J. Spohr: In Haft bei der Staatssicherheit

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Titel
In Haft bei der Staatssicherheit. Das Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen 1951–1989


Autor(en)
Spohr, Julia
Reihe
Analysen und Dokumente der BStU 44
Erschienen
Göttingen 2015: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
430 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Bastian, FB Neueste Geschichte / Zeitgeschichte, Otto von Guericke Universität Magdeburg

Julia Spohr hat mit ihrer Dissertation die erste geschlossene Untersuchung zum zentralen Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Berlin-Hohenschönhausen vorgelegt. Hiermit hat die Verfasserin eine Forschungslücke in den Blick genommen. Denn trotz einer nicht unerheblichen Anzahl von Veröffentlichungen zu den einzelnen MfS-Untersuchungshaftanstalten auf Bezirksebene sowie einschlägigen Beiträgen zur Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen lagen bislang keine „repräsentative[n] Untersuchungen zu den dort Inhaftierten, den Bedingungen des Haftalltags und insbesondere zu den Verfolgungsgründen zwischen 1951 und 1989“ (S. 10) vor.

Vor diesem Forschungshintergrund versteht Spohr ihre Untersuchung als Grundlagenforschung (S. 10) und konzentriert sich insbesondere auf drei Fragenkomplexe. Erstens sollen die Konjunkturen und Ausprägungen der geheimdienstlichen Ermittlungstätigkeit untersucht werden. Dadurch will sie „Aufschluss über Gegnerschaft und Widerständigkeit in der DDR“ sowie „ein detailliertes Bild von den Bedrohungsszenarien und der damit einhergehenden Ausrichtung strafrechtlicher politischer Verfolgung durch das MfS“ (S. 11) gewinnen. Zweitens sollen sowohl die lokalen Haftpraktiken und deren Wandel als auch die „individuellen Erfahrungen ehemaliger Insassen“ (S. 12) in den Blick genommen werden. Drittens widmet sich die Studie den Rückwirkungen, die die geheimdienstlichen Ermittlungsverfahren auf die Feindbilder von MfS-Mitarbeitern hatten. Auch den Zusammenhang zwischen der Praxis der Ermittlungsverfahren und strafrechtlichen Gesetzesänderungen sowie dem Ausgang von Gerichtsverfahren erklärt die Autorin zu ihrem Untersuchungsziel (ebd.). Über den engeren Rahmen der Haftanstalt hinaus möchte Spohr mit ihrer Studie „zur Veranschaulichung innerstaatlicher politischer Verfolgung, individueller Selbstbehauptung und internationaler Verflechtung in der Repressions- und Diktaturgeschichte als Bestandteil der Gesellschaftsgeschichte der DDR beitragen“ (S. 13). Die Autorin verzichtet dabei auf eine eingehende Untersuchung des Personals der zentralen Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen, vermutlich aufgrund der parallel zu ihrer eigenen Arbeit durchgeführten Studie von Elisabeth Martin.1

Die Untersuchung von Julia Spohr stützt sich insbesondere auf die schriftlichen Überlieferungen der Hauptabteilung IX (Untersuchung), der Abteilung XIV (Haftvollzug), auf Abschluss- und Qualifizierungsarbeiten von MfS-Mitarbeitern sowie auf die Analyse von 470 Ermittlungsverfahren (S. 22–26, hier S. 25). Abgesehen von einer kurzen Notiz zur Auswahl erläutert sie ihre Auswertungsmethoden nicht näher. Auch die Zusammensetzung der exemplarisch ausgewerteten Ermittlungsverfahren wird nicht näher beschrieben. Repräsentativität und Aussagewert ihrer Stichprobe bleiben so weitgehend offen. Daneben wurde eine Vielzahl von mündlichen Quellen einbezogen, etwa Interviews oder Haftberichte von ehemaligen Untersuchungshäftlingen. Dabei konnte sich die Autorin auf eigene Forschungen stützen, die sie anhand von Opferberichten von ehemaligen politischen Häftlingen der MfS-Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen durchgeführt hatte.2

Entsprechend ihres Forschungsprogramms gliedert sich die Untersuchung in vier Hauptkapitel. Den Ausgangspunkt (Kapitel 1) bilden eine auf dem Forschungsstand aufbauende Skizze der normativen Reglementierungen des MfS-Untersuchungshaftvollzugs sowie ein Überblick über die maßgeblich am Untersuchungshaftvollzug beteiligten Abteilungen als behördlich-institutionellen Rahmen. In Kapitel 2 untersucht Spohr „Konjunkturen der Ermittlungen und Verhaftungen“ anhand von Archivmaterial. Trotz jüngerer Forschungen, wie etwa von Katrin Passens3, beschreibt Spohr diese Konjunkturen ausführlich und stellt sie in einen Zusammenhang mit außen- und innenpolitischen Entwicklungen. Im Anschluss stellt die Autorin auf der Basis von personenbezogenen Ermittlungsverfahren „delikttypische Fallbeispiele“ vor, etwa mit Blick auf „Fluchthilfe“ oder „Ausreiseantragssteller“. Die jeweilige Gewichtung trägt den Konjunkturen sowie dem Umfang von politischen Straftatbeständen jedoch nur bedingt Rechnung. Zudem hätten die vergleichsweise umfangreichen Ausführungen zu „NS-Verbrechen“ reduziert werden können, da zu einigen der besprochenen Personen, wie etwa Otto Hebold, Kurt Heißmeyer oder Josef Blösche durchaus Forschungsliteratur vorliegt (S. 177–183).4

