M. Santi: Musik und Nationalitätsbildung in Triest

Cover
Titel
Zwischen den Kulturen. Musik und Nationalitätsbildung in Triest


Autor(en)
Santi, Matej
Reihe
Musikkontext 9
Anzahl Seiten
230 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Leon Stefanija, Oddelek za muzikologijo, Filozofska fakulteta, Univerza v Ljubljani

Je mehr man über verschiedene Kulturen spricht, desto mehr über ihre wechselseitige Differenzen, Dynamiken und Ambivalenzen, wobei man nicht über eine Verschiedenheit sprechen soll. Das ist dem Autor dieses Buches, dem Triester Matej Santi, wohl bekannt. Sein Denkgang fokussiert klar die Komplexität der Musikkultur, was mit der von ihm im Schlusskapitel „Fazit“ hervorgehobenen Ambivalenz der Multikulturalität korrespondiert:

„Somit stellte der (Triestiner Schiller-)Verein die Allegorie der Vielvölkermonarchie selbst dar, die aufgrund ihrer multikulturellen Konstitution den aufflammenden Nationalismen nicht mehr gewachsen war: zwar war es seine Intention, eine kulturelle Öffnung zu demonstrieren, die sich vor allem in der Miteinbeziehung von Interpreten und Gästen verschiedener Nationalitäten äußerte, dennoch wurde der Pflege von ‚Schätzen des deutschen Geistes und Gemüthes‘ eine programmatische Bedeutung zugewiesen.“ (S. 206)

Der deutsche Schiller-Verein, das italienische Teatro Communale und die slowenische Narodni dom waren drei historische Phänomene in Triest, die zwischen 1948 und 1920 als Räume der nationalkulturellen Verflechtungen fungierten. Der Autor analysiert diese Institutionen aus der Perspektive der „Bedeutung und Funktion der Musik innerhalb einer sozialen Konstellation“ (S. 11), das heißt als drei soziale Konstellationen der ökonomisch blühenden Umgebung, die als „Mikrokosmos, ein Knotenpunkt zwischen drei Kulturen“, als eine Foucaultsche „‚Heterotopie‘, ein Ort des Anderen“ (S. 12), gesehen sind, der immer wieder der „Überlegung bezüglich eines ‚Dritten Raumes‘“ nahekommt, in welchem sich jede Kultur „weiterentwickelt, wenngleich nicht unabhängig voneinander“ (S. 13). Methodologisch ist das durchlässige Konzept der Heterotopie Foucaults an die dreiteilige Differenzierung des Raumes von Henri Lefebvres angelehnt und wird durch die Historisierung des Raums bei Edward Soja verstärkt.

Die Geschichte der drei Institutionen sind plastisch durch primäre und sekundäre Quellen parallel dargestellt mit der Absicht, eine Konstruktion des Triester kulturellen Lebens und der Identität (S. 16) aus verschiedenen Blickpunkten anzubieten. Die drei Geschichten beginnen nach einer Reflexion über die Konzepte der Nation und einem Porträt des Raums von Triest, wobei es dem Autor gelingt, die kulturelle, ökonomische und politische Physiognomie der viertgrößten Stadt der Habsburgermonarchie überzeugend einzuführen. Die Vormachtstellungen – die kulturelle, politische und ökonomische gleich wie die persönliche und pragmatische – sind aus jedem Beispiel erkennbar. Macht und der Einfluss jeder analysierten Institution sind triftig dargelegt und dabei bietet sich ein Wechsel der geschichtlichen Blickwinkel an, der die nationalen Friktionen nicht nur für die gegebene Zeitspanne ausführt, sondern auch als lebendiges Faktum andeutet – wichtig für das Verständnis der Triester Gegenwart.

