L. Marhoefer: Sex and the Weimar Republic

Cover
Titel
Sex and the Weimar Republic. German Homosexual Emancipation and the Rise of the Nazis


Autor(en)
Marhoefer, Laurie
Reihe
German and European Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
340 S.
Preis
$ 32.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norman Domeier, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Unter vielen Menschen, selbst Historikern, geistert immer noch die Vorstellung herum, dass die Weimarer Republik an ihrer moralischen Dekadenz, zu Grunde gegangen sei. Wie Laurie Marhoefer zeigt, nutzten Historiker wie Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter unmittelbar nach 1945 diese Phantasie als Argument, um den Zivilisationsbruch der NS-Diktatur und sogar den Massen- und Völkermord zu erklären, als ob mit der NS-Bewegung eine moralisch saubere, und nicht eine zutiefst amoralische politische Bewegung an die Macht gelangte.

Laurie Marhoefer belegt in ihrer sehr gelungenen Studie, wie haltlos dieser stets mehr herbeigeraunte denn begründete Nexus ist (bei ihr als „backlash“-These bezeichnet, S. 176–177).1 In sechs thematisch präzise abgesteckten Kapiteln untersucht sie, welchen Einfluss Sexualpolitik auf das öffentliche Leben besessen hat. Darunter versteht sie alle politischen Versuche, die rechtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen für das Ausleben von Sexualität zu ändern oder zu erneuern, etwa die Modifizierung des Paragraphen 175 des Reichsstrafgesetzbuches.

Im ersten Kapitel wird die Zensur untersucht, auch im Vergleich mit dem Kaiserreich, wobei die innerdeutschen Unterschiede etwa zwischen Berlin und München im Umgang mit homosexuellen Organisationen betont werden. Die Subkulturen von Lesben und Transvestiten werden im folgenden Kapitel in Beziehung zur männlich dominierten homosexuellen Massenbewegung gesetzt. Kapitel vier und fünf nehmen die weibliche und männliche Prostitution in den Blick, und die folgenden Abschnitte rollen die Röhm-Affäre in der Weimarer Republik sowie das generelle Verhältnis der aufstrebenden NS-Bewegung zu „unmoralischer“ Sexualität auf. „Immoral sexuality“ wird in der Studie als nicht-reproduktive Sexualität verstanden, wobei Themen wie der bereits gut untersuchte Rasse- und Sexualitätsdiskurs der Weimarer Jahre ausgespart bleiben.

Über einige Themen wie die Prostitution ist bereits viel geforscht worden. Dennoch gibt es einen Erkenntnisgewinn, da Marhoefer konsequent ihrer zentralen These vom „Weimar settlement“ als rotem Faden folgt und die einzelnen Sexualbereiche darauf befragt. Unter diesem „Weimarer Kompromiss“ versteht sie den Mechanismus, wonach „restrictions on some people could and ought to bring liberation for others“ (S. 144). Die zunehmende Freizügigkeit, vor allem des homosexuellen Mainstreams, der klare Vorstellungen von bürgerlicher Respektabilität mit Hilfe einer strikten Trennung von öffentlicher und privater Sphäre vertrat, sei demnach mit Gängelung und Einschränkung kleiner, von der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft und der homonormativen Massenbewegung abweichenden Gruppen erkauft worden.

