G. Diendorfer u.a. (Hrsg.): Friedens-, Konflikt-, Demokratieforschung

Titel
Friedensforschung, Konfliktforschung, Demokratieforschung. Ein Handbuch


Herausgeber
Diendorfer, Gertraud; Bellak, Blanka; Pelinka, Anton; Wintersteiner, Werner
Erschienen
Anzahl Seiten
395 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Kemper, Hamburger Institut für Sozialforschung

Die Friedens- und Konfliktforschung kann sich in Österreich auf zahlreiche Institutionen und Kooperationen stützen. Schon deshalb sollte sich die entsprechende scientific community in Deutschland stärker als bislang mit ihr verzahnen. Ein einschlägiges Netzwerk stellt das Conflict, Peace and Democracy Cluster (CPDC) dar, das seit 2016 an der Universität Graz koordiniert wird. Das hier zu besprechende Handbuch, das aus der Koproduktion der Gründungsinstitutionen hervorging – des Demokratiezentrums Wien, des Instituts für Konfliktforschung, des Österreichischen Studienzentrums für Frieden und Konfliktlösung und des Zentrums für Friedensforschung und Friedenspädagogik an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt – versteht sich als eine Form der Selbstverständigung der transdisziplinär arbeitenden Friedens- und Konfliktforschung in Österreich und gleichzeitig als Markstein in der deutschsprachigen Forschungslandschaft.

Das Handbuch ist in fünf längere Überblicksbeiträge und 20 auf lexikonartikellänge reduzierte Begriffseinführungen unterteilt, abgerundet durch zwei Plädoyers für ein normativ verstandenes, gleichwohl allen Disziplinen offenes Forschungsfeld. Letzteres versuchen alle Beiträge zu würdigen, womit sich die Krux eines jeden und auch dieses Handbuchs offenbart. Denn die, didaktisch durch zahlreiche textliche Querverweise aufbereitete, Orientierung im Feld geht mit einer kritischen Bestandsaufnahme desselben einher. Dadurch wechseln sich deskriptive und theoretisch ambitionierte Abschnitte in den Beiträgen ab, ohne erkennen zu geben, nach welchen Prioritäten oder theoretischen Leitlinien dies geschieht. Gleichwohl ist der Band sowohl für Studierende und Einsteiger im Feld als auch versierte Friedens- und Konfliktforscher interessant.

Anton Pelinka, ehemaliger Leiter des Wiener Instituts für Konfliktforschung, bietet in seinem Beitrag Basiswissen und konzeptionelle Zugänge zur Konfliktanalyse, er stellt phänomenologische Verbindungen zwischen Konflikt, Macht und Gewalt heraus, umreißt Konfliktmuster sowie ihre Materialität auf gesellschaftlicher Ebene. Da Konflikte der Basismodus gesellschaftlicher Interaktion sind, lassen sie erst in Kombination mit einer friedensforschenden Perspektive erkennen, welchen spezifischen Stellenwert sie im Feld einnehmen. Daran schließt der Beitrag zur Friedensforschung von Wilfried Graf und Werner Wintersteiner vom Klagenfurter Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik an, der zu Beginn auf das traditionell ausgerufene Spannungsverhältnis zwischen beschreibenden, gesellschaftstheoretischen und normativen Dimensionen der Friedensforschung eingeht. Die sich daraus ergebende Offenheit für Zugänge macht sie zwar zu einer Querschnittsperspektive par excellence, aber auch anfällig für interne Konflikte (S. 45), an denen sich die Rezensentin in produktiver Weise und im Sinne der friedens- und konfliktforschenden Prinzipien beteiligen möchte. Denn aus Sicht der Historikerin fallen doch spezifische Leerstellen auf.

