Cover
Titel
Rational Action. The Sciences of Policy in Britain and America, 1940–1960


Autor(en)
Thomas, William
Reihe
Transformations: Studies in the History of Science and Technology
Erschienen
Cambridge, MS 2015: The MIT Press
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
$ 38.00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Barbara E. Hof, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

„Our greatest secret Weapon. It`s called ‚Operations Research‘.“1 Retrospektiv scheint bestätigt, was das „This Week Magazine“ 1951 titelte: Rolle und Relevanz der in Großbritannien entwickelten Kriegswissenschaft Operational Research, im US-amerikanischen als Operations Research (OR) bezeichnet, sind heute kaum mehr bekannt. Dabei ist die OR von zentraler Bedeutung für die Vorgeschichte der staatlichen Bildungsplanung, des Schulmanagements und der Verwissenschaftlichung von Managementausbildungen in der Nachkriegszeit.

Ursprünglich wurde mit der Bezeichnung OR auf eine Nähe zum militärischen Einsatz hingewiesen.2 Sie war besonders charakterisiert durch statistische Auswertungen von Datensätzen verbunden mit dem Ziel, den Militärs eine Basis für ihre Entscheidungen zu geben.3 Ähnlich wie die Kybernetik wurde sie in den Nachkriegsjahren in die zivile Sphäre übertragen, allerdings wurde ihre Neuheit im Unterschied zur Kybernetik weder betont noch charismatisch vertreten. Dass der Kybernetik eine „bis heute anhaltende, wenn auch indirekte Prägekraft“4 zugesprochen wird, stellt die Bedeutung ihrer Schwesternwissenschaft OR umso mehr in den Schatten.

Deshalb könnten sich die Geister an „Rational Action“ scheiden: Einerseits beleuchtet der Historiker William Thomas zahlreiche bisher kaum beachtete Aspekte der Geschichte des Westens in der Jahrhundertmitte, aus denen sich Zusammenhänge neu bestimmen lassen. Andererseits kommt genau diese rekonstruierende Leistung bei „Rational Action“ selbst zu kurz. Dies liegt im zweischichtigen Interesse begründet, dass William Thomas in seiner Studie verfolgt: einerseits die Geschichte der OR zu beleuchten, andererseits keine „Moral“ zum Gegenstand zu wählen, sondern eine „Moral“ für die Geschichtsschreibung zu entwickeln (S. 6). Diesen Anspruch formuliert er aus der Kritik, Narrative der Technikgeschichte seien versucht, entweder das Verfehlen der wissenschaftsbasierten Politikgestaltung aufzuzeigen, oder das Dominantwerden einer dem Anschein nach rationalen Technologie zu verdeutlichen. Da aufgrund dieser Kritik in weiten Teilen auf den Einbezug von Forschungsliteratur zur OR verzichtet wird (die zwar spärlich, aber dennoch vorhanden wäre), sind die Ergebnisse in „Rational Action“ teils redundant, insbesondere da kaum versucht wird, sie zu bündeln und aufeinander zu beziehen.

Sieben Abschnitte gliedern das Buch. Zuerst wird auf die Ursprünge der „sciences of policy“ (S. 13) eingegangen. Bereits im Ersten Weltkrieg band man Akademiker in den Krieg ein, da die aufkommende Luftwaffe mathematische Kalkulationen über Geschwindigkeit und Höhe wichtig erscheinen ließ. Die Nichtsichtbarkeit von nächtlichen Angriffen wurde auch nach dem Ersten Weltkrieg als Problem weiter bearbeitet. Die Entstehung der OR in den 1930er-Jahren in Großbritannien ist deshalb eng mit der Geschichte des Radar als einem Frühwarnsystem verbunden: Radar wurde zwar in viele Nationen erforscht, bedeutende Schritte wurden jedoch in Großbritannien gemacht, wo dieses sich als wichtiger Vorteil in der Schlacht um England erwies5. OR entstand also vor dem Hintergrund, sich neuen, rasch ändernden technologischen Entwicklungen in der Kriegsführung möglichst adäquat anpassen zu können. Als Kernfrage der OR kristallisierte sich heraus, wie durch das Zusammenspiel verschiedener Elemente Selbstverteidigung und Angriff effektiver ausgestaltet werden könnten.

Im dritten Abschnitt stellt William Thomas die Institutionalisierung der OR in Großbritannien dar, wie sie sich 1934 in der Gründung des „Committee of the Scientific Survey of Air Defense“ abzeichnete und 1941 in der „Operational Research Section“ niederschlug. Danach expandierte das OR-Modell erfolgreich innerhalb der Royal Air Force. Die erste US-amerikanische OR-Gruppe wurde im Jahr nach Kriegseintritt gebildet. Hier etablierte sich die OR 1943 sowohl in der Navy als auch in der Air Force. Einer ihrer Vorteile ist in der Organisationsform zu sehen, einem Netzwerk von Offizieren, technischen Experten und Wissenschaftlern. Ihre Legitimität hing aber wesentlich vom militärischen Nutzen ab. Während des Einsatzes wurden nicht nur Daten erhoben, sondern es wurde an der Verbesserung der Effektivität und Effizienz militärischer Operationen und der Logistik gearbeitet. Hierfür wurden Suchmatrizen entwickelt, wie beispielsweise das „slide wheel“ (S. 115), das Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit eines U-Bootverlustes beeinflussen, erfasst und optisch darstellt. Der Fortschritt der Mathematik führte dazu, das Auftauchen der U-Boote nicht mehr als geometrisches, denn vielmehr als spieltheoretisches und statistisches Problem zu begreifen und in einer formalisierten Analyse zu bearbeiten. OR-Wissenschaftler wurden so zu Übersetzern zwischen der Mathematik und dem Geschehen auf dem Feld.

Der vierte Abschnitt beginnt mit einer Darstellung des „Operations Research without Operations“ (S. 133) nach dem Zweiten Weltkrieg, als die OR zunehmend in die zivile Anwendung übertragen wurde. Die positive Wertung ihres Einflusses auf die Kriegsführung hatte dazu geführt, dass ihr Potential für den Frieden positiv konnotiert wurde. Folglich sind nach Kriegsende zwei parallele Entwicklungen zu unterscheiden: Im Militär fand die OR sowohl im Korea- und Vietnamkrieg weiterhin Anwendung, um die Effektivität von Waffen und Strategien zu prüfen. Das nichtmilitärische OR hingegen wandte sich vermehrt Fragen der Logistik und des Managements zu, denn man stellte sich die Frage, inwiefern sich OR bei der Optimierung politischer Planung als rentabel erweisen würde. In Großbritannien versiegte der gemeinsame Diskurs von Wissenschaft und Politik jedoch bald und OR-Projekte starben einen „bureaucratic death“ (S. 160). Als die Rhetorik über die Bedeutung der OR für den Staat schwand, erschien sie hier in einer moderateren Form in Diskussionen um Industriemanagement und Konsumentenforschung. Anfang der 1950er-Jahre verstand man in Großbritannien unter OR weniger eine Innovation, als dass man darunter Praktiken bündelte, welche dazu dienten, die Effizienz in der Industrie (beispielsweise der Kohle- und Stahlproduktion) zu steigern. Nach 1960 wurde die OR nach Großbritannien reimportiert, hatte sich aber substanziell gewandelt: Auch in den USA hatte man begonnen, sie außerhalb des Militärs aufzubauen, doch hier florierte sie als Mittel der Expertise an der Schnittstelle von Forschung, Ingenieurwesen und militärischer Planung in Institutionen wie der RAND Corporation. Zwar widmeten sich auch die Amerikaner der Frage, wie OR-Methoden in der Industrie angewandt werden können, doch der Kalte Krieg hielt sie vielmehr dazu an, neue Technologien mit Fragen wie Transport, Kommunikation und medizinischer Versorgung im Kriegsfall zusammenzudenken.

