S. Förster (Hrsg.): Vor dem Sprung ins Dunkle

Cover
Titel
Vor dem Sprung ins Dunkle. Die militärische Debatte über den Krieg der Zukunft 1880–1914


Herausgeber
Förster, Stig
Reihe
Krieg in der Geschichte 92
Erschienen
Paderborn 2016: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
406 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Holger Afflerbach, School of History, University of Leeds

Stig Förster hat 1994 die deutsche Öffentlichkeit mit der These überrascht, dass der deutsche Generalstab im späten Kaiserreich gewusst habe, er werde den nächsten Krieg verlieren1, und trotzdem habe er aus einer Reihe von Gründen, aus Sozialkonservatismus und zur Erhaltung der überhöhten sozialen Stellung des Militärs in Deutschland, auf den Konflikt hingearbeitet. Nun hat Förster von drei erstklassigen Fachleuten die militärischen Fachzeitschriften aus der Zeit von 1880 bis zum Kriegsausbruch 1914 auswerten lassen unter der Fragestellung, was sie für ein Kriegsbild hatten und wie sie sich den nächsten Krieg vorstellten. Dabei wurden die deutschen Zeitschriften (wie zum Beispiel das Militär-Wochenblatt, die Deutsche Heeres-Zeitung, die Deutsche Revue, die Kavalleristischen Monatshefte, die Kriegstechnische Zeitschrift, die Marine-Rundschau, et cetera) von Markus Pöhlmann, die französischen Zeitschriften von Adrian Wettstein und die britischen von Andreas Rose selektiv ausgewertet.

Förster schreibt in der Einleitung, die ursprünglich noch geplanten Untersuchungen der österreichisch-ungarischen und russischen Militärzeitschriften seien leider nicht zustande gekommen (S. 12f.). Das ist natürlich sehr bedauerlich, diese Beiträge hätten dem Band zusätzliches Gewicht gegeben und vielleicht sogar inhaltliche Überraschungen bereitgehalten. Doch auch so handelt es um eine sehr informative Untersuchung.

Das Kriegsbild aus einer Vielzahl von Fachzeitschriften zu ermitteln, ist eine komplexe Aufgabe, da die Quellen keine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Kriegsbild geben. Es kam den Militärexperten darauf an, die Bedeutung der einzelnen Waffengattungen in einem Zukunftskrieg zu evaluieren. Die Aufsätze befassten sich mit der zukünftigen Bedeutung und Taktik der Waffengattungen, wie Infanterie oder Artillerie. Manchmal entstanden auch Debatten, wie zum Beispiel über die beste Bewaffnung und Gefechtstaktik der Kavallerie. Anhaltend wurde über den Wert der Kavallerie in einem künftigen Krieg diskutiert und es wurden schwere und sehr gut fundierte Zweifel über den künftigen Stellenwert dieser traditionellen Waffengattung geäußert. Die Militärexperten untersuchten auch die Rolle neuer Waffen wie Flugzeuge, Motorfahrzeuge, Schlachtschiffe, Unterseeboote und andere Kriegsschifftypen und spekulierten über ihre Bedeutung in künftigen Auseinandersetzungen.

Beim Lesen der Beiträge dieses Bandes wird sehr schnell deutlich, dass die für militärische Fachleute geschriebenen Beiträge meist Detailprobleme der militärischen Entwicklung behandelten, aber kein strategisches Panorama entrollten. Die Autoren waren meistens Spezialisten in ihrem Feld, wollten nicht spekulieren und hielten sich daher an die Fakten. Daher entsteht hier, wie Förster in der Einleitung schreibt, „kein zusammenhängendes Bild vom Krieg der Zukunft“ (S. 17). Die Debatten wurden auch stark durch die Kriegserfahrungen der Epoche, durch den russisch-japanischen Krieg und besonders auch durch den Burenkrieg, beeinflusst. Letzterer prägte besonders die britischen Fachzeitschriften, die sich trotz auch zu findenden antiquierten Ansichten von Kavallerieoffizieren, zu denen beispielsweise Douglas Haig gehörte, meistens durch professionelle und realistische Analysen auszeichneten.

Wenn auch Spekulationen über das Gesamtbild des künftigen Krieges fehlen, wird doch sehr klar, dass der militärischen Fachwelt vor 1914 viele der waffentechnischen und taktischen Entwicklungen, die dann den Ersten Weltkrieg prägen sollten, nicht verborgen geblieben waren. Sehr deutlich wurde die Rolle der überwältigenden Feuerkraft – von Artillerie, Maschinengewehren und Magazingewehren – gesehen und der Einfluss, den sie auf das Schlachtfeld der Zukunft nehmen würde. Daher auch die Kritik an der Kavallerie; ein Angriff zu Pferde gegen mit modernen Feuerwaffen bewaffnete Infanterie schien schlichter Selbstmord. In Großbritannien kam bei der Diskussion um den Krieg der Zukunft auch die Debatte um die Wehrpflicht hinzu.

