G. Hübinger: Engagierte Beobachter der Moderne

Cover
Titel
Engagierte Beobachter der Moderne. Von Max Weber bis Ralf Dahrendorf


Autor(en)
Hübinger, Gangolf
Erschienen
Göttingen 2016: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
277 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Hertfelder, Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart

Der Begriff des Intellektuellen hat im Verlauf seiner gut 100 Jahre währenden Karriere so viele Aufladungen und Differenzierungen erfahren, dass Dietz Bering 2010 in seinem systematisierenden Versuch resigniert von einem „Begriffskonfetti“ aus nicht weniger als 59 verschiedenen Intellektuellen-Begriffen gesprochen hat.1 Einen Grund für die terminologische Pulverisierung mag man in der notorischen Neigung Intellektueller zur distinktiven Selbstthematisierung finden, der die Forschung oftmals allzu gern folgt. Dies gilt auch für Gangolf Hübingers Band „Engagierte Beobachter der Moderne“, der elf seiner Aufsätze aus den Jahren 1994 bis 2015 versammelt. Mit dem Begriff des „engagierten Beobachters“ hatte Raymond Aron 1983 seine eigene intellektuelle Haltung zu kennzeichnen gesucht.2

Engagierte Beobachter, so Hübinger, nehmen an den vorherrschenden Diskursen der Zeit teil, versuchen deren Themen und Richtung zu bestimmen und entwickeln dabei nicht nur einen sorgsam reflektierten Standpunkt, sondern vor allem eine ausgeprägte zeitdiagnostische Kompetenz. Sie verschreiben sich weder einem bestimmten Kollektiv noch einer geschlossenen Ideologie und sitzen deshalb oftmals zwischen den Stühlen. Foucaults „spezifischem Intellektuellen“ sind sie wahlverwandt, indem sie ihre Deutungsmacht primär aus wissenschaftlicher Expertise beziehen, doch charakterisiert sie dabei der Versuch, die Spannung zwischen den Rollen des Analytikers, des Interpreten und des Handelnden auszuhalten. Dies verweist auf Immanuel Kant als philosophischen Patron und auf Max Weber als Prototyp des „engagierten Beobachters“. Das Biotop, in dem dieser Typus des Intellektuellen geboren wurde, war der sich um 1900 rasant ausbildende Massenmarkt widerstreitender Ordnungsentwürfe, Ideen und Interessen, also die „pluralisierte und demokratisierte Moderne“ (S. 14), so Hübingers mittlerweile gut belegte These.3 Seine andere, an Ralf Dahrendorf4 anschließende These bedürfte noch einer genaueren Prüfung: Die Position der engagierten Beobachter sei in die Geschichte der Intellektuellen zu Unrecht als eine „schwache Haltung“ eingegangen. Dabei seien es doch die engagierten Beobachter der „kulturellen Achsenzeit um 1900“ (S. 18) gewesen, deren Habitus sich für das 20. Jahrhundert à la longue als prägend erwiesen habe.

Es gehört seit je zu den Stärken von Hübingers Ansatz, dass er konfligierende Ideenpolitiken nicht allein im Reich der Geister verhandelt, sondern sie auf Medien, Verlage und Märkte, auf intellektuelle Macht- und Kraftfelder bezieht, die der Zirkulation der Ideen Wirkung und Geltung verschafften. So zeichnet er im ersten, „Aufbrüche“ betitelten Teil des Bandes die Entwicklung der 1904 von Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber neu gegründeten Zeitschrift „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ nach, die vor dem Ersten Weltkrieg als innovatives Organ methodologischer Reflexion „kreative Randfiguren des akademischen Establishments im Kaiserreich“ (S. 26) zusammenführte und während der Weimarer Republik den radikalisierten Ordnungsentwürfen bolschewistischer, faschistischer und nationalistischer Provenienz eine entschiedene Absage erteilte.

Zu Beatrice Webb und Jane Addams, den beiden weiblichen Führungsfiguren fabianischer bzw. progressiver Sozialreform in Großbritannien und in den USA, denen sich Hübinger sodann zuwendet, passt der Begriff „engagierte Beobachter“ hingegen nur bedingt. Webb spitzte ihre früheren sozialtechnokratischen Reformkonzepte auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise zu und wurde fortan nicht müde, die Geburt einer neuen Zivilisation in Stalins Sowjetunion zu feiern – ein typischer Fall des „Verrats der Intellektuellen“, so Hübinger (S. 59). Auf eigentümliche Weise oszilliert hier die Analyse um zeitgenössische Sichtweisen – etwa den normativen Topos vom „Verrat“ – und um einen fast teleologisch anmutenden Perspektivpunkt, der Webb und Addams am Ende die „klaren Optionen für eine Zähmung kapitalistischer Energien durch den Aufbau eines leistungsfähigen Sozialstaats“ zu Gute hält (S. 63).

