W. Form u.a. (Hrsg.): NS-Justiz in Hessen

Cover
Titel
NS-Justiz in Hessen. Verfolgung, Kontinuitäten, Erbe


Herausgeber
Form, Wolfgang; Schiller, Theo; Seitz, Lothar
Reihe
Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 65/4
Anzahl Seiten
XXV, 692 S., zahlr. Abb.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maximilian Becker, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin

Der von Wolfgang Form, dem Geschäftsführer des Marburger Forschungs- und Dokumentationszentrums Kriegsverbrecherprozesse, dem Politologen Theo Schiller und Lothar Seitz herausgegebene Sammelband bildet den Abschluss eines größeren Forschungsprojekts zur Justiz in Hessen zwischen 1933 und 1945. Außer dem hier zu besprechenden Buch sind eine wichtige Aufsatzsammlung1, ein Gedenkbuch für die Opfer der Justiz in Hessen sowie eine Quellenedition entstanden.2

Der insgesamt gelungene Band stellt „die Entwicklung von der Justiz der Weimarer Republik über die nationalsozialistische Zeit bis hin zu den Nachwirkungen in der Bundesrepublik“ (S. VII) dar. Schon das ist verdienstvoll, weil so die Kontinuitäten, die die Justiz im Nationalsozialismus mit der Zeit „davor“ und der Zeit „danach“ verbanden, deutlich werden. Er vereint zwei Teile: Der erste Abschnitt enthält 17 in thematischen Kapiteln zusammengefasste Aufsätze, der zweite dokumentiert die Wanderausstellung „Verstrickung der Justiz in das NS-System 1933–1945. Forschungsergebnisse für Hessen“, die von November 2012 bis Dezember 2014 in den acht hessischen Landgerichten und im Oberlandesgericht Frankfurt zu sehen war. Störend, strenggenommen sogar falsch ist die fortgesetzte Verwendung des Begriffs „NS-Justiz“. Die Abkürzung – vor allem im Titel – ist unschön, eine „nationalsozialistische Justiz“ gab es – unter anderem aufgrund der Kontinuitäten – nicht. Richtiger ist es daher, von der „Justiz im Nationalsozialismus“ oder „unter nationalsozialistischer Herrschaft“ zu sprechen.

Der erste Abschnitt „Ideologie und Strukturen“ umfasst neben zwei Studien zum Personal der hessischen Justiz zwischen 1933 und 1945 Überlegungen von Werner Konitzer über „Grundstrukturen nationalsozialistischer Moral“. Konitzers Ausführungen wirken jedoch deplatziert; er geht abgesehen von der Einleitung nicht auf das Thema Recht und Justiz ein. Interessant wäre gewesen, etwas über die Einflüsse der „nationalsozialistischen Moral“ auf die Gesetzgebung des Nationalsozialismus zu erfahren, wie dies dann zumindest ansatzweise im Katalogteil (S. 471–474) geschieht.

Der nächste Abschnitt „Politische NS-Justiz“ enthält neben einem routinierten Überblick von Wolfgang Form über die „Politische NS-Justiz in Hessen“, in dem die wichtigsten Ergebnisse des Forschungsprojektes zusammengefasst werden, Darstellungen von Harald Hirsch über das Sondergericht Darmstadt und von Gerd Hankel über einen Einzelfall der Militärjustiz. Der letzte Text dürfte der schwächste des Bandes sein, er kommt kaum über die Forschungen von Manfred Messerschmidt und anderen zur Wehrmachtjustiz hinaus.

Weitere Themengebiete, die in dem Band behandelt werden, sind der Strafvollzug, den die Studien von Ralf Faber und Adolf Morlang behandeln, und die Konzentrationslager im Bezirk Kassel 1933, die Dietfried Klause-Vilmar in den Blick nimmt. Ein Aspekt, der immer noch viel zu wenig beachtet wird, ist die Zusammenarbeit von Justiz und Polizei. Gunnar Richter untersucht sie am Beispiel des frühen Konzentrationslagers und Arbeitserziehungslagers Breitenau, während Angelika Arenz-Morch über Strafverfahren vor dem Sondergericht in Darmstadt wegen „heimtückischer“ Äußerungen über die Zustände im KZ Osthofen berichtet. In den weiteren Abschnitten präsentieren Axel Ulrich und Stephanie Zibell den hessischen Gewerkschafter Wilhelm Leuschner und sein „antinazistisches Vertrauensleutenetzwerk“ (S. 293), im Anschluss geht es um die „ungesühnten Verbrechen der NS-Justiz“ (S. 337) und um die Entnazifizierung von Richtern.

