S. Patel: Adeliges Familienleben, weibliche Schreibpraxis

Titel
Adeliges Familienleben, weibliche Schreibpraxis. Die Tagebücher der Maria Esterházy-Galántha (1809–1861)


Autor(en)
Patel, Sheila
Reihe
Geschichte und Geschlechter 66
Erschienen
Frankfurt am Main 2015: Campus Verlag
Anzahl Seiten
438 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Raffaela Bub, Fachbereich Geschichtswissenschaft, Universität Tübingen

Die vorliegende Untersuchung – eine gekürzte und überarbeitete Version der 2013 eingereichten Dissertation Sheila Patels – ergänzt einen weiteren Stein im noch sehr unvollständigen Mosaik adeliger Frauengeschichte des 19. Jahrhunderts. Durch die Verknüpfung von Genderforschung und Adelsgeschichte verbindet die Studie zwei Forschungszweige, deren thematische Relevanz in den letzten Jahren deutlich zu Tage getreten ist.1

Die Studie verfolgt das Ziel, am Beispiel der Tagebücher der Gräfin Maria Esterházy-Galántha, geborene Plettenberg-Mietingen (1809–1861), weiblicher Schreibpraxis im 19. Jahrhundert nachzuspüren. Sie verfasste über 37 Jahre lang zwölf Tagebücher, die zum Teil parallel geführt wurden. Zu unterscheiden sind die „Jugendtagebücher“ (1824–1833), das „große Tagebuch“ (1836–1845), die Tagebücher 1845–1848 und 1853–1861 sowie ein Notizenbuch „für allerhand“ (1846–1853), ein „Wirtschaftstagebuch“ (1849–1861) und das „Kindertagebuch“ (1844–1861). In den Selbstzeugnissen spiegle sich die „autobiographische Person“2 der Gräfin wider, die im und durch das Verfassen der Tagebücher entstanden sei. Der Mehrwert der Studie liegt vor allem in der langen Dauer und dem breiten Themenspektrum, das dem Leser in den Tagebüchern begegnet.

Das Buch gliedert sich neben Einleitung und Schluss in vier thematische Kapitel, die prominente Aspekte des Lebens der Gräfin nachzeichnen: Während sich die Kapitel zwei bis vier den Beziehungen, dem Alltag und der Kindererziehung Marias widmen, befasst sich Kapitel fünf mit politischen Themen.

In der Einleitung umreißt Patel zunächst das doppelte Erkenntnisinteresse der Arbeit: Dieses bestehe zum einen in der Rekonstruktion adeliger Lebenswelten, zum anderen in der Analyse adeliger Schreibpraxis unter Berücksichtigung von Mustern und Traditionen, „die Auskunft geben können über Prozesse der Selbstkonstitution“ (S. 10) sowie über Vorstellungen und Wahrnehmungen, welche die Verfasserin von sich selbst, ihrer Zeit und ihrem Umfeld hatte. Dabei knüpft die Studie an die vieldiskutierte Debatte um ein Konzept der „Adeligkeit“3 an, das nur verkürzt zur Darstellung kommt. Des Weiteren verweist Patel auf die Bedeutung der im 19. Jahrhundert vorherrschenden Geschlechterkonzeptionen und ihre Wirkung auf adelige Frauen. Im Anschluss an Monika Kubrova4 folgt die Autorin der These, das bürgerliche Ordnungsmodell der „polaren Geschlechtscharaktere“ habe in den Erinnerungen adeliger Frauen nur geringen Einfluss auf deren Handlungs- und Sichtweisen gehabt, weil sich diese stärker über ihren Stand als über ihr Geschlecht definierten (S. 15, S. 35).

Neben Fragen, die Textproduktion und Schreibsituation betreffen, seien vor allem die Analysekategorien der Erfahrung und Erinnerung zu berücksichtigen sowie, im Zusammenhang mit geäußerten Emotionen, der methodische Zugriff der „kulturellen Mehrfachzugehörigkeit“[6]. Die Tagebücher seien nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern in Auseinandersetzung mit verschiedenen Gegenübern und in bestimmten kulturell, sozial und personell geprägten Situationen, die sich auf die Konstitution des Subjekts auswirkten. Zu beobachten sei demnach die „schreibende Person“ (S. 43, S. 392), die in einer bestimmten Situation handle, Schreibstrategien im Hinblick auf potenzielle Leser entwickle sowie spezifische Inhalte auswähle und gestalte.

