Cover
Titel
Das Handeln der Tiere. Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal Studies


Herausgeber
Wirth, Sven; Laue, Anett; Kurth, Markus; Dornenzweig, Katharina; Bossert, Leonie; Balgar, Karsten
Reihe
Human-Animal Studies 9
Anzahl Seiten
269 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Sandra Eckardt, Georg-August-Universität Göttingen

Der dritte von Mitgliedern des Chimaira Arbeitskreises für Human-Animal Studies (HAS) herausgegebene Sammelband bearbeitet die im deutschsprachigen Raum bestehende Forschungslücke zu „tierlicher Agency“. Deren Analyse benötigt ein theoretisch fundiertes Handwerkszeug jenseits auf den Menschen ausgerichteter klassischer Agency-Konzepte. Eingebettet in einen transdisziplinären Rahmen diskutieren die Autor/innen, inwieweit posthumanistische Ansätze der Akteur-Netzwerk-Theorie und des Neuen Materialismus, in denen Tiere explizit bislang „keine eigene Position einnehmen“, für den Fokus auf Tiere und ihre multispezifischen sozialen Beziehungen fruchtbar gemacht werden können.

Der Band besteht aus zwei miteinander verwobenen Teilen: einem theoretischen und einem eher empirischen. Die Beiträge lesen sich dabei durchweg sehr anspruchsvoll. Sehr spröde erscheint die sprachliche Einordnung in der Einleitung. Die über nahezu eine komplette Seite reichende Fußnote auf S. 8 erstaunt als solche und der darin explizit gemachte Versuch, „auf sprachlicher Ebene Irritationen hervorzurufen“, gelingt wiederum nicht, zuletzt auch aufgrund dieses Formates. Darin machen die Herausgeber/innen auch die ihres Erachtens nach wie vor bestehende Relevanz sprachlicher Positionsbestimmung deutlich, die sie dann konsequenterweise besser in den Fließtext hätten integrieren sollen.

Die folgenden zehn Beiträge aus den Feldern Natur-, Sozial- und Geschichtswissenschaften, Soziologie, Kunstgeschichte, Philosophie, Ethik sowie Aktivismus thematisieren jeweils verschiedene Facetten von Agency. In ihrem Beitrag „Zwischen Wirkungsmacht und Handlungsmacht“ greift die Historikerin Mieke Roscher zentrale Stichworte der Einleitung auf. Sie geht davon aus, dass Tiere in den Geschichtswissenschaften inzwischen zwar als „geschichtsmächtig“, weil „wirkmächtig“ verhandelt werden, dies aber stets mittels eines Latourschen „schwachen Handlungsbegriffes“ (S. 55) geschehe. Weil Letzterer eher unbelebten Materialitäten zukommt, plädiert sie für eine Erweiterung der Akteur-Netzwerk-Theorie „auf spezifische soziale Interaktionen, soziale Situationen und Geschichten des Sozialen“. Eine Tiergeschichte als Sozialgeschichte, die Agency damit praxeologisch im Konzept einer „history in the making“ versteht und den Blick auf das Prozesshafte des „constant making and remaking of everyday life“ legt1, schließt Tiere und Menschen gleichermaßen mit ein. Die Unterscheidung zwischen (klassisch intendiertem) „Handeln“ und „Wirken“ verliert hier an Relevanz. Damit entgehe die Forschung dem drohenden Dilemma für das Tier zu sprechen und ihm damit seine Spezifität zu nehmen (S. 47). Roscher verwendet letztendlich den allumfassenderen englischen Begriff der „Agency“. Um deren Herstellungspraktiken besser verstehen zu können, schlägt sie eine Unterscheidung je nach Akteurseigenschaften und Kontext entlang der Stichworte relational, entangled, embodied, animal und historizing Agency vor. Schlagwortartig vermittelt sie dabei einen sehr guten Überblick über aktuell verhandelte Ansätze von Agency.

Wie häufig die Rollen von Handelnden und Wirkenden im Alltag zwischen den Beteiligten wechseln und deren Unterscheidung laut Roscher letztlich hinterfragbar ist, wird in der empirischen Untersuchung von Nathalie Geese deutlich. Aus soziologischer Perspektive untersucht sie die Herstellungsprozesse relationaler Agency in „Mensch-Tier-Triaden“ im Zusammenwirken von Führhund, blindem Menschen und jeweiligen Raumkonstellationen.

Aus ethischer Sicht fragt Leonie Bossert nach der Möglichkeit, Tiere als „moralisch Handelnde“ zu begreifen und diskutiert die gesellschaftliche Relevanz dieser Frage. Der Soziologe Sven Wirth blickt mit „‚Laborratte‘ oder ‚worker‘ im Vivisektionslabor?“ vergleichend auf die Debatte zwischen einer eher subjektorientierten Sichtweise auf Agency und der netzwerkorientierten Perspektive Haraways. Dabei regt er an, eine bestehende theoretische Lücke durch die HAS weiter zu bearbeiten. Katharina Dornenzweig analysiert Fallbeispiele naturwissenschaftlicher „Sprachexperimente“ mit Tieren und entwickelt daraus den Begriff eines „neuen Anthropozentrismus“. Die Kunsthistorikerin Jessica Ullrich fragt nach der (Ko-)Autorenschaft von künstlerisch tätigen Tieren. Der Aktivist Martin Balluch verhandelt die „Autonomie bei Hunden“ anhand von Beobachtungen aus seinem Zusammenleben mit diesen und bezieht seine Überlegungen in seine Vision einer Multi-Spezies Gesellschaft ein. Karsten Balgar arbeitet aus soziologischer Perspektive mit dem Konzept der „Leiblichkeit“ und stellt die These auf, dass diese als Brücke zwischen den Spezies fungieren könne.