Die Mehrheit der hier ausgewerteten Artikel hatte, was das Gefecht der Zukunft anging, zutreffende Vorstellungen. Es wird in den Beiträgen auch deutlich, dass die zeitgenössische Beschreibung des Zukunftskrieges durch Jan Bloch2 von professionellen Militärs nicht etwa verlacht, sondern in vielerlei Hinsicht als zutreffend angesehen wurde. Dies war auch nicht erstaunlich, da Blochs sechsbändiges Werk auf der intensiven Auswertung der internationalen Militärfachzeitschriften beruhte, also auf demselben Quellenkorpus, der in diesem Buch hier untersucht wurde. Doch wurden Blochs Schlussfolgerungen – dass Krieg nun unmöglich sei, da er einem Selbstmord gleichkäme – nicht geteilt. Das Gegenargument war wohl, man habe es nicht in der Hand, den Krieg abschaffen zu können, also müsse man ihn vorbereiten und führbar machen, und dabei spiele dann die Rolle der stärkeren Moral eine zentrale Rolle. Immerhin wurden Blochs Thesen 1901 sogar in den Royal United Service Institution (RUSI) in Whitehall diskutiert (S. 325–335, 329).

Im Vorwort von Stig Förster wird eine gewisse Frustration deutlich, dass es „im Dunkeln“ bleibe, wie sich die Autoren der Fachzeitschriften den Verlauf eines Zukunftskrieges vorgestellt hatten (S. 17). Diese liegt wohl daran, dass der Herausgeber (und auch der Rezensent) sehr gerne gewusst hätten, wen die militärischen Fachleute für den wahrscheinlichen Sieger des Zukunftskriegs hielten. Doch hier versagen die Quellen und die Frage wurde auch von den Bearbeitern nicht wirklich gestellt – wohl auch, weil es hier keine Antworten gab. Die Artikel der Militärzeitschriften beschrieben den Zukunftskrieg bis zur ersten Schlacht; dies ist von Pöhlmann und Wettstein für den deutschen und französischen Fall klar herausgearbeitet worden. Gleichzeitig wird auch klar, dass die militärischen Experten einen kurzen Krieg aus wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gründen für absolut notwendig und wünschenswert, aber keinesfalls für leicht erreichbar hielten. Pöhlmann meint, die Mehrheit der deutschen Autoren habe eine mittlere Kriegsdauer von ein bis zwei Jahren für wahrscheinlich gehalten.

Doch in der Frage, wer denn siegen werde, herrscht Schweigen – mit einer Ausnahme. Rose hebt überzeugend hervor, dass die britischen Marineexperten die deutsche Marine nicht als den gefährlichsten Gegner wahrnahmen, und es wird deutlich, dass sie sich aus geostrategischen Gründen für die sicheren Sieger eines maritimen Zukunftskrieges hielten (S. 360). Sie hatten eine ausgewogene Flotte, die neben Schlachtschiffen auch die anderen notwendigen Typen umfasste, und fühlten sich selbst einem hypothetischen Kontinentalbündnis aus Deutschland, Frankreich und Russland gewachsen und überlegen.

Für die kontinentalen Mächte fehlen ähnliche Aussagen. Das ist bedauerlich; es wäre interessant gewesen zu lesen, wie die Franzosen ihre Siegeschancen berechneten. Was Deutschland angeht, schweigen zwar die Fachzeitschriften, aber es gibt andere Quellen. Um an der Spitze anzufangen: Der Generalstabschef (v. Moltke) und der preußische Kriegsminister (v. Falkenhayn) hatten im Sommer 1914 klargemacht, dass sie an den deutschen Sieg glaubten – obwohl Moltke den Krieg gleichzeitig für eine Katastrophe hielt, der das europäische Kulturleben für Jahrzehnte vernichten würde. Hier sei die Hypothese gewagt, dass die Mehrzahl der deutschen Militärschriftsteller diese Ansichten in beiden Aspekten geteilt hätte: Der Kontinentalkrieg wird eine europäische Katastrophe, aber wir werden gewinnen. Die Spitzen der Armee sprachen für diese selbst; das Stimmungsbild in den deutschen Armeen im Sommer 1914 war, so scheint mir, ganz eindeutig von massiver (und ungerechtfertigter) Siegesgewissheit geprägt.

Noch ein Wort zum Stil: Die Beiträge sind leicht lesbar und flüssig geschrieben; ein sorgfältiges Lektorat hätte aber etliche Flüchtigkeitsfehler herausfiltern können. Dies ändert aber nichts an der Substanz. Dies ist ein sorgfältiges, kompetentes und interessantes Buch über das Kriegsbild vor 1914, das die vorliegenden Einschätzungen, etwa von Dieter Storz3 oder Hew Strachan,4 bestätigt und ergänzt.

Anmerkungen:
1 Stig Förster, Mit Hurra und vollem Bewußtsein in die Katastrophe, in: Frankfurter Rundschau, 09.09.1994; Ders., Der deutsche Generalstab und die Illusion des kurzen Krieges, 1871–1914. Metakritik eines Mythos, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 54 (1995), S. 61–95.
2 Jan Bloch, Der Krieg. 6 Bde., Berlin 1899.
3 Dieter Storz, Kriegsbild und Rüstung vor 1914. Europäische Landstreitkräfte vor dem Ersten Weltkrieg, Herford 1992.
4 Hew Strachan, The First World War. Bd.1: To Arms, Oxford 2001, S. 1005–1014.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension