G. Besier u.a. (Hrsg.): Jehovas Zeugen

Besier, Gerhard; Stoklosa, Katarzyna (Hrsg.): Jehovas Zeugen in Europa. Geschichte und Gegenwart. Band 2: Baltikum, Großbritannien, Irland, Rumänien, Skandinavien, UdSSR/GUS. Berlin 2015 : LIT Verlag, ISBN 978-3-643-13039-6 792 S. € 24,80

Besier, Gerhard; Stoklosa, Katarzyna (Hrsg.): Jehovas Zeugen in Europa – Geschichte und Gegenwart. Band 1: Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal und Spanien. Berlin 2013 : LIT Verlag, ISBN 978-3-643-11508-9 736 S. € 24,80

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tim B. Müller, Forschungsgruppe Nachkriegszeiten, Hamburger Institut für Sozialforschung

In der Geschichte des amerikanischen „New Deal“ ist die christliche Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas eine vertraute Erscheinung. Sie wurde in den 1930er- und 1940er-Jahren zur verfassungsrechtlich aktivsten religiösen Minderheit, die immer wieder bis vor den Supreme Court zog, um ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und Verweigerung der militärischen Mobilisierung einzufordern. Die sich als unpolitisch auffassende Glaubensgemeinschaft wurde so zur Protagonistin der Demokratiegeschichte. Legenden der US-Verfassungsgeschichte wie Felix Frankfurter, Charles Evans Hughes, Robert H. Jackson oder Harlan Fiske Stone standen im Zentrum dieser Fälle, die in der amerikanischen Rechtsgeschichte zu wichtigen Wegmarken im Konflikt um das moderne Grundrechteverständnis geworden sind – ob als Vorboten des Konsenszwangs und des nationalen Sicherheitsstaates des Kalten Krieges gedeutet, wie in der jüngsten Gesamtdarstellung des „New Deal“ von Ira Katznelson, als klassisches Symbol für die mit der Expansion des Staates zunehmenden Auseinandersetzungen um die Beschränkung staatlicher Macht oder als erste Stufe in der Bürgerrechtsrevolution, der „rights revolution“, die sich in den folgenden Jahrzehnten entfaltete und das gesellschaftliche Gespräch über individuelle Grundrechte revolutionierte.1

In der deutschen Historiographie scheint diese Religionsgemeinschaft hingegen ausschließlich in Darstellungen von Repression und Opposition im Nationalsozialismus und in der DDR präsent zu sein. Aus den Standardwerken zu Verfolgung, Widerstand und Konzentrationslagern sind die Bibelforscher oder Zeugen Jehovas, die sich bis in die 1930er-Jahre als „Internationale Bibelforschervereinigung“ bezeichneten und vom NS-Machtapparat unter diesem Namen verfolgt wurden, nicht wegzudenken, als eine der von den Sicherheitsorganen und der Justiz des nationalsozialistischen Staates am härtesten drangsalierten Gruppen, mit einem eigenen Häftlingskennzeichen in der Ordnung des Terrors.2 Beinahe alle deutschen Kriegsdienstverweigerer im Zweiten Weltkrieg stammten aus den Reihen dieser sich auf urchristliche Ideale der Gewaltlosigkeit berufenden Glaubensgemeinschaft. Auch ihre Verweigerung des Hitlergrußes und der Mitarbeit in Rüstungsindustrie und NS-Organisationen, ihr ausgeprägter Internationalismus, ihre Ablehnung des Rassismus und Akte der Solidarität mit anderen NS-Opfern sowie ihre öffentlichen Protestaktionen führten zum Konflikt mit dem nationalsozialistischen Regime, das sie immer wieder, wie zuvor bereits völkische Kreise, als „jüdisch-bolschewistische“ Sekte etikettierte und attackierte. Es gibt eine kleine Spezialliteratur zur Leidensgeschichte dieser religiösen Minderheit in den beiden deutschen Diktaturen, allen voran die Monographie von Detlef Garbe, dem Leiter der Hamburger KZ-Gedenkstätte Neuengamme.3 Außerhalb dieses Feldes der Widerstands- und Opfergeschichte existierte diese Religionsgemeinschaft offenbar jedoch nicht – abgesehen von der schmalen Literatur zur Geschichte der Kriegsdienstverweigerung, in der sie eine zentrale Rolle einnimmt.4

