S. Vassileva-Karagyozova: Coming of Age under Martial Law

Cover
Titel
Coming of Age under Martial Law. The Initiation Novels of Poland's Last Communist Generation


Autor(en)
Vassileva-Karagyozova, Svetlana
Reihe
Rochester Studies in East and Central Europe
Erschienen
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
€ 81,33
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Peters, Institut für Zeitgeschichte, Berlin

Dass die politische Wende von 1989 für viele Menschen im östlichen Europa einen tiefen lebensgeschichtlichen Einschnitt bedeutete, scheint auf der Hand zu liegen. Wie die Erfahrung der Transformation vom Staatssozialismus zum Kapitalismus jedoch konkret zu einer generationsprägenden Erzählung wurde, ist weitaus schwieriger zu erklären. Nicht zuletzt deshalb ist es auch für Zeithistoriker von großem Interesse, wie sich die an der University of Kansas lehrende Slawistin Svetlana Vassileva-Karagyozova der Generation der polnischen „1989er“ nähert.

Sie tut dies auf durchaus originelle Weise, indem sie nämlich ein Sample von rund 30 polnischen Romanen analysiert, die sich mit Kindheit und Adoleszenz in den letzten Jahren des Spätsozialismus auseinandersetzen. Ausgehend von der Beobachtung, dass zwischen 1960 und 1975 geborene polnische Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Joanna Bator, Wojciech Kuczok, Grażyna Plebanek oder Krzysztof Varga sich auffällig oft des literarischen Genres des Bildungsromans bedienen, spürt sie den Verbindungen zwischen den Tiefenwirkungen des gesellschaftlichen Wandels der Transformationszeit und der retrospektiven Konstruktion einer Generationserzählung in diesen „coming of age novels“ nach.

Als formatives Ereignis für die Generation der polnischen Wendekinder betrachtet Vassileva-Karagyozova nicht so sehr den eigentlichen politischen Umbruch von 1989, als vielmehr die diesem vorausgegangene Phase des Kriegsrechts und des gesellschaftlichem Stillstands der 1980er-Jahre. Sie lenkt den Blick damit zurecht auf den Hiatus zwischen dem revolutionären Aufbruch der Solidarność von 1980/81 und dem am Runden Tisch ausgehandelten Systemwechsel von 1989. Die in dieser Zeit aufgewachsenen „Kinder des Kriegsrechts“, die zu jung gewesen waren, um sich an der Massenbewegung der Solidarność aktiv zu beteiligen, erlebten den Staatssozialismus nur noch als zutiefst dysfunktionales System ohne jede Zukunftsperspektive. Nach der Niederschlagung der Oppositionsbewegung unter Kriegsrechtsbedingungen im Dezember 1981 war ihnen aber auch der für die polnische Nationalkultur prägende Ausweg des romantischen Aufbegehrens verstellt. Durch die 1989 von den Solidarność-Eliten ausgehandelte Wende fühlten sie sich schließlich endgültig um ihre Chance betrogen, die Geschichte in die eigenen Hände zu nehmen.

Die spätere literarische Selbstthematisierung der polnischen „1989er“ konnte sich folglich nicht auf traditionelle heroisierende Konzepte generationeller Handlungskraft berufen, sondern musste Zuflucht zur Konstruktion einer antiheroischen, „passiven“ Generationalität nehmen. Vassileva-Karagyozova greift hier die einflussreiche These der polnischen Literaturwissenschaftlerin Maria Janion vom Ende des romantischen Paradigmas in der polnischen Kultur auf und verortet den Generationenkonflikt zwischen den Kriegsrechts-Kindern und ihrer Elterngeneration, den polnischen „1968ern“, im Kontext der Abkehr vom heroisch-martyrologischen Kulturmodell. Während die „1968er“ sich seit den Studentenprotesten des polnischen März 1968 durch politischen Aktivismus definierten und sowohl in der Oppositionsbewegung der 1980er-Jahre als auch im postsozialistischen Polen die Führungsrolle für sich beanspruchten, blieben den „1989ern“ vergleichbare initiatorische Erfahrungen kollektiver Handlungsmacht versagt. Folglich blieb ihr generationelles Bewusstsein weitaus prekärer und von inneren Spaltungen überschattet. Während die Mehrheit der Kohorte sich einem apolitischen Liberalismus verschrieb und die individuellen Chancen des sich etablierenden polnischen Kapitalismus nutzte, erfanden sich einige Altersgenossen als dezidiert konservative Intellektuelle neu und avancierten zu Vordenkern und Stichwortgebern des von der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) angeführten rechten Lagers.

Im ersten Hauptkapitel ihres Buches zeichnet Vassileva-Karagyozova zunächst publizistische Debatten über die Generation der Kriegsrechts-Kinder nach der Jahrtausendwende nach und zeigt damit den diskursiven Kontext für deren literarische Selbstthematisierung auf. In den folgenden Teilen wendet sie sich ihrem eigentlichen Textkorpus, den Bildungsromanen der „1989er“ zu. Ihr Hauptaugenmerk gilt dabei der Darstellung von pathologischen innerfamiliären Dynamiken und deren soziokulturellen Hintergründen, die sie als Metapher für den unaufgelösten politischen Generationenkonflikt zwischen den „1989ern“ und ihrer Elterngeneration deutet.

Das zweite Kapitel konzentriert sich auf den schwierigen Reifeprozess der fiktiven jugendlichen Protagonisten. Deren Adoleszenz im ideellen und moralischen Niemandsland der Transformationszeit ist durch Eskapismus und fragmentierte Selbstfindungsprozesse geprägt. Vassileva-Karagyozova konstatiert hier eine auffällige Gender-Spezifik der Erzählperspektiven: So neigen weibliche Autorinnen eher dazu, in der Abkehr vom hergebrachten Kollektivismus auch Ansätze emanzipatorischen Wandels zu sehen, wohingegen männliche Autoren den Zerfall der alten Ordnung in den Mittelpunkt stellen und die 1980er-Jahre als Zeit sozialer „Verwilderung“ beschreiben. Auch die Identitätssuche der fiktiven Protagonistinnen nach 1989 gestaltet sich in der Regel erfolgreicher als bei männlichen Romanfiguren.

Diesen Befund nimmt Vassileva-Karagyozova zum Anlass, anschließend die jeweiligen Rollen von Vätern und Müttern in den literarisierten Eltern-Kind-Konflikten in den Blick zu nehmen. Die in den Romanen allgegenwärtigen Pathologien und innerfamiliären Rollenkonflikte führt sie auf die widersprüchliche Geschlechterordnung des Spätsozialismus zurück, die sie als Patriarchat „mit leerem Thron“ bezeichnet (S. 93). Zwar hätten die polnischen Kommunisten die patriarchale Ordnung mit forcierter Gleichberechtigung in der öffentlichen Sphäre durchbrochen, etwa durch die berufliche Aktivierung von Frauen; in der privaten Sphäre seien traditionelle Rollenbilder aber weitgehend unangetastet geblieben. In Folge der voranschreitenden Erosion des politisch durchherrschten öffentlichen Raums während des Spätsozialismus sei dann die weiblich dominierte private Sphäre als alleiniger Bezugsraum für die Ausprägung von Geschlechterrollen verblieben.

Die daraus resultierende tiefgreifende Maskulinitätskrise im Spätsozialismus, die etwa in Juliusz Machulskis Kult-Film „Seksmisja“ (1984) einen wirkmächtigen popkulturellen Ausdruck fand, spiegle sich in den untersuchten Romanen in Gestalt einer „epidemischen Vaterlosigkeit“ wider: Väter sind hier entweder von vornherein abwesend (als Emigranten oder Untergrund-Aktivisten), treten als entfremdete, allein auf die Wahrung der äußeren Form bedachte Parteigänger des Regimes auf oder leben ihre defizitäre Maskulinität in Form von Alkoholismus und Gewalt aus. Mütter hingegen werden stets als Märtyrerinnen oder Kämpferinnen dargestellt, was grosso modo dem hergebrachten Rollenmodell der „Matka Polka“ entspricht, jedoch mit emotionalen Bedürfnissen und Ambitionen der Kinder teils eklatant kollidiert. Als „paradigmatischen Bildungsroman der polnischen 1989er“ (S. 126f.) betrachtet Vassileva-Karagyozova vor diesem Hintergrund „Absolutna amnezja“ von Izabela Filipiak (1995). Die generationelle Lage der „Kinder des Kriegsrechts“ wird hier von der jugendlichen Protagonistin Marianna verkörpert, die als Spross einer Mesalliance zwischen der katholischen Mutter Polen und dem Vater Kommunismus mit deren konkurrierenden, aber gleichermaßen kollektivistischen und übergriffigen Ansprüchen konfrontiert ist.

Im fünften und letzten Kapitel widmet sich Vassileva-Karagyozova schließlich dem Einfluss des Katholizismus auf das Heranwachsen der fiktiven Protagonistinnen und Protagonisten. Sie kommt hier zu dem Ergebnis, dass die in vielen Romanen nachgezeichnete Entfremdung vom traditionellen Katholizismus keine grundsätzliche Abkehr von Religiosität impliziert. Vielmehr sei diese als Rebellion gegen den katholischen Rigorismus der Eltern- und Großelterngeneration und als betont individualistische Antwort auf übermäßig institutionalisierte und ritualisierte Formen des polnischen Katholizismus zu verstehen.

Vassileva-Karagyozova bettet ihre literaturwissenschaftlichen Untersuchungen überzeugend in den kulturhistorischen Hintergrund ein, indem sie jedem Kapitel eine (teils recht umfangreiche) historische Einleitung voranstellt. Für die Auswertung ihres Textkorpus greift sie intensiv auf soziologische, pädagogische und psychologische Theorieangebote zurück. Damit gelingt es ihr eindrucksvoll, die engen Bezüge und Zusammenhänge zwischen schöner Literatur, historisch-sozialer Realität und der kulturellen Konstruktion von Generationserzählungen herauszuarbeiten.

Ein solcher integrativer Ansatz läuft allerdings unausweichlich Gefahr, die jeweiligen Eigenlogiken der Untersuchungsebenen ein wenig zu unterschätzen. Wo Vassileva-Karagyozova etwa die in den Bildungsromanen dargestellten familiären Konflikte in ahistorischen soziologischen oder entwicklungspsychologischen Kategorien interpretiert, tritt die historische Spezifik der gesellschaftlichen Verhältnisse im Spätsozialismus stellenweise allzu sehr in den Hintergrund. Ihre Überzeugung, dass „Literatur als Projektion des Unbewussten verspricht, Emotionen und Dispositionen aufzudecken und zu erklären, die von den metrischen Systemen der Soziologen und dem beobachtenden Blick der politischen Analysten unbemerkt geblieben sind“ (S. 140), steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu ihrer dezidiert konstruktivistischen Perspektive auf Generationalität. Der leichthändige Wechsel zwischen den Bezugsebenen der Analyse lässt Vassileva-Karagyozovas Schlussfolgerungen zuweilen etwas gewagt erscheinen. Gleichwohl beeindrucken ihre Reflexionen durch ebenso engagierte wie wohltuend differenzierte Argumentation.

Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht mag man etwas skeptischer sein, inwieweit sich aus der Untersuchung retrospektiver und noch dazu fiktionaler Texte tatsächlich Rückschlüsse auf die historische Empirie ziehen lassen. Aus den von Vassileva-Karagyozova ausgewerteten Bildungsromanen lässt sich demnach allenfalls indirekt etwas über die soziale Wirklichkeit der 1980er-Jahre in Polen erfahren – wohl aber sehr viel Erhellendes über die retrospektive Wahrnehmung dieser Zeit und deren Verarbeitung zu einer Generationserzählung. Ihre ausgesprochen anregende und intellektuell anknüpfungsreiche Studie liefert wertvolle Impulse für die zeithistorische Forschung zur Konstruktion von Generationalität in der Transformationszeit und schärft das Bewusstsein für die Rolle literarischer Texte in diesem Prozess.

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