der Kultur dieser Epoche“ (S. 169). Bestimmend sei im 19. Jahrhundert die „Frage nach der jüdischen Nation und der jüdischen Religion“ gewesen, „ein mitunter verzweifeltes Ringen mit der jüdischen Identität und ihren traditionellen Überlieferungen“ (S. 167). Davidowicz unterscheidet dabei zwei Konzepte, die prägende Wirkung entfaltet hätten: zum einen den Zionismus in Form eines modernen jüdischen Nationalismus, zum anderen die Akkulturation bzw. Assimilation an eine entsprechende Umgebung, deren Konsequenz in der Ablehnung jüdisch-nationaler Begriffe liege. Das sogenannte Reformjudentum, dem bis heute eine zu starke Assimilation und Verchristlichung der jüdischen Kultur vorgeworfen werde, habe in diesem Kontext federführend zu einem zeitgemäßen und modernen Verständnis des Judentums beigetragen. Thematisiert werden darüber hinaus die Verwissenschaftlichung des jüdischen Glaubens und der Wiener Ritus. Die Ursachen und Ausprägungen eines sich verhärtenden Antisemitismus finden ebenso Beachtung wie die Folgen der fehlgeschlagenen Emanzipation im Zarenreich. Im Mittelpunkt steht der deutschsprachige Raum, wobei wiederholt Bezug auf das östliche Judentum und den Chassidismus genommen wird. Eine dritte Option neben Zionismus und Akkulturation sei die Auswanderung in die USA gewesen, der Davidowicz ein weiteres Kapitel widmet.

Karl Prenner stellt abschließend die islamische Kulturgeschichte vor, indem er das Osmanische Reich, die Herrschaft der Qadscharen im Iran sowie den Niedergang der Moguldynastie und die britische Herrschaft in Indien behandelt. Gemeinsam sei allen drei Reichen, dass sie im Laufe des 19. Jahrhunderts an Autonomie eingebüßt und in zunehmende Abhängigkeit von europäischen Mächten geraten seien. Reformprogramme, die eine Modernisierung nach europäischem Vorbild anstrebten, hätten dazu beigetragen, einen gesellschaftlichen und kulturellen Dualismus zu fördern. Unter den Bedingungen westlicher Einflussnahme sei der Islam in allen drei Imperien nicht nur zur Legitimation von Herrschaft instrumentalisiert und politisiert worden, sondern habe auch zunehmend als gesellschaftliche und kulturelle Identität gedient.

In Auseinandersetzung mit dem Westen bildeten sich im 19. Jahrhundert islamische Reformbewegungen heraus, die anhand verschiedener Beispiele vorgestellt werden. Die Erneuerungsbewegungen propagierten eine Rückwendung zu den „frommen Vorfahren“ und die Überwindung volksreligiöser Kulte und Riten. Vertreter eines liberalen islamischen Modernismus hielten dabei „islamische Tradition und europäische Moderne grundsätzlich [für] vereinbar“ (S. 216). Neben politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen wird auch dem literarischen und künstlerischen Schaffen Aufmerksamkeit geschenkt. Prenner versteht es, wesentliche Forschungsliteratur sinnvoll in seinen Text einzuarbeiten, wodurch es ihm gelingt, dem Leser verschiedene Deutungen und Perspektiven anzubieten.

Insgesamt handelt es sich bei der vorliegenden Darstellung um einen gut lesbaren Überblick über verschiedene religiöse Räume des 19. Jahrhunderts. Ob ein grenzenloser Kulturbegriff sinnvoll ist, mag dahingestellt bleiben. Störend erscheint die Homogenisierung und positive Überzeichnung einer als rational und vernunftorientiert gedachten Aufklärung und auch das dichotomische Bild eines liberalen und eines reaktionären Lagers. Gewinnbringend wäre die Reflexion der Frage gewesen, ob und inwieweit die Aufklärung im Singular zu verwenden und überhaupt als „Geburtsstunde der Moderne“ zu bezeichnen ist. 2 Eine Deutung der europäischen Geschichte zwischen Aufklärung und den Kriegen des 20. Jahrhunderts läuft darüber hinaus Gefahr, das 19. Jahrhundert zu einem reinen Übergangszeitraum zu machen und von seinem Anfang bzw. Ende her zu deuten. 3 Zum Einstieg in die Geschichte des 19. Jahrhunderts bietet der Band aber eine große Fülle an Informationen, die interessant dargeboten werden.

Anmerkungen:
1 Olaf Blaschke, Abschied von der Säkularisierungslegende. Daten zur Karrierekurve der Religion (1800–1970) im zweiten konfessionellen Zeitalter, eine Parabel, in: zeitenblicke 5,1 (2006), http://www.zeitenblicke.de/2006/1/Blaschke/index_html (05.09.2017).
2 Andreas Pečar / Damien Tricoir, Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne?, Frankfurt am Main 2015.
3 Vgl. bspw. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 102–104, der eine Dreiteilung des Jahrhunderts vorschlägt und auf dessen „eigentlichen“ Kern verweist.