Vor wenigen Jahren eröffnete Richard J. Evans eine andere historiographische Perspektive. Er verwies in seiner einflussreichen Skizze einer Geschichte der „social outsiders“ in Deutschland auch auf die Geschichte der Zeugen Jehovas als Beispiel für den Umgang mit sozialer Abweichung, mit kulturellen Minoritäten und mit Gruppen, die sich einer eindeutigen nationalen Zuordnung entzogen.5 In dieser Skizze war zu erkennen, dass sich die deutsche Akzeptanz des kulturellen Pluralismus vor 1933 nicht wesentlich von der anderer west- oder nordeuropäischer Gesellschaften unterschied. Das Kaiserreich ließ die Kriegsdienstverweigerer des Ersten Weltkrieges nicht wie die französische Republik erschießen, anfangs konnten sogar pazifistische Predigten an der Front gehalten werden. In der Weimarer Republik genossen die Bibelforscher nicht nur volle Religionsfreiheit, sondern erzielten im pluralistischen Massenkommunikationsmarkt nach dem Krieg auch eine ihrer höchsten Wachstumsraten weltweit.

Was Evans anhand der Bibelforscher und anderer marginalisierter sozialer Gruppen entwarf, ist eine vergleichende Betrachtung der „Nachtseite“ der Demokratiegeschichte, die die Geschichte und Theorie der Moderne auf neue Weise informieren könnte und dabei von nationalen Kurzschlüssen Abstand nimmt. In diese Richtung bewegt sich, ohne den von Evans ausgelegten Faden aufzunehmen, eine mehrbändige, von einem multinationalen Forscher- und Autorenteam verfasste Geschichte der Bibelforscher oder Zeugen Jehovas in Europa. In den Einleitungen zu den Bänden skizzieren die beiden Herausgeber, der Zeit- und Kirchenhistoriker Gerhard Besier und die Historikerin Katarzyna Stokłosa, eine Geschichte der politischen Verfasstheit moderner Gesellschaften am Beispiel ihres Umgangs mit einer in allen europäischen Staaten vertretenen religiösen Minderheit. Die Herausgeber und Beiträger machen anhand relativ konstanter Merkmale deutlich, warum sich die Geschichte dieser christlichen Gruppe besonders für einen solchen historischen „Pluralismustest“ eignen könnte: Sie ist von relevanter Größe und öffentlich sichtbar, sie rekrutiert sich aus allen sozialen Schichten, Kulturen, religiösen und weltanschaulichen Zusammenhängen, sie agiert international und steht in Spannung zum Nationalstaatsprinzip. Sie kann, wie es Besier und einige der Autoren tun, in die Geschichte der protestantischen Erneuerungsbewegungen eingeordnet werden und erhielt sich zugleich eine irritierende Andersartigkeit, ihre Glaubensangehörigen standen immer wieder vor Gericht, wurden jedoch in rechtsstaatlichen Verfahren, was diese Bände in enormer Fülle zeigen, stets als rechtstreue Staatsbürger befunden – fundamentale Konflikte mit rechtsstaatlichen Ordnungen traten allein in Grundrechtsfragen auf, vor allem in der Frage der Verweigerung des Militärdienstes.