In der Einleitung schließt sich ein kurzes Lebensportrait der adeligen Verfasserin sowie eine ausführliche Besprechung der einzelnen Tagebücher und weiterer Quellen an. Zur besseren Kontextualisierung zieht Patel autobiographische Schriften anderer Adeliger heran, verwendet darüber hinaus auch Gedichtbände Marias, Briefe der Familie und Zeitungsartikel. Besonders interessant erscheinen die Abschnitte zur Schreibmotivation und zum Schreibverhalten: Von 1824 bis 1848 verfasste die Gräfin fast täglich Tagebucheinträge, später nur noch wöchentlich oder sogar monatlich. Die Auswahl des Berichteten änderte sich dadurch ebenso wie ihr Fokus, der sich in den späteren Tagebüchern auch auf politische Ereignisse ausweitete.

Die Schreibmotivation, die nur im Kindertagebuch explizite Erwähnung findet, setze sich je nach Zeit und Ausrichtung aus verschiedenen Motiven zusammen. So gehörte das Führen eines Tagebuchs zum guten Ton adeliger Erziehung, bot der Verfasserin später aber auch die Möglichkeit, Erinnerungen für sich und ihre Kinder festzuhalten. Neben der eigenen Positionierung innerhalb adeliger Kreise diente das Tagebuch mitunter zur Reflexion oder als Gegenüber, dem geheime Gedanken anvertraut werden konnten. Des Weiteren sei den Tagebüchern der Gräfin Esterházy zu entnehmen, dass sie Merkwürdigkeiten, Spaß und Unterhaltung – und somit nicht die Pflicht – dazu veranlassten, Tagebucheinträge zu verfassen. Durch ihre hohe Schreibroutine fand jedoch zumindest bis 1848 auch das „nicht Besondere“ (S. 38) Eingang in die Aufzeichnungen.

Das zweite Kapitel stellt die Liebesbeziehungen der Gräfin und ihre verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Netzwerke in den Fokus. Bei der Wahl des Ehepartners hätten nach Patel sowohl heiratsstrategische Interessen der Familie als auch gegenseitige Zuneigung eine Rolle gespielt. Die Tagebücher ermöglichen Einblicke in die subjektive Wahrnehmung dieser spannungsvollen Situation, welche die Jugendjahre Marias prägten. Diese verliebte sich mit 19 Jahren erstmals in ihren Cousin Wilderich von Ketteler, eine Heirat lehnte die Familie jedoch ab. Erst mit der Werbung Nicolas Esterházys erklärten sich beide Seiten einverstanden. Auch Verwandte und Freunde finden in den Selbstzeugnissen Erwähnung, werden aber trotz guter Beziehungen meist nur bei besonderen Anlässe näher beschrieben. Beziehungen zu hochrangigen Persönlichkeiten widmete Maria Esterházy mehr Aufmerksamkeit. Die Bedeutung, die sie ihrer eigenen Stellung innerhalb der adeligen Gesellschaft beimaß, trete hier wie auch im nachfolgenden Kapitel deutlich hervor.

Das dritte Kapitel greift verschiedene Facetten des Alltags auf, wie Marias Besitz Nordkirchen, die von ihr beschriebene Wohnkultur, aber auch Alltagsabläufe, Feste, das Hofleben und Reisen. Die Alltagsbeschreibungen bieten interessante Einblicke in das gesellschaftliche Leben adeliger Kreise, die damit einhergehenden Verpflichtungen und sozialen Netzwerke, in die das Haus Esterházy eingebunden war. Aus der schriftlich niedergelegten räumlichen Gestaltung des höfischen Lebens könne auch auf die symbolische Verortung und den Status der adeligen Teilnehmer geschlossen werden. Bürgerliche Bekanntschaften finden in diesem Rahmen keine Erwähnung und auch während ihrer Reisen habe Maria „Sozialfremdes“ (S. 220) größtenteils ausgeblendet. Die Freundschaften zu bürgerlichen Lehrern und die Teilnahme von nicht-adeligen Dorfbewohnern am Abendessen im familiären Kreis zeigen jedoch, ebenso wie bestehende Geschäftsverhältnisse mit Bürgerlichen, keine strikte Abgeschlossenheit.

Das vierte Kapitel handelt von Marias Leben mit ihren Söhnen und der Erziehungspraxis im Hause Esterházy-Galántha. Auch hier hätten sich materielle Interessen und emotionale Beziehungen innerhalb der Familie wechselseitig ergänzt – durch die Zuneigung zwischen Eltern und Kindern sei der Familienzusammenhalt sogar nachhaltig gefördert worden, was die Abgrenzung gegenüber Bürgerlichen begünstigte. Im Kindertagebuch legte die Mutter Portraits ihrer drei Söhne an, beschrieb Entwicklungen, Talente und Tagesabläufe sowie den liebevollen Umgang miteinander. Vor allem ein ausgeprägter anti-demokratischer Patriotismus wurde von der Mutter wohlwollend vermerkt. Interessant erscheint der Umgang mit dem erstgeborenen, psychisch kranken Sohn Paul, dessen Leiden die Gräfin nie direkt anspricht. Trotz der Tatsache, dass zumindest die beiden nachgeborenen Söhne den Besitz ihrer Eltern erben sollten, förderte Maria eine vielseitige Ausbildung – ihre zukünftigen Wege schienen aufgrund der unruhigen politischen Lage nicht abschließend vorbestimmt.

