T. Hu: A Prehistory of the Cloud

Cover
Titel
A Prehistory of the Cloud.


Autor(en)
Hu, Tung-Hui
Erschienen
Cambridge MA 2015: The MIT Press
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
$ 25.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Dommann, Historisches Seminar, Universität Zürich

Die Museumsbesucher, die diesen Sommer in der Winterthurer Kunsthalle die Ausstellung „Deep State“ von Trevor Paglen besuchten, sahen auf den ersten Blick das, was sie in einem Kunstmuseum erwarten konnten: White Cubes und edel gerahmte Bilder, einige zu Triptychons arrangiert.1 Doch hinter den Glasgehäusen und Vitrinen eröffnete sich eine Welt, die erst in den letzten Jahren durch die Arbeiten von Trevor Paglen, Hito Steyerl und Laura Poitras Einzug in die Kunstmuseen gehalten hat2: Memorabilien aus dem Fundus von Geheimdiensten, technische Bilder und Pläne, die den Blick von Überwachungstechnologie zur Darstellung bringen – etwa Fotografien der Spuren von geheimen amerikanischen Überwachungssatelliten oder Videomitschnitte von Satelliten-Trackern. In der Arbeit „The Other Night Sky“ in der Kunsthalle Winterthur waren etwa teleskopische Fotos von Satelliten zu sehen, welche mittels der Daten von Amateuren geortet wurden. In der Mitte der Kunsthalle thronte auf einem weissen Sockel ein Apparat in einem Glaskasten: die Skulptur „Autonomy Cube“ aus dem Jahr 2014. Bei dem Kunstwerk handelt es sich um eine Relaystation, die Teil des weltumspannenden Tor-Netzwerkes ist und es den Usern ermöglichen soll, sich anonym und unbemerkt im Internet zu bewegen.3

Können wir den Fängen der Überwachungstechnologien noch entkommen? Ist das Netzwerk Tor, berühmt geworden durch seinen prominentesten Nutzer Edward Snowden, ein subversiver Akt, der das Überwachungsregime zu unterminieren mag und uns dabei hilft, unsere verlorene Privacy wiederzugewinnen? Nein, so argumentiert Tung-Hui Hu, der ehemalige Netzwerkingenieur, der inzwischen an der University of Michigan in Ann Arbor an einem Literaturwissenschaftsinstitut unterrichtet, in seinem ziemlich ungemütlichen Essay zur Geschichte der Cloud als einer heimtückischen Phantasie: Tor behebe bloß das individuelle Überwachungsproblem und stelle keine Lösung des politischen Problems der Überwachung dar. Künstlerische Praktiken, wie die in Winterthur gezeigte Auseinandersetzung von Trevor Paglen mit der Geheimhaltung von Staaten, mit Anonymisierungstechnologien von Usern und der Bildproduktion durch Überwachungstechnologien sind für Hu allerdings ein wichtiger Hoffnungsschimmer, weil sie zu den seltenen Versuchen gehören, zu Denkalternativen jenseits der Phantasie der User-Partizipation anzuregen. Indem Paglen etwa in „The Other Night Sky“ durch eine Zusammenarbeit mit Satelliten-Trackern das gegenseitige Sehen und Gesehenwerden offenlege, trage er dazu bei, Überwachungsbilder relational zu verstehen und die wechselseitigen Beziehungen zwischen der Sphäre des Sichtbaren und des Geheimen, zwischen den Beobachtern und den Beobachteten aufzudecken.

Tung-Hui Hu interessiert sich für die Geschichte der Cloud (jener internetbasierten Rechen- und Speicherplattformen, die wir täglich nutzen, ohne es zu merken) als einer Metapher. Er fragt danach, welche Ursachen und Konsequenzen es hat, wenn Gesellschaften sich seit den 1960er-Jahren zunehmend als Cloud verstehen. Damit zusammenhängend stellt er auch die Frage, inwiefern das rechnergestützte Selbstverständnis der Cloud den Staat und die damit verbundene Vorstellung von Souveränität verändert hat. Um diese Fragen zu erörtern, setzt er sich auch mit den verfügbaren theoretischen Angeboten auseinander (insbesondere mit Michel Foucault und Gilles Deleuze und ihren Konzepten der Disziplinar- bzw. Kontrollgesellschaft sowie mit Überlegungen aus der politischen Theorie zur Souveränität) und stellt zur Diskussion, ob diese unter den neuen technischen Bedingungen noch brauchbar sind und was durch diese Theorien nicht abgedeckt wird.4