Dem Ziel, sich an einer solchen Geschichte der europäischen Moderne zu versuchen, werden nicht alle in diesen beiden voluminösen Bänden – ein dritter und letzter Band mit dem geographischen Schwerpunkt Mittel- und Ostmitteleuropa ist angekündigt – versammelten Beiträge gerecht, die auch in ihrer wissenschaftlichen Qualität und Methode schwanken. Die Bandbreite reicht von religionssoziologischen Strukturanalysen und historischen Darstellungen aus religions- und rechtswissenschaftlicher Perspektive über theoretisch reflektierte zeithistorische Untersuchungen bis zu detailreichen Dokumentationen von Verfolgungsgeschichten und juristischen Auseinandersetzungen. Einige Kapitel haben monographische Länge, andere orientieren sich am üblichen Rahmen wissenschaftlicher Artikel. Dennoch ist eine beeindruckende europäische Kooperation entstanden: eine transnationale Geschichte einer religiösen Bewegung, die konsequent nationale Grenzen missachtete, und der divergierenden politischen und gesellschaftlichen Reaktionen auf dieses Phänomen, zugespitzt auf die Entwicklung von Pluralismuspraktiken und -vorstellungen. Der implizite Maßstab ist dabei oft ein demokratischer Pluralismus, wie er sich in den politischen Kulturen Großbritanniens und Schwedens herausgebildet hat, mit denen sich Besier selbst und der schwedische Theologe und Ideenhistoriker Bertil Persson befassen. Doch wird diese normative Perspektive eher materialerschließend als deutungsbestimmend auf die Quellen gerichtet; eine Stärke vieler Beiträge ist gerade der Blick für die langsame historische Entwicklung heute als zeitlos geltender Pluralismusstandards, die im frühen 20. Jahrhundert auch im Vereinigten Königreich noch keineswegs etabliert waren. Die Untersuchungsergebnisse scheinen dabei eine selbstreflexive Renaissance erlebende Modernisierungstheorien zu bestätigen, die die Widersprüchlichkeit und Gleichzeitigkeit multipler Modernen betonen und die Erzählung linearer Entwicklungsmuster auflösen6 – wozu passend in den vorliegenden Bänden der Begriff der „multiplen Repression“ geprägt wird (Bd. 2, S. 547).

Angesichts der enzyklopädischen Ausmaße der Bände, die jedes europäische Land abdecken, ist es unmöglich, auf alle Beiträge einzugehen. Versteckt in dieser Vielfalt finden sich auch ausgezeichnete Beispiele europäischer Historiographie. So wird in der exzellenten Studie des portugiesischen Historikers Pedro Pinto die eigensinnige Geschichte Portugals im 20. Jahrhundert in ihren internationalen Verflechtungen dargestellt, weniger eine iberische Geschichte als eine Geschichte des Austauschs mit Brasilien, den afrikanischen Kolonien und Großbritannien. Das Land fand auch in den Jahrzehnten der Salazar-Diktatur, die als geradezu aufgeklärter Autoritarismus erscheint, zu einem pluralistischen modus vivendi mit einer nonkonformistischen Minderheit – anders als Spanien, dem sich die Mitherausgeberin Stokłosa widmet und wo auf die kurze Blüte der Bibelforscher in der spanischen Republik eine beinahe die gesamte Zeit des Franco-Regimes andauernde brutale Repression folgte. In Portugal schwappte der repressive Backlash in den 1960er-Jahren aus den Überseegebieten in die Metropole: In den portugiesischen Kolonien galten Zeugen Jehovas wegen ihrer Lehre rassen- und klassenloser globaler Bruderliebe als potentiell subversiv, zumal das millionenfach verbreitete Schrifttum der damals winzigen Religionsgemeinschaft auf dem afrikanischen Kontinent auf sehr unterschiedliche Leserschaften getroffen war, was auch dazu geführt hatte, dass Unabhängigkeitsbewegungen Gedankensplitter daraus in ihre politischen Programme und Parolen aufnahmen. Die Mentalität des Kalten Krieges, exzessiver Antikommunismus, das Gefühl, vom amerikanischen NATO-Partner in Afrika im Stich gelassen worden zu sein, die Mobilisierung des Katholizismus für das Regime in seiner Spätphase und das sich radikalisierende Selbstverständnis der Diktatur, das eigene Schicksal mit dem Überleben der Kolonien zu verknüpfen – diese Bedingungen führten demnach zu einer Eskalation der Gewalt in den Unabhängigkeitskriegen, was eine zuvor ungekannte Repression religiöser Devianz mit sich brachte, mit dem Konflikt um die Kriegsdienstverweigerung im Mittelpunkt. Mitunter sich in der Detailfülle verlierend, dann wieder durch wichtige Beobachtungen zur Kriegsdienstverweigerung anregend ist der Beitrag über Italien von Max Wörnhard und Paolo Piccioli, zwei Mitarbeitern in den Geschichtsarchiven der Zeugen Jehovas in Italien und der Schweiz, der auch für die vergleichende Faschismusforschung relevant ist. Die anders als in Deutschland sehr wenigen Bibelforscher in Italien erfuhren lange Zeit relativ milde Formen der Repression durch Staat und Kirche, sie wurden von den Behörden mit anderen „Protestanten“ – Baptisten, Pfingstkirchen, Adventisten, Waldensern – in einen Topf geworfen, erst infolge ihrer systematischen Verweigerung des Waffendienstes und der Rüstungsarbeit im Zweiten Weltkrieg trat ihr individuelles Profil schärfer hervor. Ganz abgesehen von dem im Vergleich viel ineffizienteren Verfolgungsapparat in Italien, gingen die beiden totalitären Diktaturen sehr unterschiedlich mit diesen religiösen Dissidenten um: Während Kriegsdienstverweigerer in Deutschland hingerichtet wurden, erhielten sie in Italien Gefängnisstrafen von wenigen Jahren.

Ein Muster an methodisch reflektierter und quellenkritisch sensibler Zeitgeschichte ist das Kapitel der niederländischen Historikerin Tineke Piersma, der es gelingt, individuelles Handeln unter extremen Umständen mit Gespür für feine Differenzierungen zu rekonstruieren. Ihr Beitrag wartet auch mit bemerkenswerten Erkenntnissen auf: Der später als „Schlächter von Lyon“ zu grausiger Berühmtheit gelangte SD-Mann Klaus Barbie tat sich zuvor bereits in den Niederlanden als Bibelforscherjäger hervor. In den Niederlanden – wie etwa auch in der Ukraine – gab es zudem eine signifikante Zahl jüdischer Bibelforscher. Piersma beschreibt nicht nur Verhöre, Folter, Deportationen, Lagerhaft und Ermordung, sondern auch das Organisieren von Verstecken und Hilfe im Untergrund, die Selbstbehauptung religiöser Identität und die vielen Versuche, die Gestapo zu überlisten. Die transnationale Organisation der Gläubigen im Widerstand wird sichtbar, der klandestine „kleine Grenzverkehr“ der deutschen, niederländischen und anderer europäischer Bibelforscher und auch die offizielle Untersuchung nach dem Krieg, ob der Widerstand der Zeugen Jehovas vom Staat so gewürdigt werden sollte wie der anderer Widerstandsgruppen, mit dem Ergebnis, „diese religiösen, fanatisch-gutmütigen, nichtrevolutionären Anarchisten“ verdienten „für ihre religiös motivierte Opferbereitschaft, die dem Vaterland zugutegekommen ist“, gleichberechtigte Anerkennung (Bd. 1, S. 501). In seiner Multiperspektivität, in der Verbindung von individuellen Opferschicksalen und Strukturanalyse des Repressionsapparats und des sowjetischen Lagersystems, ist auch der gemeinsam von dem ukrainischen Historiker Konstantin Berezhko und dem leitenden Wissenschaftler der Religionsgemeinschaft in Deutschland, Wolfram Slupina, verfasste Beitrag über die Ukraine und die UdSSR hervorzuheben, aus dem der zitierte Begriff der „multiplen Repression“ stammt.

Schlüsselfiguren der Demokratiegeschichte tauchen in diesen Bänden immer wieder auf: der britische Premierminister H. H. Asquith etwa, der sich gegen sein Militär für die britischen Kriegsdienstverweigerer des Ersten Weltkriegs verwandte, Thomas Mann, der den Bibelforschern für ihre Aufdeckung von NS-Verbrechen dankte, oder der französische Ministerpräsident Léon Blum, der Führer der Volksfront-Regierung, der gegen laizistische und konservativ-katholische Bedenken nach dem Zweiten Weltkrieg den Zeugen Jehovas, denen er als Mithäftlingen im KZ Buchenwald begegnet war, die rechtliche Anerkennung verschaffte. Die historische Dokumentation über Frankreich und Luxemburg ist zwar überlang und etwas unübersichtlich geraten, zeigt aber die internationale Gestalt der Gemeinschaft, die Elsässer, Polen, Staatenlosen und Flüchtlinge, die sich in den 1930er-Jahren in Frankreich sammelten und bald nationalsozialistischem Terror ausgesetzt sahen. Der methodisch etwas fragwürdige Beitrag über Dänemark macht Erstaunliches sichtbar: Werner Bests Sonderprotektorat war das einzige Gebiet im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich, in dem die Zeugen Jehovas keine Verfolgung erlitten und sogar öffentlich auftreten konnten, weil die dänische Verwaltung und die dänischen Gesetze weitgehend unangetastet blieben. Die Persistenz von Verfolgung und Gewalt nach 1945 findet sich nicht nur in totalitären Regimes: Griechenland, wo bis vor kurzem, wie der von zwei Juristen verfasste Beitrag zeigt, noch unter der Diktatur der 1930er-Jahre erlassene Gesetze zur Bekämpfung nicht-orthodoxer Religionen in Kraft waren, hob sich lange durch brutale Gewalt in der Behandlung dieser Minderheit ab, was nicht einmal das Ende der Militärdiktatur und der EG-Beitritt 1981, sondern erst Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und ein Wandel der politischen Kultur seit den 2000er-Jahren grundsätzlich änderten.