Wie die beiden anderen kulturellen Räume wird das Teatro Verdi in „Trieste musicalissima“ als eine Verräumlichung der „Italianità“ und als Kulturträger der heute „heimischen“ Identität apostrophiert – und zugleich dekonstruiert durch eine informationsreiche Zergliederung von deren konstitutiven Teilen, die eine Bewegungsbahn von kulturellen Codierungen und Umcodierungen der nationalen Identität seitens der Italiener und Slowenen vor dem Hintergrund eines lange ausklingenden Zeitraums der deutschen Dominanz nachweisen. Die am besten gelungenen Passagen scheinen jene zu sein, die die Situation der Jahrhundertwende untersuchen, als die nationalen Ideale und Spitzfindigkeiten immer schneller auf- und gegeneinander prallten (wie jene zwischen Italienern und Slowenen) oder öffentlich immer unerkennbarer wurden (wie die deutschen kulturellen Bestrebungen). Das Kapitel „Triest und Giuseppe Verdi: Stationen einer Mythopoiesis“ (S. 95–109) kann als ein Thema angesehen werden, das zu den zentralen Denkmodellen der Kultur des „kurzen 20. Jahrhunderts“ gehört, in situ aber die Mythopoiesis-Analyse von Verdi aufdeckt, die auf interessante Art das ideologische Zentrum der nationalistischen Logik bildet, die um 1900 jene Gespenster festigte, die das Alltags- und Kulturleben der ländlichen Bevölkerung beherrschten bis zu dem Punkt im Sommer 1920, an dem das slowenische Narodni dom in Brand gesteckt wurde.

Santis Beschreibungen des Repertoires sind keine ausführlichen Analysen der Programmpolitik und Rezeption der Veranstaltungen der einbezogenen Institutionen. Die Musik – markante Namen und Geschehnisse der Zeit (wie z.B. die Besuche von Niccolò Paganini und Franz Liszt in Triest), Genres (Opern, Konzerte, Chormusik usw.) und musikalische Werke – ist in ein buntes Netz kultureller Prozesse verkettet: die pointierten Beziehungen zwischen verschiedenen geschichtlichen Quellen, die mit einer musikalischen Flexibilität zusammengesetzt sind, bieten ein kulturgeschichtliches Kaleidoskop von Triest, in welchem die Grenzen zwischen den drei Triestiner Ethnien immer wieder als Verzweigungen der einerseits kulturell, besonders auch musikalisch hochempfindsamen, aber andererseits auch fast unkultivierten pragmatischen nationalistischen Folklore hervortreten. Eine musikkulturelle Trigonometrie entfaltet sich, die ein Zusammenspiel des historischen Wollens und des alltäglichen Pragmatismus den nüchternen Kommentaren des Autors gegenüberstellt. Aus diesem Zusammenspiel der verschiedenen narrativen Ebenen treten dieselben musikalischen und kulturellen Facetten der Triestiner Kultur hervor, die aus manchen essayistischen Zeilen etwa von Karl-Markus Gauß oder Milan Kundera herausklingen.

Matei Santi ist es nicht nur gelungen, ein Kulturbild Triests zu schreiben, das er als ein „konkretes Fallbeispiel“ des „zeitgenössischen dekonstruktivistischen theoretischen Diskurses“ (S. 211) versteht. Er hat zum ersten Mal einen heiklen geschichtlichen Vergleich der Triestiner Ethnien anhand der Musik geschaffen, in welchem man den Wald, aber auch die einzelnen Bäumen der „invention of tradition“, so spezifisch für Triest, leicht sehen kann. Obwohl man anmerken könnte, dass der Titel nicht ganz geglückt ist – das Buch recherchiert drei nationale Musikkulturen in Triest in einem genau festgelegten Zeitraum –, sind gerade seine Exkurse zur Zeit des 18. und 21. Jahrhunderts jene, die dem Buch seinen Reiz verleihen. Das Buch ist nicht nur als ein origineller kulturwissenschaftlicher Beitrag über Triests Musikkultur zu begrüßen, sondern auch als eine Lektüre über die (natürlich auch heute) lebendigen Prozesse der Identitätsbildung in komplexen urbanen Räumen. Und es ist auch hinzuzufügen, dass die Studie Santis das einzige mir bekannte Buch ist, das den drei ethnischen Kulturen Triests und ihren Musikpraktiken mit einer ethisch eingestellten Sprach- und Kulturkenntnis begegnet, das aber dennoch unübersehbar intim und tief in der empirischen Überlieferung dieser Grenz-, Hafen- und Kulturstadt verwurzelt ist.

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