A. Ottermann (Hg.): Das spätkarolingische Fragment

Titel
Das spätkarolingische Fragment eines illustrierten Apokalypse-Kommentars in der Mainzer Stadtbibliothek. Bilanz einer interdisziplinären Annäherung


Herausgeber
Ottermann, Annelen
Reihe
Veröffentlichungen der Bibliotheken der Stadt Mainz 60
Erschienen
Anzahl Seiten
Preis
ISBN
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johanna Scheel, Kunstgeschichtliches Institut, Philipps-Universität Marburg

Das Mainzer Blatt Hs frag 18 ist ein Handschriftenfragment von 27x19cm Größe von ca. 900, das auf der einen Seite eine gerahmte Miniatur mit der „Vision auf Patmos“ als Illustration der Offenbarung des Johannes (Offb 1,7-10) zeigt, die im unteren Drittel beschnitten ist. Auf der anderen Seite finden sich 17 Zeilen einspaltigen Textes aus Stellen der Vulgata zur Apokalypse mit dem Kommentar des Beda Venerabilis.1 Der Sammelband versucht, Provenienz, Produktionsort, Text-Bild-Relation, Funktion und Fein-Datierung festzustellen und das Mainzer Fragment innerhalb der frühmittelalterlichen Apokalypse-Handschriften genauer zu verorten.

Der 1998 erfolgte Fund des Apokalypse-Fragments als Einbandmakulatur einer Mainzer Handschrift der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, wahrscheinlich aus dem Besitz eines Heidelberger Mediziners (S. 21-29), war in Fachkreisen eine kleine Sensation. Die Herausgeberin Annelen Ottermann dokumentiert dies als Auftakt der 11 Beiträge des Bandes in einem Bericht zur Entdeckung des Fragments, zur ersten Einordnung und Aufnahme durch die Forschung sowie zum Fortgang seiner Erforschung, v.a. durch ein Kolloquium von 2011, dessen Diskussion hier fortgeführt wird.2

Das Fragment selbst wird von fast allen Fachexperten in diesem Band mit einer Mischung aus Enthusiasmus und Bedauern betrachtet – ersteres, weil es über die Miniatur und die Schreiberhand in unmittelbare Nähe zu den karolingischen Apokalypse-Handschriften in Trier (Trier, Stadtbibliothek, Cod. 313) und Cambrai (Médiathèque d’Agglomération de Cambrai, Ms. 3864) zu stellen ist und zugleich eine einzigartige Kombination von Beda-Kommentar und Bebilderung bietet. Bedauerlich ist jedoch der Grad der Fragmentierung des Blattes, durch den die Beantwortung bereits der grundlegendsten Fragen problematisch ist. So stellt es sich schon als schwierig dar, die fast banal erscheinende Bestimmung vorzunehmen, bei welcher Seite des Blattes es sich um recto oder verso handelt. Für die Bildseite als recto argumentieren Peter K. Klein (S. 51-77, hier S. 64ff.) und William Schipper (S. 148-171, hier S. 167f.) und zwar interessanterweise entgegen dem Befund der Trierer Apokalypse, welche die Miniatur (wie alle Miniaturen im ersten Manuskriptteil bis folio 20v) auf Folio 3 verso aufweist.

Hieran lässt sich gleichzeitig die Hauptproblematik festmachen, mit der sich die AutorInnen bei der Untersuchung des Mainzer Fragments auseinandersetzen müssen: der Vergleich mit der Trierer Handschrift und der direkt von ihr abhängigen in Cambrai. Dieser ist einerseits der einzig verfügbare, wenn es um Fragen von Komposition, Ikonografie und Text-Bild-Relation geht, andererseits wird die Gegenüberstellung dadurch erschwert, dass (1.) in Cambrai das entsprechende Blatt mit der Darstellung verloren ist; dass (2.) zwar die Text-Verteilung von Cambrai und Trier miteinander übereinstimmt5, jedoch im Mainzer Fragment eine Mischung aus Vulgata- und Kommentartext die Miniatur begleitet, was die Vergleichbarkeit relativiert; dass (3.) trotz dieser Textunterschiede kein ikonografischer Unterschied zwischen Mainz und Trier besteht; dass (4.) innerhalb der Handschriften aus Trier und Cambrai die Miniaturen im jeweils ersten Teil auf den verso- und später auf den recto-Seiten zu finden sind und so auch das anfängliche Prinzip von vorhergehendem Text zu nachfolgendem Bild nicht konsequent eingehalten wird. Die innere Logik dieser Manuskripte selbst erschwert es somit, aus ihnen heraus regelhaft übertragbare Ordnungsprinzipien zu destillieren und so ein tragfähiges Modell für Mainz zu schaffen.

Diese Erkenntnis weitet die Diskussion aus – so bringen die AutorInnen des Sammelbandes beispielsweise verschiedene Möglichkeiten des Handschriftenformats ins Spiel, dass also unter dem beschnittenen unteren Rand der Miniatur noch Textzeilen vorhanden waren, um den Apokalypse- und Kommentartext unterzubringen, und es sich demnach bei der Miniatur nicht um eine ganzseitige handele. So kalkuliert Klein unter Einbezug der Maße und Textverteilung der Trierer und Cambraier Apokalypse mit einem ursprünglichen Format von ca. 30x40 cm. Argument ist dabei auch, dass eine Gegenüberstellung von Text und dazugehörigem Bild auf einer Doppelseite – wie beispielsweise in der Apokalypse von Valenciennes (Bibl. Mun. Ms. 99) oder in Trier ab fol. 21v – ein sinnvolleres Ordnungsprinzip ergäbe. Vorsichtig abwägend, aber eher für ein Kleinformat spricht sich Michele C. Ferrari (S. 87-101) aus, ebenso wie Robert Fuchs mit Doris Oltrogge (S. 172-181) wiederum ausgehend von Trier und Cambrai eher für kleinere und formal stärker vergleichbare Formate mit ganzseitigen Miniaturen plädieren.

Vergleiche mit karolingischen, illustrierten Kommentarwerken des Beda werden vorgenommen, um den Einbezug exegetischer Textinhalte in die Darstellungen zu bestimmen. Da diese Werke jedoch nur Titelbilder aufweisen, ist das Ergebnis Kleins, dass diese wie das Mainzer Fragment nur den Bibel- und nicht den Kommentartext abbilden (S. 67-71), nicht einschlägig. Den fehlenden Einfluss vom Kommentar auf die Darstellung stellt Franck Cinato (S. 102-114) jedoch ebenfalls fest, im Vergleich mit anderen illustrierten Apokalypse-Kommentaren, wie dem des Beatus von Lièbana. Cinato leitet daraus zudem eine Abstimmung der Bildmaße und das Verhältnis von Offenbarungstext zu den Lemmata her, sodass er für Mainz davon ausgeht, dass die Bilder vor der Textkopie erstellt wurden – eine ungewöhnliche Annahme, die jedoch plausibel begründet und von William Schipper in seinem Beitrag gestützt wird.

Konrad Huber (S. 115-135) zeigt über die Textsegmentierung in Bezug auf die frühesten Offenbarungshandschriften (4./5. Jh.) und Bildsequenzierung ein christologisches Deutungspotenzial der Darstellung in Trier und anhängigen Werken auf und spricht sich damit dagegen aus, hier reine Textillustrationen ohne interpretierenden Charakter zu sehen. Die Inkongruenz zwischen Text und Bild im Mainzer Fragment und vor allem das bildlich und ohne Textgrundlage interpretierende Motiv des Posaunenengels als Stimme Gottes sind jedoch auch für Huber nicht auf Bedas Kommentar zurückzuführen. Michael Embachs Formulierung des Desiderats einer Textedition der Trierer Apokalypse sowie eine Beleuchtung eventueller Einflüsse patristischer und frühmittelalterlicher Kommentare auf deren Bildinhalte (S. 49f.), lässt sich in Hinsicht auf diese Beobachtung nur unterstreichen.