Versucht man, die für die Geschichte von Demokratie und Moderne relevanten Befunde zusammenzuführen, kristallisiert sich eine korrektive Gegenerzählung zum Narrativ „Katastrophenzeitalter vor 1945, Goldenes Zeitalter danach“ und überhaupt zu allen linearen Deutungsmustern heraus.7 Die multiplen Modernen folgten keiner Teleologie zu einer idealisierten Gegenwart, sondern zumindest im Westen und Süden Europas eher einem stop-and-go-Verlauf, der einmal mehr, einmal weniger Pluralismus und Religionsfreiheit erkennen lässt. Auf die Liberalität und Pluralitätsbereitschaft vor dem Ersten Weltkrieg und auch nach 1918, wofür sich auf Skandinavien, Großbritannien, Deutschland, Benelux, die baltischen Staaten, teils auch Frankreich, Portugal oder Spanien vor Franco verweisen ließe, folgten Repression durch Diktaturen und der kontinentale nationalsozialistische Terror sowie beinahe überall im Zweiten Weltkrieg Beschränkungen von Grundrechten. Die Sowjetunion verschärfte seit den späten 1920er-Jahren ihre Repressionsmaßnahmen, ebenso aber auch „antibolschewistische“ Staaten in Osteuropa mit einer Politik ethnisch-kulturell-religiöser Homogenisierung. Die kurze Phase öffentlicher Anerkennung des antifaschistischen Widerstands unmittelbar nach 1945 in Westeuropa wurde vom Kalten Krieg abgelöst, der sich nicht als goldenes Zeitalter der Menschenrechte erwies, sondern als Ordnung der permanenten militärischen Mobilisierung mit einer reduzierten Pluralismusbereitschaft: Finnland oder Norwegen errichteten in den 1950er- und 1960er-Jahren noch Lager für Kriegsdienstverweigerer, in Griechenland oder Portugal kam es zu verschärfter Repression. Der Pluralismus der Gegenwart wiederum ist offenkundig eine Konsequenz der europäischen Integration, vor allem der rechtlichen Vereinheitlichung und der Interventionen des EGMR. Während die Demokratietheorie sich derzeit eher in Verfallsszenarien ergeht, ist aus Sicht der Grundrechtesicherung und der staatlichen Pluralismuswilligkeit beinahe eine Blütezeit eingetreten. Allerdings besteht dazu ein Gegenpol, der sich vor allem in Russland und anderen ehemals sowjetischen Staaten lokalisieren lässt, wo eine andere Moderne sich zu formieren scheint, eine moderne Ordnung ohne Pluralismus und ohne Rechtsstaatlichkeit, die wiederholten Verurteilungen durch den EGMR durch Strafzahlungen formell Folge leistet, ohne ihre seit Ende der 1990er-Jahre wieder bis zu offener Repression und Terror reichenden Praktiken zu ändern.8 Die Beiträge lassen erkennen, wie sich dabei politische Techniken der Gegenwart mit Kontinuitäten aus dem Zeitalter des Totalitarismus mischen: Die Nachfolgeinstitutionen der kommunistischen Sicherheitsapparate verfolgen in Kooperation mit kontrollierten Massenmedien und politisch mobilisierten orthodoxen Kirchen eine Politik der Homogenisierung, die religiöse Abweichung nicht anders denn als politische Subversion wahrnehmen kann, den Kampfbegriff der „totalitären Sekte“ entwickelt hat und darin auch Unterstützung von westlichen „Sektenexperten“ erfährt, deren eigene institutionellen oder ideologischen Wurzeln mitunter zu den „Deutschen Christen“ oder ins nationalsozialistische und völkische Denken hinabreichen, wie Besier, Persson, der französische Soziologe Régis Dericquebourg, der belgische Menschenrechtsaktivist Willy Fautré oder der kasachische Religionswissenschaftler Artur Artemyev in den vorliegenden Bänden aufzeigen. Wer über historische Sensibilität verfügt, wird nach der Lektüre dieser Ausführungen den Sektenbegriff nur noch religionssoziologisch, im Anschluss an Troeltsch und Weber, verwenden wollen.

Angesichts der zentralen Bedeutung der europäischen Integration und namentlich der Rechtsprechung des EGMR für das europäische Grundrechteverständnis und die Ausbildung von Pluralismusstandards bleibt es das größte Versäumnis dieser Bände, diese Entwicklung nicht in einem systematischen Beitrag zur europäischen Rechtsgeschichte zu untersuchen. Viele der Länderstudien kommen auf den EGMR zu sprechen; „von den über 50 Fällen zu Zeugen Jehovas, mit denen der EGMR seit 1965 befasst war“, wurden faktisch alle von der Religionsgemeinschaft gewonnen, weitere 80 Fälle sind beim EGMR anhängig (Bd. 2, S. 259). Gerade bei der Durchsetzung eines europäischen Rechts auf Wehrdienstverweigerung könnte dieser Religionsgemeinschaft eine ähnliche verfassungsgeschichtliche Bedeutung zukommen wie in den USA, doch diese Diskussion kommt zu kurz. Ein weiteres Problem der Bände besteht darin, dass die Detailfülle diesem transnationalen Unternehmen eher einen Platz in der Spezialliteratur als in der allgemeinen Wahrnehmung der Geschichtswissenschaft sichern wird, obwohl umfangreiche Personen- und Sachregister die Benutzung erleichtern. Wenn auch der rote Faden, in der Geschichte der Konflikte zwischen Staaten und einer christlichen Minderheit die Pluralismusfähigkeit moderner Gesellschaften zu spiegeln, immer wieder aufscheint, wären ein klareres Konzept der Herausgeber und eine größere Stringenz der Argumentation mitunter wünschenswert gewesen. Aber es finden sich darin exzellente Beiträge, deren Lektüre Forschungen zur vergleichenden und transnationalen europäischen Geschichte informieren könnte.

Anmerkungen:
1 Ira Katznelson, Fear Itself. The New Deal and the Origins of Our Time, New York 2013, S. 481; William E. Leuchtenburg, The Supreme Court Reborn. The Constitutional Revolution in the Age of Roosevelt, Oxford 1995; James F. Simon, FDR and Chief Justice Hughes. The President, the Supreme Court, and the Epic Battle Over the New Deal, New York 2012; Shawn Francis Peters, Judging Jehovah’s Witnesses. Religious Persecution and the Dawn of the Rights Revolution, Lawrence 2000.
2 Vgl. zuletzt Nikolaus Wachsmann, KL. A History of the Nazi Concentration Camps, London 2015; Markus Roth, „Ihr wißt, wollt es aber nicht wissen“. Verfolgung, Widerstand und Terror im Dritten Reich, München 2015.
3 Detlef Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im „Dritten Reich“, München 1997; Gerhard Besier / Clemens Vollnhals (Hrsg.), Repression und Selbstbehauptung. Die Zeugen Jehovas unter der NS- und der SED-Diktatur, Berlin 2003.
4 Vgl. Dierk Walter / Christian Th. Müller (Hrsg.), Ich dien’ nicht. Wehrdienstverweigerung in der Geschichte, Berlin 2008; Norbert Haase / Gerhard Paul (Hrsg.), Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt 1995; Andreas Gestrich (Hrsg.), Gewalt im Krieg. Ausübung, Erfahrung und Verweigerung von Gewalt in Kriegen des 20. Jahrhunderts, Münster 1996.
5 Der zuerst 2001 veröffentlichte Aufsatz ist wiederabgedruckt in: Richard J. Evans, The Third Reich in History and Memory, London 2015, S. 59–84.
6 Wolfgang Knöbl, Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Amerika, Frankfurt 2007.
7 So auch Tim B. Müller / Adam Tooze (Hrsg.), Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2015.
8 Vgl. Geraldine Fagan, Believing in Russia. Religious Policy after Communism, London 2013; Emily B. Baran, Dissent on the Margins. How Jehovah’s Witnesses Defied Communism and Lived to Preach About It, Oxford 2014.

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