Zum Abschluss des Aufsatzteils werden hessische NSG-Verfahren, also Strafprozesse wegen NS-Gewaltverbrechen, untersucht. Werner Renz geht in seinem Beitrag zum Frankfurter Auschwitz-Prozess der Frage nach, inwieweit die Intention Generalstaatsanwalt Fritz Bauers geglückt ist, mit Hilfe der Strafjustiz Aufklärung über die NS-Verbrechen zu leisten. Renz kommt zu einem ambivalenten Ergebnis: Einerseits sei „der Volkserzieher Fritz Bauer [...] mit seinem Vorhaben erfolglos geblieben“, andererseits habe der Prozess „eine umfassende Sachaufklärung geleistet“ (S. 442).

Der Katalogteil beginnt mit einer Einführung von Wolfgang Form, der die Entstehungs- und Präsentationsgeschichte der Ausstellung darstellt. Unterteilt in sechs Themenbereiche sowie eine Einführung zur Geschichte des Nationalsozialismus präsentiert die Ausstellung Grundlagen und Aufbau der Justiz in der NS-Zeit, Verfolgtengruppen und Strafvollzug sowie die Nachgeschichte nach 1945. Auch in der Ausstellung durfte der Auschwitz-Prozess nicht fehlen – mit acht Tafeln war ihm der größte Themenbereich gewidmet. Außerdem werden Ermittlungsverfahren gegen Juristen, die Aufhebung von Unrechtsurteilen und die personellen Kontinuitäten in der Justiz des Bundeslandes Hessen angesprochen. Themenbereich vier – das ist besonders hervorzuheben – beschäftigt sich mit dem Erbgesundheitsgesetz und der dazu gehörenden Spezialgerichtsbarkeit, ein Aspekt, der erst in jüngster Zeit stärker beachtet wird.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass den Herausgebern und Ausstellungsmachern ein Werk gelungen ist, das Beachtung über die Geschichtswissenschaft hinaus in der juristischen Ausbildung und Öffentlichkeit verdient. Wie auch das Projekt zur „NS-Justiz in Hessen“ insgesamt zeigt der Band, dass nach wie vor Forschungsbedarf zur Justiz im Nationalsozialismus besteht. Insbesondere Regionalstudien sind notwendig. Diese sollten, so wie das hier teilweise geschehen ist, nicht nur die Sonder-, sondern auch die Amts-, Land- und Oberlandesgerichte, den Strafvollzug und die Spezialgerichtsbarkeiten der Erbgesundheits- und Erbhofgerichtsbarkeit berücksichtigen. Auch wäre die Ziviljustiz gegenüber der Strafgerichtsbarkeit stärker einzubeziehen. Das letzte Wort in Sachen Justiz im Nationalsozialismus ist noch längst nicht gesprochen.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Form / Theo Schiller (Hrsg.), Politische NS-Justiz in Hessen. Die Verfahren des Volksgerichtshofs, der politischen Senate der Oberlandesgerichte Darmstadt und Kassel 1933–1945 sowie Sondergerichtsprozesse in Darmstadt und Frankfurt/M. (1933/34), 2 Bde. (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 65,1 u. 65,2), Marburg 2005. Siehe hierzu die Rezension von Katja Bartlakowski in: H-Soz-Kult, 31.05.2006, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-8043 (06.11.2017).
2 Wolfgang Form / Theo Schiller / Karin Brandes (Hrsg.), Die Verfolgten der politischen NS-Strafjustiz in Hessen. Ein Gedenkbuch (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, 65,3), Marburg 2012; Wolfgang Form / Theo Schiller: Widerstand und Verfolgung in Hessen 1933–1945. Die Verfahren vor dem Volksgerichtshof und den Oberlandesgerichten Darmstadt und Kassel, Mikrofiche-Edition (Diazofiche), München 2007–2008.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch