Cover
Titel
Die Cassirers. Unternehmer, Kunsthändler, Philosophen


Autor(en)
Bauschinger, Sigrid
Erschienen
München 2015: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Schellenberger, Dresden

Es herrscht wahrlich kein Mangel an historisch bedeutenden Familien in Deutschland und ebenso wenig an familienbiographischen Publikationen. Groß ist dabei die Spannbreite in Anspruch, Konzeption und stilistischer Umsetzung und keineswegs ist es so, dass nur eingefleischte Historiker essentielle Bücher dieser Art verfassen könnten, noch dass sich Faktenvermittlung, neue Einsichten und eine unterhaltende oder gar mitreißende Erzählweise nicht verbinden ließen. Vielleicht liegt ohnehin der größte Gewinn, den ein Historiker aus einem Sachbuch nichtzünftlerischer Herkunft ziehen kann, gerade im Fortfall fachwissenschaftlicher Termini und dem Einsatz von Emotionen anstatt der Ausbreitung methodischer Überlegungen. Die Neugier auf eine solche Familiengeschichte ist dann noch umso größer, wenn sie mit großen Namen und Einblicken in unterschiedliche Kultur- und Lebensbereichen lockt. Das tut ohne Zweifel das Vorhaben der Germanistin Sigrid Bauschinger, die sich der Geschichte der deutsch-jüdischen Familie Cassirer annimmt. Mit ihrem Buch ergänzt Bauschinger eine ganze Reihe vorhandener Studien und Publikationen zu einzelnen Cassirers, insbesondere zu den berühmtesten Vertretern dieser Familie, nämlich dem Philosophen Ernst Cassirer sowie den Kunsthändlern und Verlegern Paul und Bruno Cassirer. Sie selbst hat bereits den Briefwechsel zwischen Rainer Maria Rilke und der Literatin Eva Cassirer editiert und sich intensiv mit der Dichterin Else Lasker-Schüler beschäftigt, deren Werke von Paul Cassirer verlegt wurden. Mit ihrer „Geschichte einer Familie“ geht sie nun biographisch in die Breite und stellt die Familie von den Anfängen bis zur Generation der letzten vor 1933 in Deutschland geborenen Cassirers vor.

Die Erwartungshaltung gegenüber Bauschingers Buch ist demnach groß und wird noch durch das Wissen um das Vertreibungsschicksal der Familie verstärkt, liegt doch in einer solchen Erzählung immer noch eine besondere Herausforderung. Daher ist es leider umso enttäuschender, wenn keine der Erwartungen wirklich erfüllt wird. Vor allem scheitert das Buch an seiner wenig inspirierenden Erzählweise, die den Leser nie wirklich in den Bann zieht. Das heißt nicht, dass sich die Autorin in gewisser Weise nicht doch um die Sache verdient gemacht hätte. Allein das Vorhaben an sich und die intensive Quellenarbeit verdienen Anerkennung. Und es ging Bauschinger sicher auch nicht allein darum, die Erinnerung an die Familie und deren vielfältigen Errungenschaften wach zu halten (S. 415), sondern wie sie es im Vorwort schreibt, in die „Fülle des Materials“ einzutauchen, „an einzelnen Stellen in die Tiefe zu gehen“ (das bezieht sich fraglos auf einzelne Familienmitglieder) und Neues zu entdecken (S. 8). Doch liegt wohl gerade in diesem Ansatz die Krux des Vorhabens, denn es fehlt an einer These, einem erzählerischen Ausgangsmoment respektive einem erkenntnisleitenden Rahmen. Die vielen Fakten, Anekdoten und keineswegs fehlenden allgemeinhistorischen Betrachtungen finden leider nicht zu einer anregenden Erzählung zusammen.