Bei aller intellektueller Brillanz blieben die engagierten Beobachter im 20. Jahrhundert nicht zuletzt deshalb häufig Randfiguren, weil sie den das Jahrhundert lange bestimmenden Narrativen vom Marxismus über den Sozialdarwinismus bis zur sozialwissenschaftlichen Modernisierungstheorie nicht folgten und sich weigerten, das richtige Handeln aus der Erkenntnis objektiver historischer Prozesse zweifelsfrei hervorgehen zu lassen. In seinem aufschlussreichen Text über „Geschichtsdenken, kulturelle Evolution und sozialen Darwinismus“ zeichnet Hübinger einige prominente Ausformungen des evolutionistischen Paradigmas in Europa und den USA nach. Hier stellt sich die Frage, ob der von ihm vorgeschlagene Begriff des engagierten Beobachters das Feld nicht zu sehr normativ verengt, indem er – orientiert am Leitbild Max Webers, dem „‚engagierten Beobachter‘ avant la lettre“ (S. 112) – das Offen- und Aushalten von Spannungen zwischen divergierenden Wertsphären und Lebensordnungen, zwischen Erkennen und Handeln zu dessen Merkmal erklärt. Müssen Theoretiker gesellschaftlicher Evolution – etwa Oswald Spengler, Walt W. Rostow, Daniel Bell – aus dem Kreis der engagierten Beobachter herausfallen, weil sie diese Spannungen gar nicht erst „aushalten“ wollten, sondern vielmehr historizistisch aufzulösen versuchten?

Von Hübingers Ansatz her ist es folgerichtig, dass der zentrale, mit „Spannungen“ überschriebene Teil des Buches je zwei Aufsätze zu Max Weber und Ernst Troeltsch enthält. In den beiden Texten zu Weber bietet der Mitherausgeber der auf 47 Bände angelegten Max-Weber-Gesamtausgabe eine profunde problemorientierte Einführung in dessen Gedankenwelt, die aus genauer Kenntnis der Quellen schöpft. Dabei liegt der Akzent gleich mehrfach auf Webers Aktualität – auch in Bereichen, wo dieser gerade nicht aktuell ist. So hält Hübinger die Leitperspektive, die Weber seiner „Protestantischen Ethik“ zu Grunde legte, dem „heutigen Geschichtsdenken“, das sich in „immer kleinteiligeren turns“ verliere (S. 117), mahnend entgegen. In Webers Idee eines konstruktivistischen Zugriffs auf die Vergangenheit, der jede Forschergeneration zur „denkenden Umbildung“ der Geschichte zwinge, sieht Hübinger Reinhart Kosellecks Postulat des „Umschreibens“ von Geschichte bereits vorformuliert. In problemgeschichtlicher Perspektive aber bestimme vor allem jene Dauerspannung zweier gegenläufiger Rationalitäten – nämlich derjenigen des modernen demokratischen Staates und des modernen Kapitalismus –, die Hübinger in Webers Spätwerk ausmacht, die Lage der Demokratien bis heute. Kurz: Weber ist ihm alles andere als jener tote Hund, als der er im Licht des Cultural Turn und neuer geschichtstheoretischer Entwürfe oftmals erscheint.5

Die beiden Aufsätze zum Religionsphilosophen Ernst Troeltsch, der das Gegenmodell zu Webers sezierendem Rigorismus liefert, konturieren das von Hübinger entworfene Bild des „engagierten Beobachters“ in zwei Richtungen. Zum einen sieht Hübinger in Troeltschs weit ausgreifendem geschichtsphilosophischen Anlauf zu einer europäischen Kultursynthese den (vergeblichen) Versuch, durch die wissenschaftliche Klärung zeitgemäßer „kollektiver Erinnerungsorte“ den Bildungseliten ein Stück jener „Generalkompetenz“ zurückzugewinnen, die sie im Verlauf des 19. Jahrhunderts eingebüßt hatten. Zum anderen tritt uns Troeltsch in seinen 56 pseudonymen „Spectator-Briefen“ aus den Jahren 1919 bis 1922, die jetzt in der Kritischen Gesamtausgabe vorliegen6, als engagierter Beobachter par excellence entgegen, dem es um die Gewinnung des liberalen Bürgertums für die politische Ordnung und Kultur der – elitendemokratisch gedeuteten – Weimarer Republik ging.