Dass sich die OR in Ausbildungsgängen und in der Gründung von Managementschulen wie der School of Industrial Management (SIM) verstetigte, wird im sechsten Abschnitt vertieft. Der Abschnitt dazwischen konzentriert sich auf den Einfluss der OR auf die mathematische Theoriebildung in der Nachkriegszeit, wie zum Beispiel die Entscheidungstheorie, die damals aufgrund der ihr zugesprochenen praktischen Bedeutung einen Hauptforschungszweig bildete. Statistische Methoden sowie die im Zweiten Weltkrieg entwickelte Game Theory wurden ebenfalls weiter beforscht, was theoretische Modelle wie Nashs Equilibrium oder das Prisoners Dilemma verdeutlichen. Besonders hervorgehoben wird die Entwicklung der Systems Analysis, die ähnlich wie die OR zur Optimierung im Luftwaffenkrieg entwickelt wurde und auf der Annahme basiert, dass nachrichtentechnische Waffensysteme optimal im Verbund wirken. Sie änderte sich jedoch in den 1950er-Jahren drastisch: Während der Mathematikanteil im OR stieg, sank dieser in der Systems Analysis. Letztere wurde zu einer heterogenen Politikanalyse. Diese Darstellung der Integration verschiedener Wissenschaften ist nicht nur zu knapp und komprimiert, sondern im Unterschied zu anderen Textstellen auch nicht mit biographischen Angaben zu den beteiligten Sozialwissenschaftlern belegt. Aus seinen Ausführungen folgert William Thomas abschließend eine schrittweise Veränderung der „sciences of policy“ (S. 289). Zwar hätten die Forscher vergleichbare Zielsetzungen verfolgt, die sich aber nicht aufeinander bezogen, da ihre einzige Gemeinsamkeit das Streben nach Rationalität gewesen sei.

William Thomas setzt sich zum Ziel zu beleuchten, wie Polemiken rund um die Technologie und ihr Verhältnis zur Gesellschaft historische Darstellungen prägten. Folglich stellt er die Erzähllinie zugunsten einer detailgenauen Studie zurück, die sich auf die involvierten Forscher konzentriert und durch zahlreiche Originaldokumente Hintergründe der britischen und amerikanischen Kriegsführung offen legt. Das Buch bewegt sich im Spannungsfeld divergenter Einzelheiten, der Darstellung mathematischer Theorieentwicklung und der Beziehung von Wissenschaft, Management und Politik. Dass William Thomas eigene Schlussfolgerungen zu diesem Spannungsfeld nur sehr zurückhaltend formuliert, macht „Rational Action“ zu einem äußerst ertragreichen Nachschlagewerk zur Geschichte der OR, eine fesselnde These ist aber nicht auszumachen. „Rational Action“ zeugt von großen Kenntnissen der Materie, doch ist die Deskription zu ausführlich und die Analyse zu kurz geraten.

Anmerkungen:
1 Lieut. Col. David B. Parker, Our greatest secret weapon, in: This Week Magazine, 5.8.1951, S. 7.
2 Mike Fortune / Silvan S. Schweber, Scientists and the Legacy of World War II: The Case of Operations Research (OR), in: Social Studies of Science, 1993 (23), S. 601.
3 Wolfgang Pircher, Krieg und Management: Zur Geschichte des Operations Research, in: Ramón Reichert (Hrsg.), Governmentality Studies. Analysen Liberal-Demokratischer Gesellschaften. Im Anschluss an Michel Foucault, Münster 2004, S. 113–125, hier S. 114.
4 Martin Schmitt über Ronald R. Kline, The Cybernetics Moment. Or Why We Call Our Age the Information Age. Baltimore 2015, in: H-Soz-Kult, 25.02.2016, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-25216> (03.03.2016).
5 Louis Brown, A Radar History of World War II: Technical and Military Imperatives, Bristol 2000.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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