Cover
Titel
Lobbying Hitler. Industrial Associations Between Democracy and Dictatorship


Autor(en)
Bera, Matt
Erschienen
New York 2016: Berghahn Books
Anzahl Seiten
X, 250 S.
Preis
$ 120.00; £ 75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Bührer, München

Die Frage nach dem Verhältnis von Industrie und Nationalsozialismus bzw. nach dem „Primat“ der Wirtschaft oder der Politik im „Dritten Reich“ war bis in die 1980er-Jahre hinein geeignet, heftige Kontroversen auszulösen. Diese Aufregung hat sich mittlerweile gelegt, und Matt Beras originelle Studie wird den alten Streit nicht neu befeuern, zumal sie den Konsens, der sich im Laufe des imagepolitisch motivierten Booms der unternehmenshistorischen Forschung herausgebildet hat, nicht in Frage stellt: Die wesentlichen Entscheidungen wurden vom NS-Regime getroffen, die Nazis agierten nicht als „Handlanger“ der „Konzernherren“. Den Akteuren aus der Industrie blieben indes Handlungsspielräume, und für deren Dimensionen und Ursachen interessiert sich der kanadische Historiker. Um diese Spielräume auszuloten, konzentriert er sich auf die Hauptgeschäftsführer zweier einflussreicher Unternehmerverbände: Jakob W. Reichert vom Verein Deutscher Eisen- und Stahl-Industrieller (VDESI) und Karl Lange vom Verein Deutscher Maschinenbau-Anstalten (VDMA). Und er gelangt zu einem auf den ersten Blick überraschenden Ergebnis. Während der erzkonservative, antidemokratisch eingestellte Stahlfunktionär nicht bereit war, sich den Erwartungen des neuen Regimes voll und ganz unterzuordnen, und deswegen Schritt für Schritt marginalisiert wurde, bewies der während der Weimarer Jahre wirtschaftlich und politisch liberal denkende Lange nach 1933 die nötige Geschmeidigkeit, um sich auch mit den neuen Herren arrangieren und zu einem der zentralen Akteure im kriegswirtschaftlichen Lenkungsapparat aufsteigen zu können.

Bera verfolgt die Laufbahn seiner beiden Protagonisten – „,ordinary professional men‘ who faced a difficult set of choices in a period of enormous change“ (S. 2) – durch die Weimarer Republik und das „Dritte Reich“ bis in die frühen Nachkriegsjahre. Während Reichert eine Branche vertrat, die im industriellen Gefüge der 1920er-Jahre mächtig genug war, unliebsame Entwicklungen zu blockieren, nichts gegen Regulierung auf nationaler und internationaler Ebene einzuwenden hatte, solange die entsprechenden Kompetenzen in privatwirtschaftlicher Hand lagen, und demokratische Verfahren und Institutionen geringschätzte, akzeptierte Langes Klientel Gewerkschaften und Sozialdemokratie als Verhandlungspartner. Bera glaubt sogar, dass der VDMA „incorporated the politics and ethos of the new republic into itself“ (S. 12) – eine wohl doch zu optimistische Einschätzung. Auf die Machtübernahme der Nationalsozialisten und erste bedrohliche Einschüchterungsversuche reagierten die beiden Spitzenfunktionäre höchst unterschiedlich. Im Vertrauen auf die Machtposition „seiner“ Industrie sah Reichert keinen Anlass, von seinem bisherigen selbstbewussten Kurs abzuweichen; die Interessen der Stahlindustrie genossen für ihn Vorrang vor dem „nationalen“ Interesse. Lange hingegen vollzog eine politisch-ideologische Kehrtwende und war eifrig bemüht, frühere wirtschaftspolitische Positionen zu räumen – mit den demokratischen Überzeugungen konnte es demnach nicht weit her sein. Auf diese Weise gelang es ihm, das liberale Image des Maschinenbaus rasch vergessen zu machen und das Verhältnis zur NSDAP dauerhaft zu verbessern. Reichert, so resümiert Bera, „continued to treat the state and its ideology as something to be bargained with, pushed or opposed – just as it had been in the Weimar Republic – but Lange adapted” (S. 97).

Im Zuge der Etablierung der Vierjahresplan-Bürokratie und der Reorganisation der unternehmerischen Interessenvertretung in Gestalt der Reichsgruppe Industrie und der verschiedenen Wirtschaftsgruppen manövrierte sich Reichert weiter ins politische Abseits, weil er vergeblich versuchte, die überkommenen Strukturen wirtschaftlicher Selbstverwaltung aufrecht zu erhalten, obwohl der staatliche Druck in Richtung einer Anpassung an die neuen rüstungswirtschaftlichen Erfordernisse wuchs und zugleich der Rückhalt in der Mitgliedschaft erodierte: „Rather than an independent institution representing a well-organized industry able to force the new regime in convenient directions, he was left with an organization that could neither lobby effectively nor regulate in the name of the state.“ (S. 132) Unterdessen stieg Lange zum Bevollmächtigten für den Maschinenbau auf mit der Kompetenz, die Firmen seiner Branche durch bindende Direktiven zu steuern. Bera bescheinigt ihm in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft konsequenterweise „indispensability“, Reichert im Gegensatz dazu „impotence“. Zwar verschwand die Wirtschaftsgruppe Eisenschaffende Industrie nach der neuerlichen Reorganisation der Branche 1942 nicht gänzlich von der Bühne, doch kam sie nach Ansicht Beras über ein Schattendasein neben der nunmehr tonangebenden Reichsvereinigung Eisen nicht hinaus. 1943 ging Reicherts Karriere als Stahllobbyist jedenfalls definitiv zu Ende. Nach Kriegsende gelang es ihm, der im Unterschied zu Lange nie Mitglied der NSDAP gewesen war, nicht mehr, in der Stahlindustrie erneut Fuß zu fassen. Anfang 1948 beging er Selbstmord. Ganz anders Lange, der dank seiner Ämterfülle wichtige Entscheidungen im kriegswirtschaftlichen Apparat an sich zu ziehen vermochte und deshalb aus Sicht der Maschinenbauer unverzichtbar war – und zwar über das Kriegsende hinaus.

Mit seinem auf der Auswertung einschlägiger Quellenbestände – unter anderem aus dem Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, des Bundesarchivs Berlin und des Historischen Archivs der Siemens AG – gründenden Buch leistet Bera einen innovativen und zu weiteren Forschungen geradezu herausfordernden Beitrag nicht nur zur Wirtschafts- und Politikgeschichte der Weimarer Republik und des „Dritten Reiches“, sondern auch zur geschichtswissenschaftlichen Verbändeforschung, die in den letzten Jahren etwas in Vergessenheit geraten ist. Die Idee, zwei Hauptgeschäftsführer ins Zentrum der Analyse zu stellen, erhöht die Anschaulichkeit der Darstellung und erlaubt mit Hilfe des Vergleichs präzise Aussagen zu den Möglichkeiten und Grenzen der Interessenvertretung unter demokratischen und diktatorischen Verhältnissen. Die Erklärung für das unterschiedliche, ja teilweise gegensätzliche Verhalten der beiden Protagonisten – die differierende Einschätzung der Stärke und Bedeutung der jeweiligen Branche und der daraus zu ziehenden taktischen und strategischen Schlussfolgerungen – vermag zu überzeugen. Der biographisch akzentuierte Zugang birgt allerdings auch Risiken. So schließt Bera meines Erachtens zu voreilig aus der Marginalisierung Reicherts auf den Bedeutungsverlust der Eisen- und Stahlindustrie im Allgemeinen und der herkömmlichen stahlindustriellen Verbände im Besonderen. Dabei übersieht er jedoch, dass die Reorganisation des unternehmerischen Verbandswesens bereits unmittelbar nach dem Kriegsende 1945 keineswegs von Lange und dem Maschinenbauverband vorangetrieben wurde, sondern ganz maßgeblich von Stahlindustriellen wie Hermann Reusch und Günter Henle, und zwar mit Unterstützung der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie als Nachfolgerin des VDESI und aktiver Mithilfe eines Geschäftsführers, der im „alten“, vergleichsweise eigenständigen stahlindustriellen Verbandswesen seine ersten beruflichen Sporen verdient hatte.

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