Den Bogen zu den Intellektuellen des ausgehenden 20. Jahrhundert schlägt Hübinger in zwei knappen Essays zu Fritz Stern, Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas. Alle drei rückten als Universitätsprofessoren über die permanente Akkumulation symbolischen Kapitals ins Zentrum intellektueller Auseinandersetzung, alle drei bezogen sich auf den biographisch unterschiedlich erfahrenen Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus, alle drei „45er“ betraten vor diesem Hintergrund als streitbare Verteidiger der westlich-liberalen Kultur die Bühne. Während Hübinger bei Stern, der mehrfach an öffentlichen Manifesten mitwirkte, „typische Aktionsmuster des Gelehrten-Intellektuellen“ (S. 206) und in den Ehrungen, die er in der Bundesrepublik seit Mitte der 1980er-Jahre erhielt, einen Prozess westdeutscher Selbstbeobachtung ausmacht, figurieren Dahrendorf und Habermas in ihrer unterschiedlichen Kant-Lektüre als Protagonisten eines Wettstreits „um die besseren Kriterien der europäischen Aufklärung“ (S. 217): Gegenüber dem liberalen Konflikttheoretiker Dahrendorf, der Kant durch die Brille Webers las, habe sich Habermas mit seinem radikaldemokratischen Modell deliberativer Meinungs- und Willensbildung an einer Synthese von Kant und Rousseau versucht; entsprechend unterschiedlich hätten die beiden Großintellektuellen auf den weltpolitischen Umbruch der Jahre 1989/90 reagiert. Somit schrieben jedoch beide, so Hübingers These, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts anhebende Geschichte des Gelehrten-Intellektuellen unter den Bedingungen medialer Massenkommunikation fort.

Eine Gesamtwürdigung des Bandes kann auf zwei Ebenen ansetzen. Wer die ganze Publikation als Versuch versteht, den von Aron eingeführten Begriff des engagierten Beobachters kategorial zu schärfen, wird feststellen, dass es diesem Terminus im Dickicht konkurrierender Bezeichnungen wie „Gelehrten-Intellektuelle“, „public moralists“ oder „spezifische Intellektuelle“ an eben jener Trennschärfe mangelt, die Hübinger an Max Webers Begriffsbildung bewundert. Mustert man die Galerie bedeutender Intellektueller des 20. Jahrhunderts, wird man bemerken, wie schwer in vielen Fällen eine Zuordnung zu der hier vorgeschlagenen Kategorie fällt. Außerdem bleibt durch die Fixierung auf Weber als heroischen Prototyp des engagierten Beobachters die institutionelle Seite des intellektuellen Engagements, bleiben die Netzwerke und Vereinigungen, die Hochschulen und Thinktanks insgesamt unterbelichtet. Wer die elf Aufsätze hingegen einzeln liest, wird von den luziden Analysen intellektueller Positionen und Konstellationen des beginnenden und des endenden 20. Jahrhunderts, die Gangolf Hübinger als souveränen Kenner der Materie ausweisen, in hohem Maß profitieren.

Anmerkungen:
1 Dietz Bering, Die Epoche der Intellektuellen 1898–2001. Geburt, Begriff, Grabmal, Berlin 2010, S. 534–537. Siehe auch die Rezension von Gangolf Hübinger, in: H-Soz-Kult, 16.05.2011, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-15633 (11.01.2017).
2 Raymond Aron, Erkenntnis und Verantwortung. Lebenserinnerungen, München 1983, S. 101.
3 Vgl. etwa Gangolf Hübinger, Journalist und Literat. Vom Bildungsbürger zum Intellektuellen, in: ders. / Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.), Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt am Main 1993, S. 95–110; ders., Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen 2006; ders., Religion und politische Streitkultur im „Jahrhundert der Intellektuellen“, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.), Intellektuellen-Götter. Das religiöse Laboratorium der klassischen Moderne, München 2009, S. 101–120.
4 Ralf Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München 2006.
5 Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt am Main 2001, S. 77–89; vgl. dazu die Antikritik von Hans-Ulrich Wehler, Ein Kursbuch der Beliebigkeit, in: ZEIT, 26.07.2001, http://www.zeit.de/2001/31/Ein_Kursbuch_der_Beliebigkeit (11.01.2017). Achim Landwehr, Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt am Main 2016, kommt ohne jeden Verweis auf Weber aus.
6 Ernst Troeltsch, Spectator-Briefe und Berliner Briefe (1919–1922), hrsg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Nikolai Wehrs, Berlin 2015 (= Troeltsch – Kritische Gesamtausgabe 14).