Den Abschluss des zweiten Kapitels bildet eine quantitative Auswertung der rund 11.000 Ermittlungsverfahren. Hier analysiert die Autorin etwa die Anzahl der jährlichen Verhaftungen, das Alter oder das Geschlecht von politischen Häftlingen. In diesem Abschnitt kann sie auch weiterführende geschlechtsspezifische Ergebnisse herausarbeiten. So stellt sie einen im Vergleich zu anderen MfS-Untersuchungshaftanstalten hohen Anteil von weiblichen Untersuchungshäftlingen fest. Für die 1980er-Jahre arbeitet sie außerdem eine geschlechtsspezifische Charakteristik der politischen Verfolgung heraus, da der Anteil „genuin ‚politischer Straftaten‘ als Haftgrund unter den weiblichen Häftlingen signifikant häufiger vertreten war als unter Männern“ (S. 204).

Im dritten Kapitel richtet sich die Analyse auf das Innenleben der Untersuchungshaftanstalt am Beispiel des Haftalltags, der Vernehmungsmethoden und der Herrschaftspraktiken. Zudem werden auch widerständige Verhaltensweisen von Untersuchungshäftlingen betrachtet. Die gewonnenen Ergebnisse etwa zum Haftalltag oder zur medizinischen Versorgung ordnen sich in die breite Forschungsliteratur zur Untersuchungshaft des MfS ein. Jedoch hätten einzelne Aspekte, wie etwa Gewalt durch Personal oder Suizidversuche durch Häftlinge, stärker mit den Ermittlungsmethoden in Zusammenhang gebracht werden sollen. So hätte deutlicher werden können, wie sich die untersuchungshaftspezifischen Praktiken wandelten und individuell durch die Untersuchungshäftlinge wahrgenommen wurden (S. 306–330). Zudem nimmt Spohr ihre gewonnenen statistischen Ergebnisse zu männlichen und weiblichen Häftlingen nicht zum Anlass, um den Haftalltag von Frauen und Männern zu hinterfragen oder den spezifischen Ermittlungsmethoden gegen Frauen und Männern nachzuspüren.

Im letzten Teil ihrer Arbeit (Kapitel 4) diskutiert Spohr die Aus- und Rückwirkungen der geheimdienstlichen Untersuchungshaft auf die MfS-Mitarbeiter. Jedoch greifen die Überlegungen zum Feindbild des MfS-Personals aufgrund des Verzichts auf eine eingehende Auseinandersetzung mit dem hiesigen Personal zu kurz. Ebenso können die Darlegungen, dass das MfS nur „marginal“ auf Gerichtsverfahren Einfluss nahm, nur partiell überzeugen. Einerseits sind die Untersuchungsvorgänge als Quellengrundlage hierfür nicht immer aussagekräftig (S. 379), andererseits ordnet die Autorin ihre Untersuchungsergebnisse nicht ausreichend in den Forschungsstand ein und vernachlässigt die Einflüsse des MfS auf die Einstellung von Verfahren oder auf die Höhe des Strafmaßes. Hingegen kann sie die zielgerichtete Einflussnahme der Hauptabteilung IX auf Veränderungen des politischen Strafrechts, vor allem auf das Strafgesetzbuch von 1968 und den folgenden Strafrechtsänderungsgesetzen, nachzeichnen. Dies trägt zu einer differenzierten Charakterisierung der politischen Verfolgung in der DDR bei (S. 351–367). Unter Einbezug von ergänzenden Überlieferungen, etwa des Justiz- oder Innenministeriums, geben diese Ergebnisse Anlass zu weiteren notwendigen Forschungen.

