P. Sänger (Hrsg.): Minderheiten und Migration

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Titel
Minderheiten und Migration in der griechisch-römischen Welt. Politische, rechtliche, religiöse und kulturelle Aspekte


Herausgeber
Sänger, Patrick
Reihe
Studien zur Historischen Migrationsforschung 31
Erschienen
Paderborn 2015: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
242 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Winfried Schmitz, Abteilung für Alte Geschichte, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Als Tassilo Schmitt im Jahr 2000 den Artikel ‚Migration‘ für den ‚Neuen Pauly‘ vorlegte, fehlte für dieses Thema noch weitgehend eine empirische und theoretische Grundlage. Den antiken Sprachen mangele es für ‚Migration‘ an einem einheitlichen Begriff und viele der heute unter dem Begriff zusammengefassten Phänomene würden in der althistorischen Forschung unter anderen Blickwinkeln diskutiert. Mit Ursprungslegenden und Mythen zum Beispiel über die Herakliden, die nach der Einwanderung die Peloponnes unter sich aufgeteilt haben sollen, hätten antike Zeitgenossen ein eigenes Modell für die Deutung ihres Anfangs durch Zuwanderung entworfen. Tassilo Schmitt verweist auf die Erkenntnispotenziale der neueren Migrationsforschung mit ihren Wurzeln in der Demographie, Kultur- und Sozialgeschichte, die allzu mechanistische Vorstellungen und statische Modelle überwunden hätte. Die Forschung gehe heute von einem „komplizierten Bedingungsgeflecht historischen Wandels durch Transfer von Technologien und Vorstellungen“ aus. Um das Forschungsfeld weiter zu entwickeln, bedürfe es „eines methodisch und theoretisch weit gespannten interdisziplinären Horizontes, vor dem die Einheit des Phänomens zu konstituieren, gegenüber simplifizierenden und Vorurteile reproduzierenden Generalisierungen Grenzen abzustecken sind, Typologien und Periodisierungen gewonnen und zugleich die Bedeutung empirischer Studien deutlich gemacht werden müssen“.

Mit dem vorliegenden Band, hervorgegangen aus einem 2011 abgehaltenen Heidelberger Symposion, wird die empirische Basis durch zehn wissenschaftlich anspruchsvolle Beiträge erweitert, die methodisch-theoretische Erfassung des Phänomens aber weitgehend ausgespart. Die Beiträge reichen vom fünften vorchristlichen Jahrhundert bis zur Wanderung der Ostgoten in der Spätantike. Mehrere Beiträge sind den jüdischen Gemeinden in Rom und Ägypten gewidmet. Allerdings kann die Einteilung in drei Rubriken ‚Minderheiten und Migration als Politikum‘, ‚rechtliche Normen und Grauzonen‘, ‚religiöse und kulturelle Aspekte‘ kaum verdecken, dass es sich um zehn ganz eigenständige, in der Zusammenschau heterogene Beiträge handelt.

Der Herausgeber Patrick Sänger greift im ersten Beitrag am Beispiel von Herakleopolis die viel diskutierte Frage auf, welchen Status das jüdische politeuma hatte. Auf Grundlage neu publizierter Papyri kann er bestätigen, dass das politeuma als semi-autonome Verwaltungseinheit wesentlich zur Integration ethnischer Gemeinschaften im Ptolemäerreich beitrug. Ernst Baltrusch legt überzeugend dar, mit welchen Formen von Verachtung, Hass und Ablehnung die in der Stadt Rom lebenden Juden, aber auch andere Minderheiten konfrontiert waren. Augustus und den nachfolgenden Kaisern war mehr an einer res publica restituta gelegen als an Schutzrechten einer multikulturellen Gesellschaft. Toleranz für andere Kulturen fehlte. Nur geringe Bezüge zum Thema Minderheiten und Migranten hat der Beitrag von Kerstin Sänger-Böhm, die sich mit den diplomatischen Beziehungen zwischen jüdischem Königshaus und Frauen am kaiserlichen Hof beschäftigt, die dadurch in ein patronales Verhältnis zu den jüdischen Herrschaftsrepräsentanten traten.

In einem umfangreichen Aufsatz greift Elizabeth Irwin das viel diskutierte und in seiner Zielsetzung umstrittene Bürgerrechtsgesetz des Perikles auf. Sie bringt das Gesetz von 451/0 mit der Verlegung der Seebundskasse nach Athen in Verbindung und wertet das Gesetz als Ausdruck einer Abschottungstendenz gegenüber den Bündnern. Konzentriert ist ihr Beitrag auf die Konsequenzen, die das Gesetz für Bastarde hatte, die kein Anrecht mehr auf das athenische Bürgerrecht und eine politische Partizipation hatten. Allerdings überzeugt mich nicht, dass das Gesetz eine nicht unerhebliche Zahl von Personen hervorgebracht habe, die – obwohl von einflussreichen Vätern abstammend – als ausgeschlossene Gruppe auf die oligarchischen Umstürze am Ende des 5. Jahrhunderts hingewirkt hätten. Das Gesetz wird vielmehr zur Konsequenz gehabt haben, dass Athener aus der Oberschicht fast ausschließlich athenische Frauen heirateten, um ihren Kindern das Bürgerrecht zu sichern. Hinzu kommt, dass Irwin die überzeugenden Argumente von E. Carawan,1 430/29 sei das perikleische Bürgerrechtsgesetz revidiert worden und von pallakai geborene Kinder hätten beim Fehlen rechtmäßiger Erben in die Bürgerlisten eingeschrieben werden können, mit wenig stichhaltigen Einwänden ablehnt. Zuzustimmen ist ihr sicherlich in der Beurteilung, dass die Athener mit dem Bürgerrechtsgesetz sowohl eine geschlossene Abstammungsgruppe (descent group) als auch eine Interessengruppe (interest group) wurden, doch sollte auch die Möglichkeit ins Auge gefasst werden, Perikles habe mit seinem Gesetz verhindern wollen, dass Kinder von Metöken, die in nicht rechtsgültigen Beziehungen mit athenischen Frauen lebten, in die Bürgerschaft kamen. Ausgehend von dem Konzept eines modernen internationalen Privatrechts fragt Nadine Grotkamp, ob das antike Recht eine klare Vorstellung von Rechtskollisionen hatte oder sich ein dem modernen internationalen Privatrecht entsprechendes übergeordnetes Recht feststellen lässt. Sie prüft dies an der Rechtsstellung der Metöken in Athen, an der Koexistenz griechischer und ägyptischer Rechtsgewohnheiten im hellenistischen Ägypten und am Beispiel lokaler Rechte im Römischen Reich.

So häufig die constitutio Antoniniana zum Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen geworden ist, so selten haben sich Wissenschaftler mit der Frage beschäftigt, wie die Bürgerrechtspolitik nach 212 ausgestaltet war. Trotz der großen Zahl von Rechtskonstitutionen fehlen dazu explizite Quellenaussagen; doch lassen sich indirekte Schlüsse aus den rechtlichen Bestimmungen, zum Beispiel zur Heirat, ziehen. Ralph Mathisen kommt zu dem gut begründeten Ergebnis, dass alle freien und auf römischem Gebiet siedelnden Personen, vielfach Angehörige ‚barbarischer‘ Stämme, die für Rom Kriegsdienst leisteten, als potenzielle römische Bürger gelten konnten, wenn sie die Verpflichtungen ihrer Stadtgemeinden übernahmen. Als freie Personen konnten sie sich des römischen ius civile bedienen. Seine Anwendung machte aus freien Immigranten römische Bürger. Die constitutio Antoniniana wurde als ‚self-perpetuating‘ verstanden. Dieses Prinzip hatte eine ungeheure integrative Wirkung – ganz im Gegensatz zum begrenzenden perikleischen Bürgerrechtsgesetz.

In die Lebenswelt des frühen Christentums führt der Beitrag von Hans Förster. Als Reaktion auf Verfolgung und Repression bildeten sich spezielle Formen der Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft gegenüber Geflüchteten und reisenden Glaubensbrüdern heraus, die zu einem weit ausgreifenden Netzwerk führten. Mit der ungewöhnlichen Lebensgeschichte des offenbar aus indischer Familie stammenden Sophytos macht Julia Lougovaya vertraut. Durch Handelsreisen zu Reichtum gelangt, kehrte Sophytos als wohlhabender Mann zurück, baute Haus und Grab seiner Vorfahren wieder auf und beauftragte einen Poeten, die Erinnerung an ihn in einer Inschrift zu bewahren, die in Kandahar gefunden wurde. In philologisch akribischer Interpretation zeigt Lougovaya gräko-baktrische und indo-parthische Einflüsse auf; sein Leben in einer (auto-)biographischen Inschrift festzuhalten, gehe möglicherweise auf ägyptische Vorbilder zurück, die Sophytos als Fernhändler von indischen Häfen aus kennengelernt hatte. Die Gegenüberstellung von literarischen und archäologischen Quellen zur Wanderung der Ostgoten nimmt Roland Prien zum Anlass für die berechtigte Forderung, beide Quellengattungen zunächst strikt getrennt auszuwerten und in ihrer Eigenständigkeit ernst zu nehmen. Bei den Ostgoten stehen relativ ausführliche literarische Zeugnisse einem Mangel an eindeutig auszuwertenden archäologischen Quellen gegenüber, so dass der Weg der Ostgoten von Pannonien nach Italien archäologisch nicht nachgezeichnet werden kann. Prien verweist auf das grundsätzliche Problem, geschlossene ethnische Gruppen im Fundmaterial wiederfinden zu wollen. Der sehr gute Überblick über die frühgeschichtliche Forschung macht die Ansätze dieser Disziplin deutlich, Ethnizität und Identität einer Gruppe zu fassen und methodische Vorsicht walten zu lassen, wenn man Migration an archäologischem Fundgut nachweisen will.

In diesen theoretischen Aspekten am weitesten geht der Beitrag von Robert Kugler, der am Beispiel dokumentarischer Texte aus dem ptolemäischen Ägypten das Ineinandergreifen von jüdischen, griechischen und ägyptischen Rechtstraditionen darlegt. In methodischen Vorbemerkungen stellt er klar, dass die jüdischen Gemeinden in Ägypten nicht als religiöse, sondern als lang etablierte ethnische Minderheiten verstanden werden sollten. Daher sollte man präziser von Judäern sprechen. Anhand von Petitionen solcher in Ägypten lebender Judäer weist Kugler nach, dass die Bittsteller je nach dem Ziel ihrer Eingabe auch mit griechischen und ägyptischen Rechtsvorstellungen argumentierten. In seinem Bild fluider und wandelbarer Identitäten folgt Kugler dem Konzept von Ethnizität von Jonathan M. Hall. Kulturelle, sprachliche, religiöse und politische Einflüsse konfigurieren ethnische Gruppen stets neu; sie verfolgen Assimilierungs- und Abgrenzungstendenzen und können daher regional unterschiedlich ausgeprägt sein.

Insbesondere in diesem Beitrag lassen sich wichtige methodisch-theoretische Ansätze für eine historische Migrationsforschung greifen. Doch bei vielen der bisher vorgelegten empirischen Studien zur Migrationsforschung für die Antike bleibt die Arbeit an einem methodisch-theoretischen Konzept noch ein Desiderat. Es sollte weiter reichen, als nur eine sicherlich wünschenswerte magistra vitae (S. 22) in Bezug auf den Umgang mit Minderheiten und Migranten.

Anmerkung:
1 Edwin Carawan, Pericles the Younger and the Citizenship Law, in: CJ 103 (2008), S. 383–406.

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