Am eindrücklichsten wird dieser Mechanismus in der (Weimarer) Röhm-Affäre deutlich. Im März 1932 machte der sozialdemokratische Journalist Helmuth Klotz Briefe des SA-Chefs Ernst Röhm an den Münchener Mediziner Karl-Günther Heimsoth öffentlich, in denen sich Röhm selbstbewusst zu seiner Homosexualität bekannte. Nach einem tätlichen Angriff auf Klotz im Reichstag durch Abgeordnete der NSDAP gerieten die Anschuldigungen in die allgemeine Presseöffentlichkeit. Nun zeigte sich zwar eine starke Politisierung und Skandalisierung der Vorwürfe gegen Röhm, insbesondere bei der Presse von SPD und KPD, viele Medien und prominente Journalisten distanzierten sich jedoch von der Ausnutzung privater Sexualität zu politischen Zwecken. Solange kein Missbrauch eines öffentlichen Amtes zu sexuellen Zwecken vorliege, argumentierte etwa Kurt Tucholsky, sei all dies Privatsache. Auch NS-feindliche Journalisten erkannten an, dass Röhm stets die öffentliche „Respektabilität“ gewahrt habe, die seit dem späten Kaiserreich ein zentrales Kriterium bei der Skandalisierung von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens war. Marhoefer unterstreicht deutlich die böse Ironie der Geschichte: Der „Weimarer Kompromiss“ nützte den Nazis sehr. Hitlers Passivität 1932 wurde in der Homosexuellen-Bewegung sogar als Akzeptanz missverstanden. Doch bereits zwei Jahre später gebrauchte der obsiegende Teil der NS-Elite den Vorwurf der Homosexualität für den „inneren Reinigungsprozess“ des sogenannten „Röhm-Putsches“, woran sich die Verfolgung Zehntausender und die Ermordung Tausender Homosexueller in KZs anschlossen. Marhoefer sieht 1932 die im internationalen Vergleich spezifische Weimarer Libertinage zu Gunsten der NS-Bewegung am Werk, da es damals nur in Deutschland möglich gewesen sei, dass ein führender Politiker nach solchen belegten Anschuldigungen nicht seine Ämter abgeben musste.

Laurie Marhoefer hat den Mut, ihr eigenes Thema, den Einfluss der Sexualpolitik auf das politische Feld der Weimarer Republik, nicht zu überschätzen. Der Fall der Republik und der Aufstieg der NS-Bewegung sind für sie nicht mit der Sexualpolitik verknüpft (S. 201). Die durchaus lebhaften Debatten zu Fragen sexueller Identität und (Un-)Sittlichkeit haben die Weimarer Republik nie in einen politisch dysfunktionalen Zustand gebracht, mit Ausnahme der Debatten um die Liberalisierung der Abtreibung.

Als einziger Kritikpunkt an diesem klaren, schön geschriebenen und anders als viele amerikanische Studien zur deutschen Geschichte vorzüglich lektorierten Buch (deutsche Phrasen, Begriffe und Eigennamen sind fehlerfrei) bleibt nur die Frage offen, zu Lasten welcher Minderheiten die homonormative Liberalisierung genau ging? Dieser durchaus plausible Mechanismus, der in den Arbeiten von Dagmar Herzog als Gegenläufigkeit und Paradoxie hervorgehoben wird, bleibt bei Laurie Marhoefer unterbelichtet, vielleicht, weil die zahlreichen stark liberalisierten Heterosexualitäten der Weimarer Republik in der Arbeit fast keine Rolle spielen. Aber nur in Abgrenzung zu ihnen wird der homonormative Mainstream (etwa des „Wissenschaftlich-humanitären Komitees“ um Magnus Hirschfeld) erklärlich und daraus wiederum die Exklusionsbestrebungen gegenüber devianten Gruppen, die sich nicht an das Gesetz der Respektabilität und der Trennung von Privat und Öffentlich halten wollten.

Laurie Marhoefer zeigt in ihrem Buch die Sexualpolitik der Weimarer Republik und den Aufstieg des Nationalsozialismus in einem realistischen, abgeklärten Licht. Es ist ein wichtiger Beitrag gegen die nach wie vor irrlichternde These von der durch Sexualität herbeigeführten politischen Dekadenz der ersten deutschen Republik.

Anmerkung:
1 Eine Debatte zu der These findet sich unter: Julia Roos, Guest Post: Julia Roos’ Response to Laurie Marhoefer, in: Weimar Studies Network 24.11.2015, <https://weimarstudies.wordpress.com/2015/11/24/guest-post-julia-roos-response-to-laurie-marhoefer/> (21.04.2016).

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Land
Sprache der Rezension