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Titel
Bürger und Juden. Die Familie Wyler-Bloch in Zürich 1880–1954. Biografie als Erinnerungsraum


Autor(en)
Keller, Erich
Reihe
Veröffentlichungen des Archivs für Zeitgeschichte der ETH Zürich 9
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
386 S.
Preis
€ 43,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Katharina Prager, Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie / Wienbibliothek im Rathaus, Wien

Unter dem Titel „Bürger und Juden“ ist Erich Keller eine reich kontextualisierte und sehr lesenswerte Studie zur Positionierung von Schweizer Juden im städtischen Bürgertum Zürichs gelungen, die etwa neue Perspektiven auf die Bedeutung der „geistigen Landesverteidigung“ und die Rolle der jüdischen Kultusgemeinde in der Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg eröffnet. Besonders Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker mit Schwerpunkt jüdische Geschichte werden dieses Buch mit großem Gewinn rezipieren.

Erich Keller legt eine „Familienbiografie“ vor, die „zum grössten Teil auf dem Archiv der Familie Wyler-Bloch“ (S. 11) basiert, und eröffnet dabei ein spannendes kulturgeschichtliches Panorama um „Bürger und Juden“ in der Schweiz zwischen 1880 und 1954. Besonders der historische Kontext wurde detailreich und klar ausgearbeitet und mit vielen unbekannten Quellen des Familienarchivs schlüssig in Verbindung gesetzt. So eröffnete der „verzögerte Eintritt“ der Schweizer Jüdinnen und Juden in die „bürgerliche, liberale, nationalstaatlich verfasste Moderne“ ein Spannungsfeld: „Kein anderes europäisches Land hat die jüdische Minderheit so spät emanzipiert – allerdings wurde die Gleichstellung auch in keinem anderen Land durch direktdemokratische Voten herbeigeführt.“ (S. 16) Die Ambivalenzen dieses Spannungsfeldes – in dem Antisemitismus nie zu einem „umfassenden kulturellen Code“ wurde, in dem aber aus Furcht vor „Überfremdung“ deutsche Rassenpolitik zur Grundlage für schweizerisches Recht werden konnte – prägten Selbstentwürfe jüdischer Männer und Frauen in der Schweiz. In Kellers Buch stehen drei jüdische Schweizer und eine Schweizerin als „Hauptfiguren“ (S. 14) im Zentrum und werden unter anderem nach konfessionellen, sozialen und politischen Kategorien analysiert. Es handelt sich um den Tuchhändler Joseph Wyler (1860–1952), den Wirtschaftsanwalt Martin Bloch (1874–1964), die „Zionistin“ Trudy Wyler (1906–1982) und den Anwalt Hugo Wyler (1896–1990), der später auch Honorarkonsul von Monaco wurde.

Gerade in der Person Martin Blochs werden die Möglichkeiten und Probleme von Praktiken der Integration sehr anschaulich. Blochs ökonomischer Erfolg ermöglichte ihm den Eintritt ins bürgerliche Zürich, in dessen eng geknüpfte Netzwerke und Vereine. Teilhabe an der lokalen Politik konnte er als Kandidat der „freisinnigen Partei“ jedoch nicht erreichen und machte stattdessen Karriere in den Gremien der Israelitischen Cultusgemeinde Zürichs, deren Präsident er drei Jahre lang war. (Elitäre) Abgrenzungen nicht nur gegenüber „Ostjuden“ und Zionisten, sondern aufgrund seiner „patriotischen Überzeugungen“ (S. 157) schließlich auch gegenüber geflüchteten Kollegen aus dem nationalsozialistischen Deutschland führten schließlich zur Distanzierung Blochs von der jüdischen Gemeinde um 1933.

Der plastischen und gelungenen Darstellung, wie Blochs Identitätsentwürfe immer wieder miteinander in Konflikt geraten, steht eine eher schemenhafte Analyse Joseph Wylers gegenüber. Erich Keller weist gleich zu Beginn die „ungleiche Quellendichte“ als Grund für diese „biografische Asymmetrie“ aus (S. 57). Martin Wyler und Joseph Bloch verkörpern für Keller die sogenannte „Generation 1900“ – jüdische Schweizer, die zwischen 1890 und 1920 beachtliche gesellschaftliche Positionen erreichten, die aber in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg kontinuierlich an Bedeutung verloren (S. 26). In Kellers Verständnis von „Generationalität“ formen Altersklassen Erinnerungsgemeinschaften. Es irritiert, dass er dabei auf den Soziologen Karl Mannheim verweist, für den eine Generation keineswegs homogen war, sondern auf eine gemeinsame Erfahrung verschieden reagierte und damit immer progressive und reaktionäre Akteure zugleich beinhaltete. Generationenzugehörigkeit kann damit – abseits des Alters – auch als Spannung gedacht werden zwischen jenen, die Änderungen durchführen wollen, und jenen, die sich für den Erhalt der Tradition einsetzen.1 In diesem Sinn steht Blochs Schwiegersohn Hugo Wyler eigentlich nicht wirklich für eine „nächste Generation“, da er die Intergrationspraktiken seines Schwiegervaters unter veränderten Umständen fortsetzte.

Progressiv erscheint dagegen Gertrud „Trudy“ Wyler, die sich schon früh in der „Women’s International Zionist Organization“ engagierte – ohne aber die Grenzen ihrer bürgerlich-konservativen Welt zu sprengen. Wiederum liegen hier offenbar weniger Quellen vor als für ihren Vater und ihren Ehemann, doch gerade im Fall von Trudy Wyler – und auch anderer Frauen der Familie wie Betty Wyler-Guggenheim – wäre es im Sinne der Balance einer Familienbiografie doch wichtig gewesen, eine ausführlichere Behandlungsform zu finden, um etwa dem treffend analysierten „patrilinearen Prinzip“ geneaologischer Praxis entgegenzuwirken (S. 47ff.).

Dieses Ungleichgewicht führt zu Darstellungsform und Methodik. Erich Keller spricht von seiner Arbeit als „Familienbiografie“ und sieht dabei „Biografie als Erinnerungsraum“. Biografische Thematisierungen finden in der Geschichtswissenschaft gegenwärtig wieder mehr Beachtung2, doch es fällt nach wie vor schwer, die Biografie als „male hegemonic project“ hinter sich zu lassen.3 Erich Kellers einleitende theoretische Überlegungen machen deutlich, dass er sich mit der neueren Biografieforschung befasst hat4, aber von der „von politischen und gesellschaftlichen Realitäten abgekoppelten Theoretisierung der Biografik“ wenig hält. Ihm geht es um „kritisch und methodisch individuell abgestimmt[e]“ Umsetzung; darum, passende „Darstellungenformen zu erproben“ (S. 30). In seiner Darstellungsform überlagern sich – methodisch „prinzipiell offen“ und einer „historisch-anthropologischen Nahsicht“ verpflichtet (S. 14) – drei „Blickwinkel“: Das biografische Narrativ, theoriedurchlässige Kontextualisierung und die Funktion des Archivs als Erinnerungsraum. Keller weist damit die formenden Prinzipien seiner wissenschaftlichen Biografie der Züricher Familie Wyler-Bloch zwar aus, erläutert aber nicht, wie sie sich strukturell und inhaltlich abbilden. Methodische Offenheit wiederum ist für die wissenschaftliche Biografie, die noch immer gegen den Vorwurf arbeitet, eine „Mode ohne Methode“ zu sein, eine ambivalente Sache. Methodenvielfalt wird durchaus als Potential neuer wissenschaftlicher Biografik betrachtet, doch Wahl und Ausweis angemessener Methoden sind inzwischen ebenso wesentliche Voraussetzungen wie bei anderen Darstellungsformen.5 Möglicherweise sind diese zu kurz ausgefallenen Ausführungen zu den methodischen Aspekten auch der Ausrichtung des ursprünglich als Dissertation vorliegenden Buchs an ein breiteres Publikum geschuldet, denn jedenfalls implizit hat Keller einen spannenden methodischen Zugriff: Er begreift in seiner Arbeit (mit Maurice Halbwachs, Pierre Nora, Aleida Assmann und Astrid Erll) Archiv und Biografie als differenzierte Erinnerungsräume und stellt die Subjektivierungsprozesse seiner Akteure in Zusammenhang mit ihrer Erinnerungspraxis.

Die Darstellungsform bleibt allerdings, mit einigen elliptischen Bewegungen, vorwiegend traditionell chronologisch und kommt nur punktuell auf familiäre Archivierungs- und Erinnerungspraxis (Fotografien, Stammbaum, „Familienfilm“, autobiografische Texte etc.) zurück. Eine bemerkenswerte Ausnahme bilden die sogenannten „Heterotopien“ – Orte, die Räume zusammenbringen, die eigentlich unvereinbar sind und Diskontinuitäten aufweisen (S. 31), wie der Züricher Paradeplatz als Ort bürgerlicher Distinguiertheit und der Wyler-Blochschen Hochzeit sowie des Protests. Sie fallen als Punkte auf, an denen die Verbindung von Biografie und Erinnerungsraum aufgeht. In ähnlicher Weise hätte möglicherweise auch das zentrale Familienarchiv viel stärker einbezogen werden können, um jüdische und schweizerische Erinnerungsräume auszuloten.6 Gerade an den Stellen, wo er dies tut, gelingt es Keller nämlich, auch Geschlechterverhältnisse und -hierarchien zu thematisieren, die das biografische Narrativ ansonsten – ähnlich wie die genealogische Praxis – überschreibt.