Ein Gewinn ist sicherlich für jede(n) Leser/in die systematische Aufbereitung zentraler Aspekte, um die die Friedensforschung seit jeher kreist: Krieg, Konflikt, Gewalt, Frieden; ebenso die Unterscheidung verschiedener Zugänge in der Friedensforschung. Spätestens beim Verweis auf verschiedene „Generationen“, die in ihrer Forschung realistische, strukturalistische, poststrukturalistische Ansätze oder den liberalen Frieden vertreten, fällt jedoch das Fehlen weiterer Hinweise auf die Zeitgebundenheit wissenschaftlicher Konzepte auf. Ein kritisch-historischer Blick gelingt am ehesten in Dieter Segerts Beitrag zur Demokratieforschung, in der er die Konjunkturen des westlichen Demokratiemodells seit den politischen Umbrüchen von 1989/90 problematisiert. Aber in vielen Passagen über die Genealogie des Feldes fehlt eine generelle zeithistorische Einordnung – jenseits von Chronik und Ereignisgeschichte. Dabei bieten sich laufend Anschlüsse für die Zeitgeschichte an, etwa in den Beiträgen zur Politischen Bildung und Friedenspädagogik von Gertraud Diendorfer, Johanna Urban sowie Susanne Reitmair-Juárez vom Demokratiezentrum Wien. Seit den 1960er-Jahren entwickelte sich in der Friedenspädagogik nicht nur ein zunehmender Anspruch auf gesellschaftliche Partizipation zur „Verbesserung“ demokratischer Praktiken verbunden mit der Entwicklung entsprechender Instrumente. Friedenspädagogische Konzepte verstärkten auch ihren Blick auf individuelles prozessorientiertes Verhalten, entwickelten also Tendenzen, die in einen zeithistorischen Kontext zunehmender Individualpraktiken und Subjektivierungstechniken zu stellen wären, um die sich wandelnden gesellschaftlichen und politischen Bedingungen friedenspädagogischer Konzepte deutlicher zu konturieren.1 Freilich kann das nicht Aufgabe der einzelnen Sozialwissenschaftler im Band sein. Aber wenn Graf und Wintersteiner in ihrem Beitrag für eine notwendige Ausweitung des Forschungsansatzes etwa auf realistische, strukturalistische, postmoderne und psychotherapeutische Zugänge plädieren, um „die Interdependenzen komplexer sozialer Beziehungen wie Zivilisation oder Barbarei, Gewalt oder Frieden“ zu erforschen (S. 76), fällt die fehlende (selbst-)reflexive historische Perspektive auf. Sicherlich kann nur ein integrativer Ansatz der Komplexität des Friedensbegriffs gerecht werden, bleibt aber auf die Synchronisation der verschiedenen Zugänge beschränkt, wenn er nicht auch diachron vorgeht. Angesichts der nun schon seit Jahrzehnten betriebenen Ausweitung der Perspektiven und immer neuer Forderungen, integrativer und interdisziplinärer zu arbeiten, sollte die Friedens- und Konfliktforschung deutlicher auch wissenschafts- somit selbstkritische Fragen stellen und diskutieren. Aus der Wissenschaftsgeschichte kennen wir dieses äußerst gewinnbringende Vorgehen, um unter anderem einige der selbstreferentiellen Muster unserer Wissenschaftskommunikation offenzulegen, etwa zuletzt am Begriff und Phänomen der „Komplexität“ vorgenommen.2 Selbstredend wird auch andersherum ein Schuh draus: Historikerinnen und Historiker, die ihren Untersuchungsgegenstand mit Fragen zu Konflikten, Frieden oder pädagogischen Konzepten verbinden, seien die Überblicksdarstellungen in diesem Band ans Herz gelegt.

Die 20 aufgeführten Großbegriffe lassen die notwendige diskursive Weitläufigkeit erkennen, in der sich Friedens- und Konfliktforschung bewegt. Fast alle Beiträge konstatieren ein Definitions-Problem ihres Gegenstandes, um diesen wiederum in einer Mischung aus Theorieangebot, historischer Erfahrung, normativem Anspruch und Benennung der markanten Herausforderungen einzugrenzen. Die Konturierung des heuristischen Instrumentariums und von Begriffen wie „Gender“, „Macht“, „Populismus“ oder „Zivilgesellschaft“ gelingt schließlich konsequent und gut lesbar. Jedoch lassen sich womöglich viele dieser Heranführungen auch an anderer Stelle nachlesen, und es ist somit zu fragen, was den spezifischen Zugang einer Friedens-, Konflikt- und Demokratieforschung zu diesen Begriffen ausmacht.

Dennoch: das Handbuch ist unbedingt zu empfehlen als Orientierung im Feld, als Nachschlagewerk und als Annäherung an die österreichische Friedens- und Konfliktforschung. Die hier geäußerte Kritik an einer strukturellen Marginalisierung geschichtswissenschaftlicher Studien, Methoden und Debatten vonseiten der sozialwissenschaftlichen Friedens- und Konfliktforschung bezieht sich nicht allein auf die besprochene Veröffentlichung aus Österreich, sondern spiegelt auch die deutschen Verhältnisse.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu etwa Till Kössler / Alexander Schwitanski (Hrsg.), Frieden lernen. Friedenserziehung und Gesellschaftsreform im 20. Jahrhundert (Frieden und Krieg – Beiträge zur Historischen Friedensforschung 20), Essen 2013.
2 Ariane Leendertz / Wencke Meteling (Hrsg.), Die neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er-Jahren (Schriften aus dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln 86), Frankfurt 2016.

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