Freilich versucht die Autorin mehr als nur eine Aneinanderreihung individualbiographischer Erzählungen, wie sich schon in der Gliederung zeigt. Diese folgt zwar vornehmlich, aber nicht allein der Chronologie. Den Auftakt bildet eine kurze Einleitung, die sich den schlesischen Ursprüngen der Familie zuwendet und mit Blick auf den wichtigsten Ort der Familiengeschichte bis 1933, Berlin, endet. Das erste Kapitel nimmt mit dem Unternehmer Max Cassirer die „Zentralfigur“ der ersten Berliner/Charlottenburger Generation der Familie in den Blick, um im folgenden Kapitel die „zweite Generation: Kunst und Wissenschaft“ vorzustellen. Hauptpersonen sind hier neben dem Musiker und Schriftsteller Fritz Cassirer vor allem Ernst, Paul und Bruno Cassirer. Bauschinger geht in diesem Teil auch auf einigen Seiten explizit dem Zusammenhang von Kunstförderung und -sammlung als einem Familienkennzeichen nach. Anschließend steht Edith Geheeb-Cassirer, die Frau des Gründers der Odenwaldschule Paul Geheeb, ganz im Mittelpunkt. Das vierte Kapitel nimmt sich der Frage von „Familie und Judentum“ an, im fünften Kapitel wird das Exilleben betrachtet, vor allem das von Ernst und Max Cassirer sowie das Leben von Edith Geheeb-Cassirer und ihre Bemühungen um die Ecole d’Humanité in der Schweiz als Nachfolgerin der Odenwaldschule. Auch die „dritte Generation“ wird vor allem mit drei Vertretern im Exil behandelt: dem Philosophen Werner Falk, dem Journalisten Henry Cassirer und dem Ingenieur und Kunstförderer Wilfred Cass. Das sechste Kapitel wendet sich jenseits der Chronologie explizit „drei Frauen“ zu, die durch Heirat in die Familie gelangten: zuerst der gefeierten Schauspielerin Tilla Durieux, der zweiten Ehefrau von Paul Cassirer, wegen der er sich 1926 das Leben nahm; dann der Schriftstellerin Eva Cassirer-Solmitz, eben die mit Rainer Marie Rilke korrespondierte und vor dem Zweiten Weltkrieg Lehrerin sowie danach Leiterin der Odenwaldschule war; und schließlich einer weiteren Schriftstellerin, Nadine Gordimer, die sich in ihrem Heimatland Südafrika entschieden gegen die Apartheitspolitik einsetzte. Eine abschließende Bilanz zu all diesen Lebensläufen und Betrachtungen fehlt dann, doch lässt sich der Beginn des Nachwortes als eine solche lesen: Nicht nur seien kaum mehr Spuren von den Cassirers in Deutschland zu finden, selbst die Idee und das Werk der Odenwaldschule habe die Nachwelt zerstört (S. 414).

Diese abschließende Bemerkung kennzeichnet das Buch insofern, als die vielen „Erfolgsgeschichten“ letztendlich als eine Verlustgeschichte vor allem für die deutsche Heimat der Cassirers gelesen werden muss. Bauschinger erliegt der Faszination dieser deutsch-jüdischen Familie, was nachvollziehbar ist, aber man vermisst dennoch eine kritische Distanz. Die Charakterisierungen der einzelnen Individuen bleiben daher immer blass. Selbst das ausführliche Porträt von Tilla Durieux (sie „lebte, spielte und schrieb dramatisch“, S. 327) bleibt zu dicht an den autobiographischen Stilisierungen der berühmten Schauspielerin. Zudem erzählt es wenig Neues über Paul Cassirer und trägt nicht zur Biographisierung der Familie Cassirer bei.

Bestimmt wird das Buch in Aufbau und Darstellung von einigen Grundintentionen, die im Laufe des Textes immer wieder zum Vorschein kommen. Da sind zum Ersten Fragen nach der Bedeutung der Familie für die Einzelmitglieder und der Basis auf der sich der Familienverband konstituierte. Was also „ist das spezifisch ‚Cassirerische‘“ (S. 224)? Bauschinger findet die Antwort darauf in der ausgesprochen „Bürgerlichkeit“ der Familie, ja diese begründe überdies den Aufstieg der bedeutenden Familienpersönlichkeiten (in der Regel „waren gerade die erfolgreichsten Cassirers zugleich die bürgerlichsten“, S. 226). Hinzu kam ein markantes „Bewusstsein der Zusammengehörigkeit“ (ebd.), das durch Familienfeste und -treffen, Korrespondenzen und wohltätige Einrichtungen wie die 1890 gegründete Familienstiftung gepflegt wurde, und eine fast adelsstolze Selbstwahrnehmung. Dieses Ergebnis überrascht zwar nicht, es bestätigt aber grundlegende Befunde der Bürgertumsforschung. Ebenso verhält es sich mit einer zweiten Grundintention der Autorin, der Suche nach dem ‚spezifischen Judentum‘ der Familie, wie es vor allem im Kaiserreich am ehesten zu fassen ist. Bauschingers Antwort ist die Skizze einer Familie, die sich weitestgehend zu ihren jüdischen Wurzeln bekannte und von einigen Ausnahmen abgesehen die Taufe ablehnte, aber auch nicht religiös lebte. Die ehelichen Verbindungen blieben noch stark auf den familiären bzw. jüdischen Kontaktraum konzentriert, während sich die Verkehrskreise keineswegs mehr auf das jüdische Milieu beschränkten. Die Cassirers können damit als ein Paradebeispiel einer (groß-)bürgerlich deutsch-jüdischen Familie gelten. Durch die sehr gut nachvollziehbare Charakterisierung der Familie geht gleichwohl das spezifisch „Cassirerische“ ganz im Allgemeinen auf. Doch genau bei einer solchen Erkenntnis muss man nicht stehen bleiben, vielmehr gilt es, das ohne Frage noch große Forschungspotential offenzulegen. Das Bemerkenswerte an dieser Familie ist mit der Erkenntnis einer exponierten Bürgerlichkeit oder einer mehr oder weniger zufälligen Ballung individueller Talente sicher nicht zu erfassen. Um auf die Spur des tatsächlich „Cassirerischen“ zu kommen, bedarf es mindestens vergleichender Betrachtungen, für die das Buch Bauschingers nun allerdings eine Grundlage bietet.

Eine weitere Grundintention der Autorin ist es, die Familiengeschichte nicht als eine männliche Geschichte zu erzählen. Die Cassirer-Frauen, ob eingeboren oder angeheiratet, bekommen zu Recht viel Raum, und es ist ganz nachvollziehbar, dass nicht anders als bei den männlichen Mitgliedern vor allem deren Prominenz über den jeweiligen erzählerischen Umfang mitbestimmt, ist dies doch auch eine Frage von Quellenumfang und Forschungsstand. Dabei fällt auf, dass Bauschinger nicht nur an den intellektuellen, künstlerischen und pädagogischen Leistungen weiblicher Familienmitglieder großes Interesse hat, sondern sie nicht minder an den Kontakten interessiert ist, den diese zu anderen Größen der Zeit pflegten (neben Eva Cassirer-Solmnitz etwa Edith Geheeb-Cassirer zu Indira Gandhi); vergleichbares ließe sich auch zu den Cassirer-Männern sagen. Das alles zeigt den großen kulturellen Kosmos, in den man die Familie Cassirer vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einordnen muss und zu dessen Ordnung sie Wesentliches beitrug. Gleichwohl macht Bauschinger auch in dieser Frage viel zu wenig deutlich, was all das für die Familie zu bedeuten hatte. Ohne gleich eine gendergeschichtliche Methodik einfordern zu wollen, hätte man doch gern etwas mehr über den weiblichen Einfluss auf die Cassirerische Männerwelt erfahren. Und so lässt Bauschingers Buch viele spannende Fragen offen. Aber vielleicht liegt gerade darin die versteckte Stärke dieses Buches. Es ist nicht die Bilanz einer Familienhistorie, sondern eine Fundgrube, wenn nicht gar die Grundlage für einen neuen Blick auf die Biographie der Familie Cassirer.