Titel
Zum Schweigen. Macht/Ohnmacht in Erziehung und Bildung


Herausgeber
Geiss, Michael; Magyar-Haas, Veronika
Erschienen
Weilerswist 2015: Velbrück Wissenschaft
Anzahl Seiten
377 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Alexander Maier, Katholische Religionspädagogik, Universität des Saarlandes, Saarbrücken Email: amaier@mx.uni-saarland.de Homepage: http://www.uni-saarland.de/index.php?id=24191

Dass Stille und Schweigen spätestens seit den 1970er-Jahren nicht mehr selbstverständlicher Teil pädagogischer Terminologie oder Reflexion sind, verdeutlicht ein Blick in einschlägige Lexika und Handbücher. Auf prominente Weise ist das Begriffsfeld der Stille zuletzt noch im Lexikon der Pädagogik von 1970 vertreten.1 Doch obwohl Stille und Schweigen in verschiedenen pädagogischen Kontexten nach wie vor Bedeutung haben, finden sie allenfalls noch in der religionspädagogischen Fachliteratur Berücksichtigung.2 Womöglich haben die lange verschwiegenen Praktiken des systematischen Missbrauchs in einigen Internaten zu einem neuen Interesse am Schweigen geführt. Dies erklärt wohl auch die Verknüpfung mit den Phänomenen Macht und Ohnmacht. Zudem ergibt sich dieser Zusammenhang auch aus didaktischen Konzepten selbst, wie etwa ein Blick auf die Pädagogik Maria Montessoris zeigen kann.3 In sechs Sektionen gegliedert, ermöglicht der Band einen perspektivenreichen Einblick in das pädagogische Schweigen.

Im ersten Teil („Macht, Ohnmacht und Ermächtigung im Schweigen“) kommt zunächst die politische Dimension des Schweigens in den Blick. Sönke Ahrens analysiert in seinem grundlegenden Beitrag unterschiedliche Weisen der Verbindung zwischen Schweigen und Macht. Während diejenigen, die in einer Machtposition sind, schweigen können, weil es nichts zu erklären oder zu rechtfertigen gibt, ist das Schweigen in der Situation der Ohnmacht dadurch gekennzeichnet, dass Versuche des Sprechens – sofern sie noch möglich sind – von Anderen überhaupt nicht wahrgenommen werden. Politisch-pädagogisches Interesse müsse es sein, jemanden dazu zu bringen, sein Schweigen aus Macht zu brechen und ein bisher nicht hörbares, ‚beschwiegenes‘ Sprechen oder ‚stummes Schweigen‘ (Niklas Luhmann) vernehmbar werden zu lassen. Damit fordert Ahrens gerade die Bildungsforschung dazu auf, sich nicht nur auf Phänomene zu konzentrieren, von denen man weiß, dass sie noch nicht bearbeitet wurden, sondern vor allem Sensibilitäten dafür zu entwickeln, noch nicht wahrgenommene Situationen der Ohnmacht aufzuspüren (S. 31–47). Norbert Grube nimmt in seinem Aufsatz das Schweigen im Zusammenhang mit Umfragen in den Blick, wobei er sich auf die Aktivitäten des Allensbacher Instituts für Demoskopie fokussiert. Kritisch hinterfragt er nicht nur die normativ-anthropologischen Annahmen des Instituts, sondern auch die Aussagekraft aktueller Umfragen (S. 49–74). Auf die Ermöglichung von Selbsterkenntnis und Selbstkontrolle durch Schweigen verweist der Beitrag von Daniel Dietschi (S. 75–102).

In seinem so erhellenden wie beklemmenden Essay über das System des Schweigens an der Odenwaldschule, der den zweiten Teil des Bandes („Über Schweigen sprechen?“) eröffnet, rekonstruiert Jürgen Oelkers eine Reihe von Schüler-Biographien und wird dadurch insofern ‚politisch‘ tätig, als er durch das Erzählen von Opfer-Geschichten das ‚stumme Schweigen‘ bricht und so dem Unrecht nicht das letzte Wort lässt (S. 105–126). Wie Aufarbeitung von Kindesmissbrauch geschehen und welche Rolle dabei das Sprechen der Betroffenen spielen kann, lotet der Text von Sabine Andresen aus (S. 127–145). Dass Bildung als Empowerment auch problematische Effekte umfasst, reflektiert Catrin Heites interessanter und sensibler Beitrag. Denn insbesondere das aktivierende Empowerment zwinge seine Adressatinnen und Adressaten zur Stellungnahme, so dass deren eventuelles Schweigen, das heißt ihre fehlende Eigenaktivität, sie letztlich als deviant markiere. Somit entlarvt Heite den bekannten Slogan ‚fordern und fördern‘ als zumindest ambivalentes Programm einer gouvernementalen (Sozial-)Pädagogik (S. 147–168).

Ein dritter Zugang nimmt das Verhältnis des Schweigens zum Körper in den Blick („Verkörpertes Schweigen“). Pointiert zeigt Veronika Magyar-Haas, wie das ‚schweigende Sprechen‘ des Körpers, wie es sich etwa im Erröten oder Erblassen zeige, nicht nur anderen Menschen, sondern vor allem die Person selbst über ihre ‚Konsterniertheit‘ und darin zugleich über die Fragilität ihrer personalen Souveränität informiere (S. 171–201). Oliver Schnoor und Sascha Neumann hinterfragen die frühpädagogische Idee, die schweigende Beobachtung von Kindern durch Erzieherinnen würde die kindliche Autonomie fördern (S. 203–232).

