P. Sloterdijk: Was geschah im 20. Jahrhundert?

Cover
Titel
Was geschah im 20. Jahrhundert?. Unterwegs zu einer Kritik der extremistischen Vernunft


Autor(en)
Sloterdijk, Peter
Erschienen
Berlin 2016: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
348 S.
Preis
€ 26,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Timo Luks, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Die folgende Rezension nimmt sich die Freiheit, ein Buch zu besprechen. Die Erwartung, zu den andernorts publizierten „kontroversen Thesen“ eines „umstrittenen Autors“ Stellung zu nehmen, werde ich enttäuschen. Dass sich unterschiedliche Texte Peter Sloterdijks auf unterschiedliche Weise diskutieren lassen, liegt an der jeweils eingenommenen oder zugewiesenen Sprecherposition. Der „umstrittene Autor“ des Feuilletons macht sich in den Fußnoten des vorliegenden Bandes selbst zum „Vf.“, zieht sich also auf eine zugleich individuelle und depersonalisierte Subjektform zurück, deren Funktion darin besteht, „den Grat zwischen einem zu aufdringlichen ‚Ich‘ und einem zu unbekannten ‚Autor‘ zu gehen“.1 Gleichzeitig bietet Sloterdijk jedoch eine alternative Subjektform an. Im Namen der eingreifenden, listigen Vernunft der Sophisten wendet er sich gegen eine Wissenschaftstradition, die „eine radikale Desolidarisierung in Bezug auf die Idole des Stammes und den Übergang in das überethnische Solidarsystem der Wahrheitssuchenden“ verlange. Forderungen nach Kosmopolitismus und „nobler Heimatlosigkeit“ der Philosophie hätten, so schreibt er, eine „Wende zur Xenophilie“ in Gang gesetzt. Sloterdijk charakterisiert diese Entwicklung als „Entwaffnung der Denkenden“, die „auf die Herausbildung eines artifiziellen Subjekts“ ziele, „das in der naturwüchsigen Gesellschaft nicht vorkommt“ (S. 314f.). Der „Vf.“ gefällt sich mithin nicht nur, wie andere Rezensenten süffisant bemerkt haben2, in der Rolle des Beobachters in der Raumstation, sondern auch als Odysseus, dem einer der schönsten der zwölf Aufsätze des Bandes gewidmet ist („Odysseus der Sophist. Über die Geburt der Philosophie aus dem Geist des Reise­-Stress“).

Versteht man den Titel der Aufsatzsammlung „Was geschah im 20. Jahrhundert?“ als geschichtswissenschaftliche Frage im engen Sinn, ist der Ertrag von Sloterdijks Antworten (die aus den Jahren 2005 bis 2015 stammen) überschaubar. Die Schlagworte – Umweltbewusstsein, fossile Energie, (motorisierte) Mobilität, Wachstumsorientierung und Wachstumskritik, Konsum, Überfluss und Wohlfahrtsstaat, Migration und Globalisierung, Experimentalisierung und Extremismus – ließen sich umstandslos als Aufzählung einiger zeithistorischer Forschungsschwerpunkte der letzten Jahre lesen. In Sloterdijk’scher Terminologie ist die Rede von einem „kinetischen Expressionismus“, also einem Bewegungswillen und -eifer unter den Bedingungen leicht verfügbarer fossiler Brennstoffe, oder aber von der Epoche einer „kosmischen Unbesorgtheit“. Zum „wirklichen Novum des 20. Jahrhunderts“ wird aus dieser Perspektive die „Konstruktion des westlichen Systems der Lebensentlastung auf der Basis des extensiven Steuerstaats und der fossilienenergetisch fundierten Zivilisation des Massenkomforts“ (S. 114).

Eine Ereignisgeschichte war natürlich von vornherein nicht zu erwarten, aber auch die an strukturellen Besonderheiten und einem Interpretationsrahmen der fraglichen Epoche interessierten Antworten sind wenig spektakulär. In einem ersten Anlauf unternimmt Sloterdijk (wie schon andere vor ihm) den Versuch, das Anthropozän als Epochenbegriff produktiv zu machen. Angesichts der genannten Themenfelder ist das durchaus plausibel. Die in diesem Begriff gefasste Überzeugung, dass der Mensch „für die Bewohnung und Geschäftsführung der Erde im ganzen verantwortlich geworden [ist], seit seine Anwesenheit auf ihr sich nicht länger im Modus der mehr oder weniger spurlosen Integration vollzieht“ (S. 7), findet ihr Gegenstück in der Deutung des 20. Jahrhunderts als Zeitalter der „extremistischen Vernunft“. Während im ersten Fall die nicht-intendierten Nebenfolgen menschlichen Handelns auf die globale Umwelt – Emissionen – in den Blick rücken, lenkt der zweite Fall die Aufmerksamkeit auf die rast- und ruhelosen Versuche, die Welt umzugestalten. Einerseits zeige sich das in der Entstehung eines „experimentellen Geists“, andererseits in Ungeduld und „Fundamentalismen der Simplifikation“: Das 20. Jahrhundert sei „das Jahrhundert des sofortigen Vollzugs, in dem das Standrecht der Maßnahmen sich an die Stelle von Geduld, Vertagung und Hoffnung setzt“ (S. 130). Würde man derartige Bestimmungen mit den inzwischen zahlreichen geschichtswissenschaftlichen Forschungen zum modernen Social Engineering verbinden, dann ist das zwar schön formuliert, inhaltlich aber wenig überraschend.3

Der vielleicht wichtigste Impuls der Aufsatzsammlung für eine geschichtswissenschaftliche Problematisierung des 20. Jahrhunderts liegt im periodisierenden Zugriff. Sloterdijk folgt einem geologischen Modell, das – in der Geschichtswissenschaft nicht unbekannt – auf die Existenz verschiedener Zeitschichten abhebt, die nicht nur übereinander geschichtet sind, sondern auf nicht immer leicht zu sehende Weise interagieren, dabei aber einer je eigenen Logik folgen. Ungenannte Paten dieses Modells sind natürlich Fernand Braudel und Reinhart Koselleck. So klingt es deutlich nach Braudel, wenn Sloterdijk mit Blick auf die Geschichte der Globalisierung bemerkt, die globalen Finanzmärkte seien nur das „oberste Segment in einem mehrstufigen Verkehrssystem, das auf der Verschränkung von relativ langsamen Massenströmen und schnellen Signalübertragungen beruht“ (S. 61). Computerisierte Finanztransaktionen oder global vernetzte Produktionsketten lassen sich aus einer solchen Perspektive rückbinden an „die Routinen […], die von den frühen Seefahrern entwickelt wurden, um das Experiment Ozean zu bewältigen“ (S. 64). Dieses geologische Periodisierungsmodell ermöglicht eine Einbettung des 20. Jahrhunderts – und, je nach Bezugspunkt, alternative Etikettierungen der in Frage stehenden Epoche: Neuzeit, Moderne, Anthropozän usw. So verankert Sloterdijk das „Zeitalter der kämpfenden Realismen“ und den „resoluten Aktualismus“ (beides Signaturen des 20. Jahrhunderts) in tieferen Schichten. Die lange Dauer wie auch die Transformation bestimmter, „moderner“ Haltungen würden verkannt, „wenn man das Zeitfenster der Analyse auf die Spanne von 1914 bis zur Gegenwart begrenzt. […] Man muß vielmehr bis in die Ära der Renaissancekünste und der barocken Universalmagie zurückgehen, um dort die entscheidenden Kraftlinien aufzunehmen, deren triumphale Manifestation im 20. Jahrhundert augenfällig wird.“ (S. 131) Ganz ähnlich gestaltet sich die außerordentlich spannende Diskussion des Habitus der „Problemlösung“, der in hohem Maß mit der (Post-)Moderne verbunden zu sein scheint, bei Sloterdijk jedoch mittels Rekurs auf Odysseus konturiert wird. Odysseus wird so zu einer Sozialfigur, der die Zeitgeschichte auch „nach dem Boom“ begegnet. Er ist „ein Kämpfer, der gelernt hat, jede Not in eine Aufgabe zu verwandeln. Aus seiner Nacktheit macht er ein Argument, aus seiner Mittellosigkeit ein Projekt“ (S. 267). Und damit kündige sich „das geistesgeschichtliche Großereignis an, das man nicht anders als das griechische Wunder nennen kann: die Geburt der Probleme aus der stolzen Gewißheit des Umgehenkönnens mit ihnen“ (S. 270).

Sloterdijks Philosophie landet (und startet) mit dem Versuch, ihre Zeit auf den Begriff zu bringen, erstens bei Buckminster Fullers Thesen vom „Raumschiff Erde“ aus dem Jahr 1968; bei der Idee also, dass die Erde nicht mehr Naturgröße, sondern „riesenhaftes Artifizium“ sei. Damit werde es notwendig, dass die Menschen sich an der „Aufrechterhaltung lebbarer Verhältnisse im Innern des Fahrzeugs interessiert zeigen“ (S. 24). Sloterdijk landet (und startet) zweitens bei der Erkenntnis der Welt als Globus und „Umwelt“, bei den Grenzen des Wachstums und der Erschöpfung der Ressourcen. Ihm erscheinen diese Positionen als höchste Stufe eines Bewusstwerdungsprozesses. Mit Buckminster Fuller und Peter Sloterdijk, so soll es scheinen, wird die Menschheit sich endlich und gerade noch rechtzeitig, um den Untergang abzuwenden, ihrer selbst und der Globalität ihrer Existenz bewusst – als Besatzung eines Raumschiffs, die ebenso verantwortlich für die Probleme an Bord ist, wie sie in der Lage ist, diese Probleme in den Griff zu bekommen. Aus zeitgeschichtlicher Perspektive bekämen derartige Thesen und Topoi freilich eine andere Bedeutung.4

Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug bekanntlich in der Abenddämmerung. Peter Sloterdijks Band zeigt allerdings, dass sie gut beraten ist, am nächsten Morgen zu Klio zurückzukehren. Andernfalls läuft sie Gefahr, die Konturen und das Denken einer vergangenen Epoche als „Gegenwart“ zu missdeuten. Eine entschiedene Historisierung des intellektuellen Fundaments philosophischer Zeitdiagnostik à la Sloterdijk macht es dagegen möglich, einer ungebrochenen Fortschreibung ökoapokalyptischer Technikphilosophie zu entgehen, deren historischen Ort die Zeitgeschichte längst bestimmt hat.

Anmerkungen:
1 Thomas Etzemüller, Ins „Wahre“ rücken. Selbstdarstellung im Wissenschaftsbetrieb, in: Merkur 69 (2015), Heft 10, S. 31–47, Zitat S. 33; vgl. im Detail auch: ders., Der „Vf.“ als biographisches Paradox. Wie wird man zum „Wissenschaftler“ und (wie) lässt sich das beobachten?, in: Thomas Alkemeyer / Gunilla Budde / Dagmar Freist (Hrsg.), Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 175–196.
2 So etwa Dirk Pilz, Sloterdijks Widersprüche sind eklatant, in: Frankfurter Rundschau, 16.03.2016, <http://www.fr-online.de/literatur/--was-geschah-im-20--jahrhundert---sloterdijks-widersprueche-sind-eklatant,1472266,33957728.html> (15.05.2016).
3 Zu dieser Diskussion vgl. mit weiterer Literatur: Timo Luks, Eine Moderne im Normalzustand. Ordnungsdenken und Social Engineering in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 23 (2012), Heft 2, S. 15–38.
4 Für eine konsequente Historisierung etwa der Thesen Buckminster Fullers im Kontext eines neuen „globalen Bewusstseins“ vgl. David Kuchenbuch, „Eine Welt“ im Bild: Medialisierungen des Selbst-Welt-Verhältnisses in den 1970er- und 1980er-Jahren, in: Ariane Leendertz / Wencke Meteling (Hrsg.), Die neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er-Jahren, Frankfurt am Main 2016, S. 63–92. Siehe auch Sabine Höhler, Spaceship Earth in the Environmental Age, 1960–1990, London 2015; rezensiert von David Kuchenbuch (mit Verweisen auf Sloterdijk), in: H-Soz-Kult, 24.04.2015, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-23853> (15.05.2016).

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