Bei alledem ergibt sich noch nicht einmal aus den 17 Zeilen des Fragments ein kohärenter Text: Wie Michele C. Ferrari (S. 87-101) feststellt, der eine zeilengetreue Edition des Fragments und einen Abgleich mit dem von Gryson edierten Beda-Text vornimmt6, gibt es sowohl wahrscheinlich bewusste Auslassungen wie auch Textfehler im Kommentar. Hinzu kommt, dass nach den Kommentarteilen mit üblichen Bibel-Anfangsversen von Offb 1,9-1,11 drei Zeilen freigelassen werden, wonach drei Zeilen reiner Bibeltext (Offb 1,12-1,14) unkommentiert folgen. Die AutorInnen des Bandes kommentieren diesen unschlüssigen Befund und damit das ganze Fragment zu Recht etwas ratlos als „bizarr geformte[s] Einzelexemplar“ (S. 95) und experimentierfreudig (S. 51, 135) oder als einzigartiges Produkt einer lokalen Initiative (S. 113). Schipper indes beleuchtet, dass Bedas Kommentare bei den Karolingern insgesamt sehr beliebt war und ihn unter anderem Alcuin, Haymo von Auxerre und Hrabanus Maurus als Grundlage inkorporierten (S. 148-170). Seine Verarbeitung in einer illustrierten Apokalypse-Handschrift überrascht in dieser Hinsicht also wenig.

Die am häufigsten diskutierte Frage ist die der Datierung und Verortung des Fragments: Grundlage dazu ist zunächst die ausführliche Aufarbeitung der Forschungslage zur Trierer Apokalypse durch Michael Embach (S. 30-50), deren Schrift nach Tours weist. Für das Mainzer Fragment halten alle AutorInnen eine paläografischen Einordnung um ca. 900 und auch einen Touronischen Einfluss für sinnvoll, jedoch wird als Ort ein nordfranzösisches Skriptorium vorgeschlagen (Klein, Crivello, Ferrari). Klein verortet hierher auch die Illustration. Cinato argumentiert überzeugend für den Raum Arras oder Cambrai und bringt die Abteien St. Vaast und Saint-Amand und eine Datierung nach dem Wiederaufbau nach den Normanneneinfällen kurz nach 900 ins Gespräch. Arras und Cambrai weisen nach Cinato in späteren Bibliotheksinventaren sogar Beda-Kommentare aus – ein mögliches Szenario, wie die Mainzer Handschrift zu ihrem Beda-Text kam.

Die Stilanalyse vor allem Kleins, Cinatos und Crivellos (S. 78-86) bestätigt die paläografische Einordnung und setzt das Mainzer Fragment zeitlich zwischen die Bezugspunkte Trier und Cambrai und in dieselbe Region wie letztere. Zu beobachten seien nach Klein – jedoch als stilistische Kategorisierungen wie immer mit Vorsicht zu genießen – unter anderem Tendenzen zur Ornamentalisierung, gedrängterem Bildaufbau und Veränderung der Körper in gröbere, teils überlängte Formen in Mainz gegenüber Trier (S. 54-57). Crivello findet weiterhin stilistische Ähnlichkeiten in anderen illustrierten Handschriften aus Cambrai und St.-Vaast und stützt damit die paläografische Verortung durch Cinato sowie eine Einordnung der Mainzer Handschrift in die Zeit um 900. Eine genaue Identifikation der hinzugezogenen Hände mit dem Miniaturisten des Mainzer Fragments ist jedoch nicht möglich. Der ausführliche maltechnische Befund von Fuchs und Oltrogge widerspricht diesen Befunden nicht. Da im Fragment jedoch nur geläufige Farbmittel festzustellen sind und deren Zuordnung zu bestimmten Skriptorien nicht existiert, entzieht sich das Blatt einmal mehr einer genaueren Einordnung.

Eher beiläufig wird die Funktion der Mainzer Handschrift diskutiert, wenn Klein nach einer kompakten Zusammenfassung aktueller Forschungstrends dazu schon beinahe topisch feststellt, dass Endzeiterwartung für die Entstehung keine Rolle spielten und eher eine liturgische Funktion anzunehmen sei (S. 75-77). Schipper schlägt einen Gebrauch in der privaten Meditation vor, die er aus dem vermuteten Zusammenspiel von Text, Kommentar und Bildkomposition schließt (S. 166f.). In diese Richtung denkt auch Christoph Winterer (S. 136-147), der den Gebrauch stärker in der Privat-Lektüre der Mönche und in der lectio divina sieht. In seinem auch unabhängig vom Thema des Sammelbandes sehr informativen Text untersucht er Apokalypse-Handschriften in Bibliothekssystematiken und -inventaren, um von der Kombination mit anderen Büchern und der Verortung innerhalb der Bibliothek auf ihren Gebrauch, ihren Stellenwert und mit ihr assoziierte Bedeutungsfelder zu schließen. Darüber sind diese Apokalypsen inhaltlich zwischen liturgischer Handschrift und Grundtext des Bibelstudiums zu verorten.

Auch wenn die Herausgeberin Annelen Ottermann selbst das Buch als „Zwischenbilanz“ und „vorläufige[n] Stand“ (S. 20) bezeichnet, lässt sich hier eher von einer Sammlung teils sehr ausführlicher Tiefenbohrungen sprechen, die zu bestimmten Aspekten von Ikonografie, Stil, Technik, Paläografie, Text und Kontext des Fragments sowie verwandter Handschriften durchgeführt werden. Dass dabei vielleicht für einen wissenschaftlichen Sammelband überdurchschnittlich oft am Ende der Beiträge offene Fragen stehen bleiben, ist allerdings weder als Mangel noch als besondere Tugend dieses Buches zu sehen, sondern schlicht dem fragmentarischen Status und der Vergleichssituation des Forschungsgegenstandes geschuldet.

Für die Apokalypse-Forschung gehört der Band zur obligatorischen Lektüre – nicht nur bezüglich des Mainzer Fragments, sondern auch hinsichtlich der Trierer Apokalypse, des Beda-Kommentars sowie der zentralen Fragestellungen dieses Forschungsfeldes wie Relationen zwischen Text, Kommentar und Bild. Da die Beiträge meist auf eine separate Einleitung und Vorstellung des Mainzer Fragments nicht verzichten, sind die Beiträge der AutorInnen auch je einzeln lesbar. Ein Register bzw. die Ausstattung des Handschriftenverzeichnisses mit Seitenverweisen wäre jedoch für den Leser eine komfortable Zugabe gewesen. Die Hochglanz-Farbabbildungen sind qualitativ sehr gut, jedoch oftmals winzig, sodass der Nachvollzug der Argumentation daran zuweilen schwer fällt. Das günstige Softcover ist zudem der intensiven Lektüre nicht gewachsen, zu der der Band inhaltlich einlädt und die er verdient.

Anmerkungen:
1 Als Digitalisat der Stadtbibliothek Mainz: <http://www.dilibri.de/stbmz/content/titleinfo/1164314> (15.12.2015).
2 Vgl. Tagungsbericht: Das karolingische Fragment eines illustrierten Apokalypse-Kommentars in der Mainzer Wissenschaftlichen Stadtbibliothek (Hs frag 18), 30.11.2011 Mainz, in: H-Soz-Kult, 04.07.2012, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4292> (15.12.2015).
3 Als Digitalisat im DFG-Viewer: <http://dfg-viewer.de/show/?tx_dlf[page]=6&tx_dlf[id]=http%3A%2F%2Fzimks68.uni-trier.de%2Fstmatthias%2FT0031%2FT0031-digitalisat.xml&tx_dlf[double]=0&cHash=8bb7b096e17ebd1944641045f50d077e1045f50d077e> (15.12.2015).
4 Als Digitalisat in der Bibliothèque virtuelle des manuscrits médiévaux: <http://bvmm.irht.cnrs.fr/consult/consult.php?mode=vignettes&reproductionId=10204&VUE_ID=-1&panier=false&carouselThere=false&nbVignettes=tout&page=1&angle=0&zoom=&tailleReellep;angle=0&zoom=&tailleReelle> (15.12.2015).
5 Siehe dazu die ausgezeichnete tabellarische Übersicht bei Hamanishi, in der die heute sichtbaren und palimpsestierten Textstellen von Trier mit Cambrai nebeneinandergestellt werden: Masako Hamanishi, Studien zur Trierer Apokalypse. Zur Frage der Entstehung und Entwicklung der frühmittelalterlichen Apokalypse-Zyklen in Bild und Text, 2 Bde, Berlin 2012, hier Bd. 2, S. 211-213.
6 Vgl. Roger Gryson (Hrsg.), Tyconii Afri Expositio Apocalypseos (Corpus Christianorum, Series Latina, 107A), Turnhout 2011. Gryson ediert nach dem Touroner Überlieferungsstrang des Beda-Kommentars, der Text des Mainzer-Fragments kann der Beta-Familie zugerechnet werden.

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