Das Verhältnis von Leiblichkeit und Handlungsmacht setzt Dominik Ohrem in seinem Beitrag „(In)VulnerAbilities“ in Bezug zur Verwundbarkeit. Entgegen gängiger dichotomer Wahrnehmungen von „Verwundbarkeit versus Handlungsmacht“, einhergehend mit „Passivität versus Aktivität“, diskutiert er, wie Vulnerabilität Handlungsfähigkeit erst hervorbringt. Er argumentiert mit Tim Ingolds Konzept der „entanglements of relations“, der den Menschen und andere Lebewesen nur inmitten eines Gefüges anderer Akteure als handlungsfähig betrachtet. Demnach haben einzelne Lebewesen keine individuell initiative Agency. Diese entsteht vielmehr in der „kollektive[n] Verfasstheit ‚individueller‘ Körperlichkeit“ als eine distributive Form von Agency, die aus der Verbundenheit mit der umgebenden Umwelt responsiv hervorgebracht wird. Ohrems Augenmerk liegt auf den Korrespondenzen zwischen den heterogenen Körperlichkeiten, deren Verwundbarkeit erst Responsivität ermöglicht und damit den steten Wandel agentieller Gefüge erzeugt.

Am Beispiel der Medienberichterstattung über Schlachthofausbrüche von Rindern untersucht Markus Kurth Prozesse des Wandels und des Werdens im Kontext eines störanfälligen Systems. Der Autor hinterfragt selbstkritisch, ob mit seiner Analyse des Phänomens Schlachthof mit Foucault und Latour nicht eine „Verdinglichung der Tiere“ stattfinde, weil diese hinter der einseitigen Theoretisierung sie behandelnder gesellschaftlicher Strukturen zu verschwinden drohten. Es brauche daher auch die Analyse des Subjektiven. Kurth plädiert in diesem Sinne für eine Sensibilisierung für Mikropraktiken, das Anekdotische bzw. das Ereignishafte, welches er in den verschiedenen Fluchtgeschichten der Rinder sieht. Diese verdeutlichen das Potenzial von Brüchen im Gefüge nur scheinbar statischer Tierhaltungssysteme und bringen damit Wege in andere Netzwerke und Formen des Seins hervor. Jenseits schwerlich machbarer Aussagen über die Intentionalität der Rinder oder gar dem Sprechen über Erfolgsgeschichten genügt es dem Autor, im „praxeologischen Paradigma zur Kenntnis zu nehmen, dass diese Praktiken existieren“. Nicht mehr, aber auch nicht weniger: Sie bringen Effekte mit sich, die im Alltag weitererzählt werden und Menschen im Sinne Deleuzes und Guattaris affizieren, heißt beeinflussen.

Dem Sammelband ist es gelungen, theoretische Werkzeuge für eine Blickerweiterung bestehender posthumanistischer Konzepte auf Tiere zusammen zu führen. Die Beiträge spannen – auf der theoretischen Ebene gut informiert – einen Bogen von der Genese klassischer Agency-Begriffe bis hin zu gegenwärtig geführten theoretischen Debatten eines breiten Spektrums an Agency-Formen. Die Bandbreite der Beiträge, die Agency bis hin als distributive und Effekte hervorbringende Kraft im Sinne Bennets denken, laden ein, weiter nachzudenken: vielleicht im Sinne einer affectivity of assemblages, die das Konzept des Handelns selbst in Frage stellt.2 Dabei argumentieren die Autor/innen an verschiedenen Stellen angenehm selbstkritisch über Notwendigkeiten aber auch Schwierigkeiten der Theoretisierung von Mensch-Tier-Verhältnissen. Mit der gegenwärtigen Fokusverlagerung des Fragens auf das praxeologisch gemeinsam hervorgebrachte „Wie“, das Prozesshafte, den Austausch und das „Werden bzw. des „becoming with“ – und damit weg von Fragen nach dem „Warum“ und der Intentionalität des Handelns – entstehen erfrischende Impulse jenseits der Debatten um die Unterscheidung von Wirkungs- und Handlungsmacht. Impulse, die für die Erforschung von Mensch-Tier-Verhältnissen, aber auch darüber hinaus für weitere komplexere Umwelt-Zusammenhänge nutzbar sein können. Empirisch methodologisch bleibt deren Erforschung nach wie vor eine große Herausforderung und der Band lässt an dieser Stelle noch viele Fragen offen. Es macht neugierig, wie sich aus dem bereit gestellten Werkzeugkasten der Theorien empirisch bedient werden wird.

Anmerkungen:
1 Orvar Löfgren, The Black Box of Everyday Life. Entanglements of Stuff, Affects, and Activities, in: Cultural Analysis 13 (2014), S. 77–98, hier S. 78.
2 Andreas Folkers, Was ist neu am neuen Materialismus? – Von der Praxis zum Ereignis, in: Tobias Goll / Daniel Keil / Thomas Thelios (Hrsg.), Critical Matter. Diskussionen eines neuen Materialismus, Münster 2013, S. 17–34, hier S. 28.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/