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Titel
Alltagsadel. Der ehemalige ostelbische Adel in der Bundesrepublik Deutschland 1945/49–1975


Autor(en)
Seelig, Michael
Reihe
Adelswelten 3
Erschienen
Köln 2015: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
591 S.
Preis
€ 79,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Barbara Jahn, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt

Michael Seeligs in Marburg entstandene Dissertation leistet auf dem Gebiet der Adelsforschung Pionierarbeit für die Zeitgeschichte. So viel in den letzten Jahren zum Adel des 19. und 20. Jahrhunderts geschrieben wurde, so selten überschritten diese Arbeiten die Schwelle von 1945. Hier setzt die vorliegende Dissertation an und nimmt den ostelbischen Adel von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis ca. 1975 in den Fokus. Im Zentrum der Studie steht damit jene Adelsgruppe aus den ehemals mecklenburgischen und preußischen Gebieten östlich der Elbe, die zwar – wie der gesamte deutsche Adel – bereits durch die Revolution von 1918/19 ihre rechtlichen und politischen Privilegien endgültig verloren hatte, für die jedoch die direkten und indirekten Folgen des „Zusammenbruch[s] von 1945“ (S. 45; dort auch in Anführungszeichen) mit Flucht, Vertreibung und Enteignung überdies den Verlust ihrer sozioökonomischen und soziokulturellen Existenzgrundlage bedeuteten.

Vor diesem Hintergrund widmet sich Seelig für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg dem Kernproblem der Adelsforschung zur Moderne: Was machte den – in diesem Fall ostelbischen – Adel angesichts des Verlusts seiner angestammten Existenz noch zum Adel? Wie konstituierten sich über das Jahr 1945 hinaus adlige Identität und Lebensform? Und inwiefern konnten Adlige bzw. Träger ehemals adliger Namen selbst in der Bundesrepublik als distinkte Gesellschaftsgruppe identifiziert werden? Zur Beantwortung dieser Fragen wählt die Dissertation einen doppelten Zugriff: Zum einen wirft sie einen Blick auf das Selbstverständnis des vormaligen ostelbischen Adels und untersucht Wahrnehmungs- und Denkmuster im inneradligen Diskurs. Zum anderen beleuchtet sie die soziokulturelle Praxis und fragt danach, inwieweit adlige Selbststilisierung und tatsächliche Lebenswirklichkeit miteinander korrelierten. Als Quellengrundlage dienen neben der Zeitschrift „Deutsches Adelsarchiv“ (ab 1962 „Deutsches Adelsblatt“) insbesondere Familiengeschichten und -nachrichten, genealogische Abhandlungen, autobiographische Darstellungen und Memoiren sowie die einschlägige archivalische Überlieferung einzelner Adelsfamilien und der Vereinigung des Adels in Hessen.

Seeligs Befunde nehmen sich eindrucksvoll aus: Nach 1945 wurde unter ostelbischen Adligen die „Entkonkretisierung“1 der Sozialformation Adel zumindest in sozioökonomischer Hinsicht auf die Spitze getrieben. Nach der „Prüfungszeit“ (S. 70) der unmittelbaren Nachkriegsjahre traten Adlige insbesondere durch die Ausübung neuer Berufe endgültig in die Mittelschichten ein; ihre Lebenswege schienen sich im Allgemeinen nun nicht mehr von denjenigen Nichtadliger zu unterscheiden. Seelig geht sogar so weit, zumindest unter sozioökonomischen Aspekten sowie angesichts noch ausstehender Forschung theoretisch und empirisch unter Vorbehalt, von einer ‚Verbürgerlichung‘ des ostelbischen Adels in der westdeutschen Gesellschaft zu sprechen (S. 142). Eine gesellschaftliche Abgrenzung und Selbstdefinition war somit nur noch durch soziokulturelle Kriterien möglich. Seine neue Lebenswelt – ob in der Selbstwahrnehmung oder in der Praxis – konstituierte der ostelbische Adel im Untersuchungszeitraum daher im privaten Bereich. „Veralltäglichung“ (S. 151) ist der Begriff, den Seelig für diesen Prozess der Anpassung und für das Phänomen prägt, dass Adeligsein nach 1945 „allein in alltäglichen Dingen“ (S. 273) und „jenseits von Öffentlichkeit und Beruf“ (S. 529) bewiesen werden konnte. Damit einher ging eine „Innenleitung“ (S. 151) des Adelsverständnisses, das in der Bundesrepublik nun ausschließlich auf immateriellen Werten und Idealen sowie moralischer Integrität gründete. Die Denk- und Wahrnehmungsmuster dieses „Alltagsadels“ lassen sich auch für die Zeit nach 1945 unter dem in der Adelsforschung analog zur „Bürgerlichkeit“ entworfenen Kulturmodell der „Adeligkeit“2 und dessen Wertehimmel subsumieren: etwa Familie, Name, Herkommen, Tradition, Geschichte, Genealogie oder eine profunde Religiosität.

Auf der Ebene der Lebenspraxis macht die Arbeit jedoch die Kontextgebundenheit adliger Handlungsweisen und Lebensstile deutlich. Zwar bestand zwischen dem Selbstverständnis des ostelbischen Adels und seinen soziokulturellen Praktiken eine gewisse Korrelation. Insbesondere die adlige „Gesamtfamilie“ (S. 353) spielte hier eine bedeutende Rolle: Der (erneute) Zusammenschluss in Familienverbänden, die Stärkung der „Wir-Identität“ durch den Besuch von Familientagen oder das Schreiben und Lesen von Familiennachrichten ermöglichten es dem ostelbischen Adel, seine Adeligkeit zu behaupten. Zugleich zeigt sich jedoch die Kluft zwischen Ideal und Praxis: Nicht alle Verwandten besaßen ein Interesse, sich am Leben der Familienverbände zu beteiligen; die Ansichten von Adel und Adeligsein oder der Lebenswandel einzelner Familienmitglieder waren bisweilen durchaus umstritten. Nichtsdestotrotz gelang es dem ehemaligen ostelbischen Adel in der Bundesrepublik, eine neue adlige Lebenswelt zu errichten, sich gleichsam als „soziales Milieu“ (Max Weber) zu konstituieren und auf diese Weise integraler Bestandteil der westdeutschen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu werden.

Die große Stärke des Buches liegt darin, dass es einige Annahmen und Erkenntnisse erstmals wissenschaftlich fundiert: Überzeugend gelingt es Seelig, die noch bis in die jüngste Zeit wiederholte Forschungsthese3, die Geschichte des deutschen Adels sei 1945 an ihr Ende gelangt, zumindest für dessen ostelbische Angehörige empirisch zu relativieren. Die Arbeit gewinnt durch eine akribische Quellenarbeit, die konsequente Darstellung von Begriffs- und Forschungskontexten sowie eine gute Lesbarkeit. Nicht immer stehen jedoch die Länge der Exkurse und deren Ertrag in einem günstigen Verhältnis, und an manchen Stellen irritieren wortwörtliche Wiederholungen (markant z.B. S. 159–163).

Seelig hat seine Studie geschickt gegliedert und beschäftigt sich vor den Ausführungen zum adligen Selbstverständnis (Kapitel 2) und zur alltäglich-privaten Lebenspraxis (Kapitel 3) zunächst mit der Ausgangslage für den ostelbischen Adel nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: dem Untergang seiner bisherigen Welt und dem völligen Neubeginn in der Bundesrepublik (Kapitel 1). Dass er sich hierbei aber auch ausführlich der Gründung von Familienverbänden sowie den Berufswegen des früheren ostelbischen Adels widmet, wirkt befremdlich. Beide Aspekte wären eher im dritten Kapitel passend gewesen, zumal sich dieses zumindest mit den Familienverbänden noch einmal eingehend auseinandersetzt (S. 352–430).

Darüber hinaus hätte Seelig in mehrfacher Hinsicht stärker differenzieren müssen. Nur partiell setzt er die Äußerungen des ostelbischen Adels in Bezug zu traditionellen adligen Denk- und Verhaltensmustern und arbeitet somit Konstanten und Wandlungsprozesse deutlich heraus. Allzu schnell werden Kontinuitätslinien auch durch die meist nicht chronologische Aneinanderreihung der Aussagen innerhalb des 30 Jahre umspannenden Untersuchungszeitraums gezogen. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Seelig (zu) selten diskursanalytisch argumentiert: Zwar stellt er Ideen vor, aber über die Formen der Vermittlung, die Rezeption und insbesondere die Sprechsituationen erfährt der Leser nur wenig. Gerade die gesellschaftlichen Hintergründe, vor denen die ostelbischen Adligen in der Bundesrepublik ihre neue Lebenswelt errichteten und die sich zwischen 1945 und 1975 tiefgreifend wandelten, bleiben im Dunkeln – von wenigen Ausnahmen abgesehen (z.B. S. 172, S. 497ff.). Auch die Fremdwahrnehmung des Adels durch die bundesrepublikanische Gesellschaft wird nur in einem knappen Ausblick gestreift (S. 267–270).

Häufig pauschalisiert Seelig zu stark, etwa bei seinen Ausführungen zu Ausbildung, Berufswahl und Heiratsverhalten (S. 98f., S. 103ff., S. 123ff.). Vor allem in Bezug auf konfessionelle Aspekte finden Binnendifferenzierungen innerhalb des ostelbischen Adels keine Beachtung (S. 203–207). Zudem sind die zur Veranschaulichung der Argumentation herangezogenen Beispiele nicht immer glücklich gewählt: Luzide kann Seelig Grenzen und Erweiterungen von standesspezifischen weiblichen Handlungsspielräumen für die Zeit nach 1945 verdeutlichen, führt dann jedoch Thora Gräfin von Bernstorff, eine explizit nicht ostelbische Adlige, als Beispiel für die Individualisierung adliger Ausbildungs- und Berufswege an (S. 113f.). Nicht zuletzt wären angesichts der noch rudimentären Forschungslage – insbesondere auch in Bezug auf den westdeutschen Adel – an manchen Stellen vorsichtigere, weniger spekulative Formulierungen ratsam gewesen (z.B. S. 98f., S. 106, S. 124f., S. 511).

Im Ganzen liefert Michael Seelig eine wichtige Monographie, deren theoretisches Konzept überzeugt. In der methodischen Ausführung und den Thesen hätte sie freilich nuancierter sein können. Weitere Studien zum Adel nach 1945 erscheinen dringend notwendig. Die vorliegende Arbeit wird dafür eine Orientierungsmarke sein.

Anmerkungen:
1 Josef Matzerath, Adelsprobe an der Moderne. Sächsischer Adel 1763–1866. Entkonkretisierung einer traditionellen Sozialformation, Stuttgart 2006.
2 Vgl. v.a. Heinz Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, 2., um einen Nachtrag erweiterte Aufl. 2012; Marcus Funck / Stephan Malinowski, Geschichte von oben. Autobiographien als Quelle einer Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Adels in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Historische Anthropologie 7 (1999), S. 236–270, hier S. 240–247.
3 Z.B. Daniel Menning, Standesgemäße Ordnung in der Moderne. Adlige Familienstrategien und Gesellschaftsentwürfe in Deutschland 1840–1945, München 2014.

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