Die vierte Sektion nimmt das Verhältnis von Schweigen und pädagogisch arrangierten Räumen in den Blick („Verräumlichtes Schweigen“). Karen van den Berg und Markus Rieger-Ladich spüren in ihrem aufschlussreichen Beitrag der Entstehung des schweigenden Betrachtens im Museum nach und reflektieren jüngere Entwicklungen innerhalb der Museumskultur. Dabei zeigen sie auf, dass die Stille im Museum eine Entwicklung des 19. Jahrhunderts war, die auf die Selbstbildung des innerlichkeitsorientierten bürgerlichen Subjekttyps zielte. Neuere Museumsbauten, deren architektonisches Konzept vermehrt auch Räume der Interaktion integrieren, würden hingegen mit einem neuen, ‚fluiden‘ Subjekttyp rechnen, der sich vor allem dafür interessiere, wie er die dargebotenen Artefakte oder Informationen nutzen könne (S. 235–258). Auf den erziehenden Charakter der Architektur verweist Martin Viehauser in seiner informativen Analyse von Camillo Sittes städtebaulichem Konzept, durch das er sich die ‚stillschweigende‘ Vermittlung bestimmter Werte erhoffte (S. 259–281).

Das Verhältnis von Schweigen und Institution beleuchtet der fünfte Teil des Bandes („Institutionalisiertes Schweigen“), in dem zunächst Fabian Kessl und Friederike Lorenz an zwei Beispielen die Schweigepraktik in sozial- bzw. heilpädagogischen Einrichtungen im Kontext von Gewalt in den Blick nehmen. Sie verweisen auf die Gefahr, dass der Bildungsforschung durch die Übernahme journalistischer Semantiken (zum Beispiel ‚Schweigepanzer‘), die faktische Mehrstimmigkeit der Ereignisse entgehen könne (S. 285–306). Auf die Folgen einer Nicht-Thematisierung bestimmter Aspekte für die Gewährung oder Verweigerung von Leistungen in der Jugendhilfe weist Philipp Sandermann in seiner Auswertung empirischer Daten aus deutschen Jugendämtern und Jobcentern hin (S. 307–332).

Im sechsten und letzten Abschnitt des Bandes („Im Reden schweigen“) befasst sich zunächst Patrick Bühler mit einer bedeutsamen Veränderung des pädagogischen Diskurses um 1900. Im Zuge einer Medikalisierung der Schule habe sich der an Wille, Tugend und Charakter orientierte pädagogische Diskurs um einen pathologischen Fokus erweitert, so dass insbesondere psychische Devianz bzw. Normalität zu Leitaspekten aufgestiegen wären. Der Beitrag wirft die Frage auf, ob dieser neue Blickwinkel letztlich zur Humanisierung der Schule beitrug oder sich nur die Repressionspraxis änderte (S. 335–357). Im letzten Beitrag des Bandes fragt Michael Geiss nach Wegen angemessener Rede in der Pädagogik. Angesichts einer ‚Sprachohnmacht‘ der Disziplin, die aus einer problematischen Fokussierung auf das ‚Pädagogische‘ als autonomem Erkenntnis- und Handlungsfeld herrühre, wodurch sie die Vielfalt gesellschaftlicher Kontexte ausgeschlossen habe, fordert Geiss gerade deren Einbeziehung, um dadurch die pädagogische Begriffsarbeit zu weiten (S. 359–377).

Der äußerst gelungene Band stellt einen längst fälligen Beitrag der erziehungswissenschaftlichen Reflexion zum Bedeutungsfeld von Schweigen und Stille im pädagogischen Kontext dar und unterbricht so das wissenschaftliche Sich-Ausschweigen darüber. Dass nicht wenige Aufsätze auch appellierenden Charakter haben, ist bei den behandelten Themen nur folgerichtig. Die Forderung vieler Autorinnen und Autoren nach Sensibilität für Menschen und Phänomene erinnert an das abduktive ‚Musing‘, das heißt, dass sich (pädagogische) Wissenschaft von Situationen, Geschichten und Daten betreffen lassen müsse, um so zu wirklich neuer Erkenntnis jenseits von Deduktion und Induktion zu kommen.4 Dadurch könnte auch bisher Verschwiegenes oder Nicht-Wahrgenommenes entdeckt werden. Dass das Buch durchaus heterogene Beiträge versammelt, zeigt sich letztlich nicht als Nachteil, weil sich auf diese Weise die weitgehende Bedeutung des Schweigens in Bildung und Erziehung erschließt. Dem Band ist eine breite Leser/innenschaft zu wünschen – gerade auch in Schulpädagogik, Sozialer Arbeit und Didaktik. Denn nicht zuletzt in diesen pädagogischen Feldern, die eng mit institutioneller Macht verknüpft sind, besteht die Gefahr, dass Schweigen oder Nicht-Wahrnehmen immer wieder Erfahrungen der Ohnmacht reproduzieren.

Anmerkungen:
1 Alexander Maier, Stille als Weg zur Tugend. Die theologische Pädagogik in der Stille-Lektion Maria Montessoris, in: Vierteljahrsschrift für Wissenschaftliche Pädagogik 90 (2014) 4, S. 612–628, hier S. 625.
2 Ebenda, S. 612f.
3 Ebenda. Sowie: Malte Brinkmann, Übung und Macht in der Pädagogik Montessoris: Pädagogische Analysen zu Polarisation, Normalisation und Hygiene, in: Patrick Bühler u.a. (Hrsg.), Zur Inszenierungsgeschichte pädagogischer Erlöserfiguren, Bern 2013, S. 199–223.
4 Birgit Hoyer, Seelsorge auf dem Land. Räume verletzbarer Theologie, Stuttgart 2011, insbesondere S. 64–74.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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