Sehr interessant ist Kellers Ansatz, dass „literarische Verfremdungsmomente“ (S. 31) wie Beschreibungen von Fotografien, die Darstellung der „Innenseite menschlicher Subjektivität“ (S. 14) sowie wiederholte Bezugnahmen auf „prominente“ Zeitgenossen (Max Frisch, Walter Benjamin etc.) den Konstruktionscharakter der Familienbiografie nicht kaschieren, sondern deutlich machen sollen. Grundsätzlich ist das eine gute Idee, die vielleicht noch gestärkt würde, wenn der Autor solche Passagen durch Einbeziehung der eigenen Position – auch das eine selten umgesetzte Forderung der aktuellen wissenschaftlichen Biografieforschung – klar auswiese, wie das Dieter Kühn in seinen biografischen Arbeiten immer wieder tut.7

In seiner Synopsis resümiert Erich Keller, dass für ihn letztlich die „Selbstentwürfe zweier jüdischer Männer und ihrer Familien“ beschreibbar wurden – Männer, „die erst mit ihrer Teilhabe an der städtischen Moderne überhaupt sichtbar geworden waren“ (S. 313). Ihre Subjektivierungsprozesse werden in seiner „Kulturgeschichte des Sozialen“ tatsächlich in vorbildhafter Weise nachvollzogen. Erich Keller bietet damit auch biografietheoretisch anregende Ansätze, die Modellcharakter haben könnten, wären sie im Zusammenspiel von Form und Methodik und auch für die weiblichen Familienmitglieder noch deutlicher präsent.

Anmerkungen
1 Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, Köln 1928; Lutz Niethammer, Die letzte Gemeinschaft. Über die Konstruierbarkeit von Generationen und ihre Grenzen. Vortrag bei der Eröffnungsveranstaltung des Göttinger Graduiertenkollegs „Generationengeschichte – Generationelle Dynamik und historischer Wandel im 19. und 20. Jahrhundert” am 11.11.2005, <http://www.generationengeschichte.uni-goettingen.de/alt/niethammer.pdf> (22.04.2016); David Scott, The Temporality of Generations: Dialogue, Tradition, Criticism, in: New Literary History 45,2 (2014), S. 157–181.
2 Johanna Gehmacher, Leben schreiben. Stichworte zur biographischen Thematisierung als historiographisches Format, in: Lucile Dreidemy u.a. (Hrsg.), Bananen, Cola, Zeitgeschichte. Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert, Bd. 2, Wien 2015, S. 1013–1026; Thomas Etzemüller, Biographien: Lesen – erforschen – erzählen, Frankfurt am Main 2012.
3 Günter Bischof, Preface, in: Günter Bischof / Fritz Plasser / Eva Maltschnig (Hrsg.), Austrian Lives, Innsbruck 2012, S. IX–XVII, IX–X; Angelika Schaser, Bedeutende Männer und wahre Frauen. Biographien in der Geschichtswissenschaft, in: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 6 (= Biographisches Erzählen), Stuttgart und Weimar 2001, S. 137–152.
4 Christian Klein (Hrsg.), Handbuch Biographik. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009; Bernhard Fetz und Hannes Schweiger (Hrsg.), Die Biographie. Zur Grundlegung ihrer Theorie, New York 2009.
5 Wie experimentell das Bemühen um die zu (er)findende biographische Form sein darf, zeigte kürzlich eine britische Historikerin – vgl. Ruth Scurr, John Aubrey. My Own Life, London 2015.
6 Sehr klar wurde das Zusammenspiel von Archiv, Erinnerung und Biografie durchdacht und angewandt in: Johanna Gehmacher / Monika Bernold, Auto/Biographie und Frauenfrage. Tagebücher, Briefwechsel, Politische Schriften von Mathilde Hanzel-Hübner (1884–1970), Wien 2003.
7 Vgl. u.a. Dieter Kühn, Ich Wolkenstein. Eine Biographie, Frankfurt am Main 1977, oder Dieter Kühn, Schillers Schreibtisch in Buchenwald. Bericht, Frankfurt am Main 2005.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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