Das fünfte Kapitel rückt politische Themen in den Mittelpunkt und folgt deren chronologischer Abfolge. Vor allem die 1848/49er Revolution, von der sie sich unmittelbar betroffen sah, reflektierte die Gräfin auf emotionale Weise, stellte diese doch persönliche Besitzinteressen in Frage, schürte ihre Angst vor Armut und betraf direkte Bekannte und Verwandte. Deutlich trete hier die altkonservative, monarchietreue Haltung Maria Esterházys hervor. Klare Position bezog sie gegen den gesamten ungarischen Adel, den sie als „verderbt“ und „roh“ (S. 349) bezeichnete – ausgenommen ihren Ehemann. Ihre Ausführungen zeigen, dass sie Adel national dachte, woraus multiple Zugehörigkeiten entstanden. Der ab den 1850er-Jahren verstärkt spürbare preußisch-österreichische Dualismus führte dadurch teilweise zu widerstreitenden Loyalitäten, da sich die Gräfin beiden Monarchien eng verbunden fühlte.

Zuletzt greift Patel als Ausblick das Testament Maria Esterházys auf, in dem diese ihr Erbe regelte und verschiedene Versionen einer möglichen Zukunft entwarf.

Trotz des Ziels, sich selbst als „typische Repräsentantin des hohen Adels“ (S. 399) darzustellen, zeige gerade die verwendete Schreibstrategie individuelle Züge, beispielsweise im Umgang mit dem kranken Paul oder im nachträglichen Glattstreichen einer zuvor verworrenen Liebesgeschichte.

Insgesamt handelt es sich bei der Arbeit Patels um eine lesenswerte und detailreiche Studie, die ein großes Themenspektrum abdeckt und der Stimme Marias Esterházys viel Raum gibt. Wünschenswert wäre gewesen, die Frage nach dem spezifisch adeligen bzw. weiblichen der Schreibpraxis stärker zu gewichten. Zwar werden Selbstzeugnisse männlicher Autoren und adeliger Frauen vergleichend herangezogen, auf sich daraus ergebende Schlussfolgerungen wird aber größtenteils verzichtet. Der Vergleich mit Selbstzeugnissen bürgerlicher Frauen hätte an dieser Stelle weitere interessante Akzente setzen können. Störend erscheinen pauschalisierende Urteile über ‚den Adel‘, die im Kontrast zu sonst sehr differenzierten Wertungen stehen. Auch eine konkrete, abschließende Stellungnahme zu den angesprochenen Forschungskontroversen erfolgt leider nicht. Dies schmälert aber nicht das Verdienst der Autorin, eine inhaltlich und analytisch tiefgreifende Studie vorgelegt zu haben.

Anmerkungen:
1 Für das 19. Jahrhundert zuletzt: Monika Kubrova, Vom guten Leben. Adelige Frauen im 19. Jahrhundert, Berlin 2011; Sarah Romeyke, Preußens Töchter. Die Stiftskinder von Heiligengrabe 1847–1945, Berlin 2015; Johanna Singer, Arme adelige Frauen im Deutschen Kaiserreich, Tübingen 2016.
2 Patel, S. 42 nach Elke Hartmann / Gabriele Jancke, Roupens Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs (1921/1951) im transepochalen Dialog. Konzepte und Kategorien der Selbstzeugnis-Forschung zwischen Universalität und Partikularität, in: Claudia Ulbrich / Hans Medick / Angelika Schaser (Hrsg.), Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, Köln 2012, S. 31–71.
3 Vgl. die Zusammenfassungen in Daniel Menning, Standesgemäße Ordnung in der Moderne. Adlige Familienstrategien und Gesellschaftsentwürfe in Deutschland 1840–1945, München 2014; Charlotte Tacke, „Es kommt also darauf an, den Kurzschluss von der Begriffssprache auf die politische Geschichte zu vermeiden.“ ‚Adel‘ und ‚Adeligkeit‘ in der modernen Gesellschaft, in: Neue Politische Literatur 52 (2007), S. 91–123; Heinz Reif, Der Adel im „langen 19. Jahrhundert“. Alte und neue Wege der Adelsforschung, in: Gabriele B. Clemens / Malte König / Marco Meriggi (Hrsg.), Hochkultur als Herrschaftselement. Italienischer und deutscher Adel im langen 19. Jahrhundert, Berlin 2011, S. 19–37.
4 Monika Kubrova, Vom guten Leben.
[5] Claudia Ulbrich / Hans Medick / Angelika Schaser, Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, in: Dies., Selbstzeugnis und Person, S. 1–19.

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