Hus Geschichte der Cloud könnte man als eine Genealogie im Sinne Michel Foucaults bezeichnen, die sich für die Bedingungen interessiert, unter denen es möglich ist, dass die Cloud zur dominanten Beschreibung der Internetkultur geworden war, ohne dass jemand sagen könnte, was sie ist, ob sie an einen physischen Ort gebunden ist und wie man eine Cloud denn beobachten könnte. Hu hat sich sein Quellenmaterial selektiv zusammengesucht – aus populären Medien, der Computerkultur, der visuellen Kultur und bei Künstlern wie Paglen, die für Hu so etwas wie „Frühwarnsysteme“ darstellen. Sein Essay ist also nicht als eine Geschichte im Sinne eines geschichtswissenschaftlichen Geschichtsverständnisses (welche sich systematisch mit dem Wissen, der Technik, den Organisationsformen oder den Arbeitsbedingungen von Rechenzentren beschäftigen würde) zu lesen, sondern als eine explorative Suche nach Möglichkeiten einer Kritik an einer Politik, welche die Handhabung von digitalen Daten letztlich, in ihrer extremsten Form, auch zu einer Form der Gewalt und zu einer Frage über Leben und Tod werden lässt.

Zu Beginn argumentiert der Autor historisch, indem er anhand einer kleinen Geschichte der Netzwerke am Beispiel der USA aufzeigt, dass die für die Cloud als verschaltetes Netzwerk zentralen Glasfasernetze auf alten Infrastrukturen der Eisenbahnlinien aufsetzen. Dennoch begreift Hu die Cloud als weit mehr als ein physikalisches Objekt, sondern als eigentliches Fieber, als ein Begehren, alle Netze zu verbinden, alle Informationen zu verknüpfen und zu einem Wissenssystem zu verweben, wo alles mit allem verbunden ist. Kurz und psychoanalytisch gesprochen, stellt die Cloud für Hu das Symptom einer Paranoia dar. Der historische Moment, in dem dieser Verknüpfungsexzess um sich greifen konnte, ist für Hu die Zeit des Kalten Krieges zu Beginn der 1960er-Jahre. Angesichts der Gefährdung von Telefonnetzen durch Atomangriffe entwickelte der US-amerikanische Informatiker Paul Baran 1964 sein Kommunikationsmodell auf Basis der Idee einer verteilten Knotenstruktur.5 Hu betont jedoch, dass es nicht bloss die Ingenieure im Solde von RAND waren, welche seit den 1960er-Jahren über Alternativen zu zentralisierten Netzen nachdachten. Schon einige Zeit vor der Inbetriebnahme des ARPANET im Jahre 1973 hätten Künstler, Soziologen, Stadtplaner und Computerwissenschaftler beobachtet, dass das Netz zur Zentralisierung und zur Monopolisierung tendiere. Künstlerische Kollektive, wie etwa das „Truckstop Network“ des Ant Farm-Kollektivs aus San Francisco, hätten zugleich an alternativen Netzwerken getüftelt: Ausgerüstet mit den neuesten Videokameras auf dem Markt, bewegten sich die Aktivistenkünstler mittels Trucks auf den Highways, filmten und zeigten unterwegs jene Bilder, welche die kommerziellen Fernsehsender nicht zeigten. Sie entwickelten dabei die Vision eines landesweiten Netzwerks von Truckstops für Medien-Nomaden, welche die Einwohner der Umgebung mit traditionellen Infrastrukturen wie Wasser und Elektrizität sowie neuen Kommunikationsmedien wie Video- und Computerausrüstung versorgen sollten.

Im zweiten Kapitel wendet sich Hu der Geschichte des Time-Sharings zu. In den 1960er-Jahren, im Zeitalter der Grossrechner, war die Vorstellung einer individuellen Kontrolle über die Rechner noch undenkbar. Dies ändert sich Mitte der 1960er-Jahre, wie Hu am Beispiel des veränderten Umgangs mit schadhaftem Programmcode aufzeigt. Monitor-Software geriet zunehmend in Missgunst als bürokratische Einmischung und Bestrafung. Stattdessen gewann die Idee einer automatischen „Müllabfuhr“ („Garbage Collection“), einer automatischen Speicherbereinigung, an Attraktivität. Hu betont, dass das Sharing damit durch hygienische Vorstellungen überformt wurde und durch Ideen eines produktiven Netzes, das von Verunreinigungen (schadhafter Code) und unproduktiven Ressourcen (nicht mehr benötigter Speicher) gereinigt werden müsse. Die Vorstellung privater User, welche sich gegenseitig nicht mehr in die Quere kamen und sich zugleich nicht mehr wahrzunehmen brauchten, ist also ein Nebeneffekt des Denkkonzeptes der Cloud. Die Cloud geriet zum Verbund von isolierten Individuen, zu einer Art Gated Community, die sich gegen aussen abgrenzt.

Im dritten Kapitel widmet sich Hu den bislang in der Forschung noch kaum untersuchten Datenzentren und geht der Frage nach, warum wir eigentlich unsere Daten auslagern. Ausgehend von Gilles Deleuzes Überlegung zur Kontrollgesellschaft argumentiert Hu zunächst mit der Vorstellung eines freien, sicheren und flexiblen Zugangs. Doch hinter dem Vertrauen in die Datenzentren, die hauptsächlich in ländlichen Regionen angesiedelt wurden oder in alten Bunkern aus der Zeit des Kalten Krieges untergebracht sind, steckt für Hu weit mehr als die subtile Form der Kontrolle durch Zugangserleichterung, wie sie Deleuze am Beispiel der Kreditkarte angedeutet hatte.6 Dahinter verberge sich nämlich die Idee eines einkalkulierten künftigen Datenverlusts, eines Wartens auf den unvermeidbaren Zusammenbruch des Systems, eine Nekrophilie (darauf verweist die Sprache, etwa im Reden über Datenbunker, über tote Festplatten oder tote Links) und damit verbunden die Vorstellung einer Reanimierung von Souveränität, die wieder an einen Ort gebunden ist.

Das vierte Kapitel (das stärkste dieses inspirierenden Essays) beschäftigt sich zunächst mit den eingangs erwähnten künstlerischen Praktiken, mit Optionen, dem Verlust des Möglichkeitssinnes durch das Cloud-Denken entgegenzuwirken, und der Frage nach ihrem Potential für politische Widerstandsformen gegen die in der Cloud angelegten Machtpraktiken. Doch Hu geht noch einen Schritt weiter und stellt die beklemmende Frage, was es bedeuten könnte, dass Staaten zu souveränen Herrschern über die Cloud avanciert sind, die über den Zugang zum Internet entscheiden. Ausgehend von den Ergebnissen einer empirischen Studie der Politikwissenschaftlerin Anita Gohdes über die Rolle von Internet-Blackouts in bewaffneten Konflikten am Beispiel des Bürgerkriegs in Syrien vertritt Hu mit Gohdes die These, dass der Internet-Kill Switch (die Notausschaltung des Internets) inzwischen zu einer Strategie in Kriegen avanciert ist, die nicht mehr mit den Konzepten von Zensur und Kontrolle beschrieben werden könne, sondern als Akt der Gewalt bezeichnet werden müsse.7 Hu stützt sich dabei auf die Befunde von Gohdes, die aufgrund ihrer Analyse der von Menschenrechtsorganisation gemeldeten tödlichen Vorfälle im syrischen Bürgerkrieg eine Zunahme der Gewalt unmittelbar vor und während der Internet-Blackouts nachweist. Der Ausfall des Netzes bei militärischen Operationen der Regierung ist zu einer Strategie der Unterdrückung und im wortwörtlichen Sinn der Ausschaltung der Opposition geworden. Der Souverän, so die Pointe von Hu, ist zum souveränen Herrscher über die Cloud geworden, der Internet-Notschalter zur Waffe im Krieg. Staatliche Souveränität hat sich transformiert. Souverän ist, so könnte man Carl Schmitt paraphrasieren, wer über den Internet-Kill Switch verfügt.

Hus Essay ist auch eine Kritik an der Vorstellung, dass das bedrohliche Gewicht der Daten durch noch mehr Daten oder bessere Algorithmen ausgehebelt werden könnte. Und er formuliert ein dringliches Plädoyer für die res publica als Gegenkraft zu jener Ansammlung flexibler, atomisierter und individualisierter User, die mit der Vorstellung der Cloud einhergeht. Allen Historikerinnen und Historikern, die in den nächsten Jahren versuchen werden, die wissens-, technik-, rechts- und politikhistorische Dimension der nebulösen Rechen- und Speicherinfrastrukturen zu erfassen, sei dieses Buch wärmstens empfohlen. Und uns zu Usern verdammten Nutzern dieser Technologie sowieso.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Webseite des Künstlers: http://paglen.com/ (21.08.2017).
2 Vgl. den Katalog: Laura Poitras, Astro noise. A survival guide for living under total surveillance, New York 2016; und neu: Hito Steyerl, Art in the Age of Planetary Civil War, New York 2017.
3 Vgl. auch Edit Molnár / Marcel Schwierin (Hrsg.), Autonomy Cube. Trevor Paglen and Jacob Appelbaum, Berlin 2016.
4 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1991 [Paris 1975]; Gilles Deleuze, Postscript on the Societies of Control, in: October 59 (1992), S. 3–7 [zuerst in: L’Autre Journal, 1 (1990) Mai].
5 Paul Baran, On Distributed Communication: I. Introduction to distributed Communications Networks, Memorandum RM-3420-PR, RAND Corporation Santa Monica, August 1964.
6 Deleuze, Postscript on the Societies of Control.
7 Anita R. Gohdes, Pulling the Plug. Network Disruptions and Violence in Civil Conflict, in: Journal of Peace Research 52 (2015) 3, S. 352–367.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch