L. Jockusch u.a. (Hrsg.): Jewish Honor Courts

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Titel
Jewish Honor Courts. Revenge, Retribution, and Reconciliation in Europe and Israel after the Holocaust


Herausgeber
Jockusch, Laura; Finder, Gabriel N.
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 387 S.
Preis
€ 36,36
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anselm Meyer, Edition Judenverfolgung, Institut für Zeitgeschichte, Abteilung Berlin

In dem von Laura Jokusch und Gabriel N. Finder 2015 herausgegeben Sammelband sind 12 Aufsätze versammelt, die sich mit den jüdischen Ehr- bzw. Schwurgerichten beschäftigen, die nach 1945 in vielen europäischen Ländern eingerichtet wurden. Vor den von den jeweiligen jüdischen Gemeinden eingesetzten Juroren sowie vor israelischen Gerichten wurde in der Nachkriegszeit gegen der Kollaboration beschuldigte Jüdinnen und Juden verhandelt. Die hier versammelten Aufsätze liefern durch die Darstellung partikular-jüdischer juristischer Aufarbeitung nach der Shoah einen ersten wichtigen Schritt zur Schließung eines Forschungsdesiderats.

Einleitend arbeiten Laura Jokusch und Gabriel N. Finder einige Konstanten heraus, die in den meisten der untersuchten Fälle auftreten. Zunächst bestand nach 1945 in den Gemeinschaften überlebender Juden ein großes Bedürfnis, Kollaborateure bzw. Juden, die in den Jahren der Verfolgung sogenanntes „fragwürdiges Verhalten“ an den Tag gelegt hatten, zu bestrafen und aus der Gemeinschaft auszuschließen, um sich so in den engen Grenzen, in denen dies den Überlebenden möglich war, an der Verfolgung von Mittätern der Shoah zu beteiligen. Die Ehrengerichte sollten dieses Bedürfnis institutionalisieren und damit Selbstjustiz verhindern.

David Engel zeigt auf, dass es in allen europäischen Staaten, die von den Nationalsozialisten unterworfen wurden, ein gesellschaftliches Bedürfnis gab, Kollaborateure zu bestrafen; so auch unter den Juden. Doch warum beschuldigten Juden andere Juden in den Jahren der Verfolgung schlimmer als die Deutschen gehandelt zu haben? Engel beantwortet diese Frage mit den bereits erwähnten Bedürfnissen der jüdischen Gemeinden nach Kriegsende. Darüber hinaus bringt er die Rekonstitution jüdischer Gemeinschaftlichkeit unter Berufung auf Aspekte der Rechtsphilosophie Immanuel Kants auf den Begriff: Gemeinschaftliches Leben drückt sich auch in der Pflicht aus, dass diejenigen, die sich in ihrem Handeln gegen die Gemeinschaft gewandt haben, bestraft werden müssen.

Laura Jokusch befasst sich in „Rehabilitating the Past? Jewish Honour Courts in Allied-Occupied Germany“ mit den Ehrengerichten in Deutschland, die vor allem in DP-Camps zusammentraten. Sie zeigt anhand repräsentativ ausgewählter Fälle auf, dass es in den meisten Fällen schwierig war, genügend glaubhafte Zeugenaussagen zu sammeln. Häufig fiel es den Gerichten deswegen schwer, die Angeklagten zu verurteilen, denn grundsätzlich galt, dass Juden, die der Kollaboration beschuldigt waren, eine besondere böswillige Absicht nachgewiesen werden musste, da man davon ausging, dass die meisten Kollaborierenden dies unter Zwang und zur Rettung des eigenen Lebens taten.

Ido De Haan untersucht den besonderen Fall der Niederlande, wo das gesellschaftliche Bedürfnis nach einer politischen Reinigung nach Ende der deutschen Besatzung besonders groß war. Die jüdische Gemeinde schloss sich dieser Tendenz an, wiewohl dies mit dem Risiko verbunden war, dass Selbstanklagen innerhalb der größten Opfergruppe zur Selbstentlastung in breiten Kreisen der niederländischen Gesellschaft führen hätte können. Warum es im Gegensatz dazu in Belgien keine Ehrengerichte gab, erklären Veerle Vanden Daelen und Nico Wouters: Da es in Belgien vor der Shoah kaum genuin belgische Juden gab, sondern die meisten Emigranten aus Nachbarstaaten waren, kehrten nach Kriegsende kaum Juden nach Belgien zurück und so gab es dort auch keine Ehrengerichte.

Helga Embacher zeigt anhand der Situation in Österreich auf, dass die Ehrengerichte auch Schauplatz innerjüdischer Konflikte waren. So zum Beispiel in Wien, wo der Konflikt um die Führung der Israelitischen Kultusgemeinde sich auf die Frage nach den durch ein Ehrengericht anzuklagenden Juden auswirkte.

Katarzyna Person geht in ihrem Beitrag „Jews Accusing Jews“ der Frage der Beschuldigung der Verdächtigen nach: Die meisten Ehrgerichtsprozesse kamen dadurch zustande, dass einzelne oder mehrere Personen Anschuldigungen erhoben bzw. bestimmte Personen denunzierten. Die Autorin untersucht anhand einiger Fallbeispiele aus Polen die Dynamik zwischen Denunzierenden, der jüdischen Gemeinde und den Denunzierten. Der zweite Herausgeber, Gabriel N. Finder, beschäftigt sich in seinem Aufsatz „Judenrat on Trial“ ebenfalls mit den Judenräten in Polen.

Unter Gender-Aspekten analysiert Ewa Kozminska-Frejlak die polnischen Ehrengerichte und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass Frauen häufig nur deshalb angeklagt wurden, weil sie mit einem angeklagten bzw. angeblichen Kollaborateur liiert gewesen waren. Darüber hinaus untersucht Kozminska-Frejlak die Frage der Ausbeutung des weiblichen Körpers in den Jahren der Verfolgung und Vernichtung, sei es durch Vergewaltigungen oder durch Prostitution.

Das dritte und letzte thematische Segment ist der Rechtsprechung über der Kollaboration angeklagte Juden im jungen Staat Israel gewidmet. Gali Drucker Bar-Am untersucht, wie der vorliegende Themenkomplex in der frühen israelischen hebräisch-jiddischen Belletristik und Poesie verarbeitet wurde. Sie zeigt, dass die frühe literarische Auseinandersetzung mit der Kollaboration in Israel eine Teil der Debatte um jüdisch-israelische Identität war, in der nichts anderes als das Verhältnis von Diaspora und ,neuem Judentum‘, von Kollaborateur und Ghettokämpfer, diskutiert wurde.

Dan Porat beschäftigt sich mit der historischen Entwicklung der rechtlichen Möglichkeiten, innerhalb Israels Kollaboration justiziabel zu machen, ging es doch darum, dass über Taten bzw. Anschuldigungen geurteilt wurde, die außerhalb bzw. vor der Existenz israelischer Rechtshoheit begangen worden waren. Der letzte Beitrag ist ein Aufsatz von Rivka Brot, der sich zwar mit den israelischen Kollaborationsverfahren beschäftigt, dabei aber ein grundlegendes Problem der Rechtsprechung in Fällen wie den hier versammelten anspricht. Ihr geht es um die grey zones in der Beurteilung von so genanntem „fragwürdigen Verhalten“ von Juden unter Bedingungen, in denen moralisch richtiges Handeln aufs engste mit dem eigenen Überleben verknüpft war. Der binäre Charakter der bürgerlichen Rechtsprechung kann hier kaum die historischen Umstände einfangen, die zur Bewertung aber herangezogen werden müssen; dies geschah auch, was sich in der Regel zugunsten der Angeklagten auswirkte.

Das hier besprochene Sammelwerk ist ein sehr wertvoller Beitrag zu einer Diskussion, die in der Vergangenheit bereits zu hitzigen Debatten geführt hat, was bei der Thematik nicht verwundern kann. Zu erwähnen wäre hier die Auseinandersetzung um Raul Hilbergs Bewertung der Rolle und Funktion der Judenräte (die er selbst später revidierte) oder der Streit, der sich an Hannah Arendts Buch über Eichmann entzündete, gegen das vor allem Gershom Scholem Einspruch einlegte. Zuletzt ist die Diskussion um die Bewertung der Judenräte noch einmal an Claude Lanzmanns Film „Der letzte der Ungerechten“ über Benjamin Murmelstein aufgeflammt. Die Fälle, die in den Beiträgen des vorliegenden Bandes dargestellt und kontextualisiert werden, sind weniger prominent. Vielmehr wird anhand von bisher unbekannten Einzelschicksalen und den jeweiligen Verhandlungen vor den Ehrengerichten deutlich, wie schwierig es aus zeitgenössischer Sicht war, Kollaboration als strafwürdig zu erachten: Genuine Grausamkeit oder Motive der persönlichen Bereicherung konnten kaum je nachgewiesen werden, galten aber als anzulegender Maßstab.

Der vorliegende Band ist ein wichtiger Beitrag zum Bereich der juristischen Aufarbeitung der Shoah. Zugleich beleuchtet er die partikular-jüdischen Perspektive auf die Rolle von Juden in der Vernichtung der Juden, ist die Shoah doch auch deswegen einzigartig, als in ihrem Ablauf Teile der Opfergruppe aktiv in die eigene Ermordung einbezogen wurden.

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