Julia Spohr hat eine gut lesbare Untersuchung vorgelegt, die einen adäquaten Überblick über die Geschichte der politischen Verfolgung der zentralen Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen bietet. Leider kann sie ihr anvisiertes Forschungsprogramm, vor allem zu Haftpraktiken, zum Feindbild von MfS-Mitarbeitern oder zu individuellen Erfahrungen von männlichen und weiblichen Untersuchungshäftlingen, nur teilweise einlösen.5 Wesentliche Gründe hierfür beruhen aus Sicht des Rezensenten auf der zu knappen analytischen Diskussion des Forschungsgegenstandes sowie der geringen Einordnung und Rückbindung der überlieferten Materialien. So bietet die Einleitung (S. 9–26) lediglich skizzenhafte methodisch-theoretische Einlassungen zur MfS-Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen „als herrschaftssichernde Stütze der SED-Diktatur“ (S. 13). Spohr beschreibt die Haftanstalt zwar überzeugend als eine Institution, „in der sich die hegemonialen Ansprüche, Feindbilder und Gefahrenperzeptionen des SED-Regimes in ihrem Aufeinandertreffen mit als widerständig wahrgenommenen und aus politischen Gründen kriminalisierten Individuen unmittelbar rekonstruieren und in ihrer konkreten Wirkung auf den einzelnen Häftling beobachten lassen“ (S. 12). Jedoch verfolgt sie diesen Gedanken jedoch nicht weiter bzw. baut ihn kaum systematisch aus. Stattdessen insistiert sie schlagwortartig auf einer mikroperspektivischen Forschungsperspektive. Diese hätte jedoch einer eingehenden analytischen Systematisierung bedurft, um Untersuchungsebenen sowie Wechselbeziehungen zu verdeutlichen (S. 13). In der Konsequenz vernachlässigt die Untersuchung die vielfältigen Rückwirkungen und Effekte des Aufeinandertreffens von Häftlingen und Personal in der MfS-Untersuchungshaft als abgeschotteter und „totaler“ Herrschaftsraum. Auch personelle, finanzielle oder organisatorisch-strukturelle Probleme und Konflikte, die zu einer weiteren Differenzierung des Untersuchungshaftalltages beitragen könnten, werden nicht ausreichend in den Blick genommen.

Die geringen methodisch-theoretischen Ausführungen korrelieren mit einer unzureichenden Einordung der genutzten Quellen. Die schriftlichen Überlieferungen des MfS werden ebenso wie Interviews oder Haftberichte von politischen Häftlingen nur knapp eingeordnet. Aussagen von MfS-Mitarbeitern oder politischen Häftlingen werden teilweise unkritisch übernommen (etwa S. 24; S. 317, Anm. 527 und 528). So beruht etwa der Nachweis über Unterleibserkrankungen von Frauen aufgrund der unzureichenden Versorgung mit Monatsbinden zu Beginn der 1950er-Jahre auf der Aussage eines männlichen Zeitzeugen aus dem Jahr 1999 (S. 262, Anm. 240). Weiterhin hätte eine analytische Darlegung sowie Verknüpfung der vorliegenden breiten Quellenbasis dazu beigetragen, über die Beschreibung von personenbezogenen Fallbeispielen hinaus die mannigfaltigen Intentionen, Motive, Strategien, Auswirkungen und vor allem retrospektiven Wahrnehmungen und Erfahrungen in und durch Haft stärker auszuloten und (auch geschlechtsspezifisch) zu differenzieren. Aufgrund der genannten Gründe geht die Untersuchung von Julia Spohr nur teilweise über den bisherigen Forschungsstand hinaus und kann am Beispiel der zentralen MfS-Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen auch nur partiell neue Ergebnisse zur politischen Verfolgung in der DDR präsentieren.

Anmerkungen:
1 Vgl. Elisabeth Martin, „Ich habe mich nur an das geltende Recht gehalten.“ Herkunft, Arbeitsweise und Mentalität der Wärter und Vernehmer der Stasi-Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen, Baden-Baden 2014.
2 Vgl. Christina Lazai / Julia Spohr / Edgar Voß, Das zentrale Untersuchungsgefängnis des kommunistischen Sicherheitsdienstes in Deutschland im Spiegel von Opferberichten. Die Haftbedingungen in der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen 1947–1989, Berlin 2009.
3 Vgl. Katrin Passens, MfS-Untersuchungshaft. Funktionen und Entwicklung von 1971 bis 1989, Berlin 2012.
4 Vgl. Heribert Schwan / Helgard Heindrichs, Der SS-Mann. Leben und Sterben eines Mörders, München 2003; Herbert Dierks, Gesucht wird: Dr. Kurt Heißmeyer, in: Schuldig. NS-Verbrechen vor deutschen Gerichten (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland), hrsg. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Bremen 2005, S. 102–115; Joachim Stephan Hohmann / Günther Wieland, MfS-Operativvorgang „Teufel“. Euthanasie-Arzt Otto Hebold vor Gericht, Berlin 1996.
5 Vgl. auch die Kritik von Peter Erler, Rezension von: Julia Spohr: In Haft bei der Staatssicherheit, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 4 [15.04.2016], URL: http://www.sehepunkte.de/2016/04/27905.html (10.01.2017).

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