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Titel
Tropenliebe. Schweizer Naturforscher und niederländischer Imperialismus in Südostasien um 1900


Autor(en)
Schär, Bernhard C.
Erschienen
Frankfurt am Main 2015: Campus Verlag
Anzahl Seiten
374 S.
Preis
€ 43,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Clemens Six, Department of History, University of Groningen

In der Schweiz ist in den vergangenen Jahren ein reges und vor allem durch junge Autor/innen gespeistes Forschungsfeld entstanden, das ausgewählte Aspekte der Schweizer Geschichte und vor allem der schweizerischen Entwicklungspolitik unter neuen Perspektiven beleuchtet. Im Rahmen zahlreicher Dissertations- und post-Doc-Projekte wird dabei das historische Engagement Schweizer Akteur/innen im Lichte transnationaler Vernetzungen und Interdependenzen evaluiert und im Rahmen europäischer sowie globaler Dynamiken neu interpretiert. Das Buch „Tropenliebe“ von Bernhard Schär ist ein weiterer wichtiger Beitrag zu diesen Diskussionen, die die bislang vor allem nationale Ausrichtung schweizerischer Geschichtsschreibung durch globalhistorische Blickwinkel zu ergänzen und teilweise auch zu ersetzen versuchen.

Der Titel des Buches beschreibt einen zweifachen Begriff von Liebe, den Schär an den Anfang seiner Untersuchungen stellt: die Liebe in den Tropen, die die Liebesbeziehung zwischen den Vettern zweiten Grades und Patriziersöhnen aus Basel, Paul und Fritz Sarasin, meint; und die Liebe für die Tropen, die die naturwissenschaftliche, aber auch kulturelle Begeisterung dieser beiden Forscher für kolonisierte ‚Naturvölker’ beschreibt. Das Buch analysiert anhand der ausgedehnten Forschungsreisen dieser beiden Vettern auf der Insel Celebes (heute Sulawesi) um 1900 die zunehmend komplexen Verflechtungen und Austauschbeziehungen des Großbürgertums in Basel mit der imperialistischen Expansion der Niederländer in Indonesien. Auf anspruchsvolle und illustrative Weise versteht es Bernhard Schär dabei, sehr persönliche Facetten der damals tabuisierten Liebe zwischen Männern mit Aspekten der Basler Stadtgeschichte, naturwissenschaftlicher Wissensgenerierung und kolonialer Durchdringung in Asien zu verknüpfen. Obwohl es angesichts der Fülle zum Teil sehr unterschiedlicher empirischer und auch theoretischer Motive nicht immer ganz einfach ist, den Kern der Untersuchung im Auge zu behalten, bietet dieses Buch wichtige Denkanstöße in mehrerlei Hinsicht.

Die zentrale Akteursgruppe in diesem Buch ist eine transnationale Gemeinschaft von Südostasienforschern, die nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutschland, den Niederlanden, Großbritannien, Frankreich und anderen europäischen Staaten aktiv war. Die Vettern Sarasin waren Teil dieses Forschermilieus, das intern regen wissenschaftlichen und auch persönlichen Austausch sowie Wettbewerb pflegte, um so die Wissensgenerierung im imperialen Zeitalter in Bereichen der Geographie, Anthropologie, Rassenkunde und den Naturwissenschaften voranzutreiben. Was die Sarasins dabei nach Indonesien brachte war die Frage, wo genau die Grenzen zwischen einer „asiatischen“ und einer „australischen“ Fauna verläuft. Die dafür unternommenen Expeditionen waren also Teil einer geographischen und zoologischen Vermessung der Welt, die – zumindest aus der Sicht der Sarasins – der wissenschaftlichen Erfassung globaler Zusammenhänge dienen sollte. Natürlich waren diese Expeditionen auch politische Projekte. Obwohl mit reichlich Eigenkapital ausgestattet, wurden die Vettern aus Basel logistisch und militärisch von der niederländischen Kolonialverwaltung in Batavia (Jakarta) unterstützt, die ihrerseits die Erkenntnisse der Expeditionen für die koloniale Durchdringung und Beherrschung Sulawesis nutzte.

Der vielleicht interessanteste Aspekt dieser Expeditionen ist, dass die leitenden Forscher selbst keine Niederländer waren, die Kooperation zwischen niederländischer Kolonialverwaltung und den Basler Großbürgern aber offensichtlich eng und in wechselseitigem Vertrauen erfolgte. Die politischen Autoritäten in Batavia haben um die Jahrhundertwende im Zuge ihrer eigenen Neuorientierung, die Schär ausführlich in einem gesonderten Kapitel diskutiert, die Forschung ausländischer Wissenschaftler innerhalb Niederländisch-Indiens nicht nur toleriert, sondern im Hinblick auf die eigenen strategischen Interessen aktiv unterstützt.

Dieses Merkmal der Basler Forschungsreisen, das schweizerische Wissenschaftsmilieus mit niederländischen Imperialinteressen verbindet, nimmt Schär zum Anlass, um eine empirische sowie theoretische Neuausrichtung der Kolonialismusforschung vorzuschlagen. Die Geschichte der transnationalen Wissensproduktion um die Jahrhundertwende müsse als graduell unabhängig von Kolonialinteressen verstanden werden, da, wie im Falle der Sarasins ersichtlich, keine einfache Deckungsgleichheit vorlag. Daraus folgt aber zweitens, dass es für die koloniale Wissensproduktion keines eigenen Kolonialstaates bedurfte. Die Kolonialgeschichte, die sowohl die politisch-militärische Expansion sowie die Wissenschaften im kolonialen Zeitalter analysiert, sollte ihre relevanten Akteur/innen nicht nur innerhalb der jeweiligen Kolonialreiche und deren Metropolen suchen, sondern auch zentrale Milieus und Netzwerke außerhalb berücksichtigen, wie etwa jenes des städtischen Bürgertum der Schweiz. Schär fordert daher, den aus seiner Sicht bisher vorherrschenden „empire-centred approach“ (S. 17) zu überwinden und stattdessen (westliche) Kolonialreiche als „Durchgangszonen“ (S. 17), „Begegnungszonen“ (S. 19) und imperiale Netzwerke (S. 20) zu interpretieren. In diesen Zonen kommunizierten und versammelten sich nicht nur Beamte, Wissenschaftler und andere Akteur/innen aus den jeweiligen europäischen Kolonialmetropolen, sondern auch Vertreter/innen eines globalisierten Bürgertums aus Gesellschaften, die selbst keine Kolonien unterhielten.

Dieser Ansatz ist nicht ganz neu. Kolonialhistoriker/innen versuchen mittlerweile schon seit einigen Jahren, den Blick auf die international vernetzten Milieus sowohl in den kolonialen Metropolen in Europa als auch in den urbanen Zentren in den Kolonien zu richten. Sie erkennen dabei mehr und mehr die zentrale Rolle kosmopolitischer Kreise, die in ihren theoretischen Arbeiten, ihren politischen Aktivitäten wie auch ihren sozialen Verbindungen Grenzen der Kolonialreiche überschritten und damit vor allem um 1900 zum Aufbau einer transnationalen Öffentlichkeit beitrugen, die sich nicht mit den Einflusssphären europäischer Kolonialreiche gleichsetzen lässt.1 Die Studie von Bernhard Schär stellt in diesem Sinn eher die gelungene Bestätigung und Weiterführung einer bereits existierenden Forschungstendenz dar als ein vollständig neues Design historischer Interpretation.

Schärs Buch ist im Wesentlichen chronologisch aufgebaut. Es beginnt mit der Analyse des Basler Großbürgertums und dessen seit dem 17. Jahrhundert immer globaleren Handelsbeziehungen, die die Schweiz auch mit europäischen Kolonien in Asien und Afrika verband. Schär folgert aus dieser Basler Globalisierung, dass sich die Geschichte dieser Stadt lediglich „graduell“, nicht aber „kategorial“ von den europäischen Kolonialmetropolen wie Paris, London oder Berlin unterscheide (S. 41). Obwohl die Verbindungen des Basler Bürgertums mit den europäischen Kolonien tatsächlich erstaunlich intensiv waren, erscheint diese These doch etwas gewagt. Zentrale Dimensionen in den Wechselwirkungen zwischen Kolonien und europäischen Metropolen wie etwa Migration, Siedlerkolonialismus oder die Auswirkungen kolonialwirtschaftlicher Ausrichtungen der Kolonien entlang der Bedürfnisse der Metropolen, die vor allem in wirtschaftlichen Krisenperioden erheblich waren, existierten zu keinem Zeitpunkt für die Schweizer Städte. Die weiteren Kapitel des Buches illustrieren aber hinreichend, wie intensiv und vielfältig die Interdependenzen zwischen Basler Bürgertum, europäischer Wissensproduktion und niederländischer Kolonialexpansion gewesen sind.

Methodisch basiert Schärs Studie vor allem auf dem Privatarchiv der Sarasins sowie auf niederländischen Kolonialquellen in Den Haag und Jakarta. Diese Quellen erlauben Schär eine zum Teil sehr detaillierte und ausführliche Rekonstruktion der Forschungsreisen, der wissenschaftlichen Modellbildungen und auch der kolonialadministrativen Wahrnehmung dieser Forschung. Zu den besonders interessanten Teilen des Buches gehören aber auch jene Abschnitte, in denen Schär die Perspektiven und Interessen der lokalen Bevölkerung rekonstruiert. In ihren Funktionen als Träger („Kulis“), Informanten und regionale Herrscher spielten lokale Akteur/innen eine entscheidende Rolle sowohl für das Gelingen der Expeditionen als auch in der zunehmend gewaltsamen Expansion niederländischer Herrschaft. Im Gegensatz zu den Handelsbeziehungen lässt sich die Wissensproduktion mit den Quellen des Buchs jedoch nicht konsequent transnational analysieren. Lokale Akteur/innen in den Kolonien werden zwar in den oben genannten Funktionen wahrgenommen, als eigenständige Wissensproduzenten, die wiederum den Wissenschaftsbetrieb in Europa mitbestimmt haben, kommen sie aber nicht in den Blick. In Schärs Buch bleibt Wissenschaft ein ausschließlich europäisches (und damit 'weißes') Unterfangen. Eine Möglichkeit, auch in diesem Bereich transnationale Perspektiven aufzuzeigen, hätte Südasien geboten, dem Schär ein eigenes Kapitel widmet. Um 1900 entstand etwa in Bengalen eine Generation indischer Wissenschaftler/innen, die den Diskurs zu ‚Rasse’ und anderen Themen der damaligen Wissenschaft nicht unwesentlich mitgeprägt hat.

Schärs Studie zur „Tropenliebe“ der beiden Basler Vettern ist eine gelungen Vertiefung und Erweiterung transnationaler Geschichtsschreibung. Zu diesem Gelingen tragen auch die zahlreichen Verschränkungen von Empirie und theoretischen Fragen bei, die Schär nicht nur auf die Einleitung und die Schlussfolgerungen beschränkt, sondern auch in den Einzelkapiteln immer wieder auf sehr anregende Weise durchführt. Aus diesem Grund ist diese Studie für Leser/innen unterschiedlicher Richtungen der Kolonial-, Global- und Wissensgeschichte relevant.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa Cemil Aydin, The Politics of Anti-Westernism in Asia: Visions of World Order in Pan-Islamic and Pan-Asian Thought, New York 2007; David Motadel (Hrsg.), Islam and the European Empires, Oxford / New York 2014; Pankaj Mishra, From the Ruins of Empire: The Revolt Against the West and the Remaking of Asia, London / New York 2012.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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