Cover
Titel
Windows on Justice in Northern Iberia 800–1000.


Autor(en)
Davies, Wendy
Erschienen
Abingdon 2016: Routledge
Anzahl Seiten
XII, 291 S.
Preis
€ 143,52
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Berger, Papsturkundenforschung, Akademie der Wissenschaften zu Göttingen

Die ‚Fenster‘, durch die diese Studie auf die frühmittelalterliche Gerichtspraxis im Norden der Iberischen Halbinsel blickt, sind im Wesentlichen original oder kopial überlieferte Gerichtsurkunden („dispute records“) aus der Zeit vor 1000. Mithin Dokumente aus einer Zeit, als die christlichen Königreiche des spanischen Nordens kulturell weniger eng mit dem übrigen Westeuropa verbunden waren, als sie es im Laufe des 11. Jahrhunderts, etwa durch Übernahme der fränkischen Schrift und der römischen Liturgie, werden sollten. Gehörte die Erforschung der europäischen Rechtskultur(en) schon seit langem zum breiten Interessensspektrum der Autorin1, so hat sie den geografischen Schwerpunkt ihrer Forschungen in den letzten Jahren verstärkt auf die Iberische Halbinsel gelegt. Davies ist daher wie nur wenige in der Lage, regionale Quellenexpertise mit einem gesamteuropäischen Horizont zu verbinden und für übergeordnete bzw. vergleichende Fragestellungen fruchtbar zu machen. Methodisch knüpft die emeritierte Londoner Mediävistin an einschlägige Arbeiten u.a. von Roger Collins an2, die auf Basis der urkundlichen Überlieferung gerichtliche Verfahren und Prozeduren untersuchen und die Praxis des Gerichtswesens erforschen.

Interesse beim Leser für die Eigenarten iberischer Gerichtsdokumente weckt Davies zu Beginn ihrer Untersuchung, indem sie ein im Kathedralarchiv von Oviedo überliefertes Pergamentblatt vorstellt, das detailliert, aber stellenweise auch repetitiv und nicht frei von inneren Widersprüchen, über ein Gerichtsverfahren des Jahres 953 berichtet. Das großdimensionierte Schriftstück, das sechs verschiedene Zeugenlisten und weitere ungewöhnliche äußere wie innere Merkmale aufweist, wirft hinsichtlich seiner Entstehung so viele Fragen auf, dass schnell klar wird, dass vor jeder Interpretation des Textes eine intensive diplomatische Analyse erfolgen sollte. Diesem Zweischritt – zunächst hilfswissenschaftliche Betrachtung des Quellenmaterials, danach inhaltliche Schlussfolgerungen – ist die gesamte Studie verpflichtet, wie sich schon an der Gliederung sehen lässt: Im Anschluss an eine hilfreiche „Orientation“ (S. 6–32), in der die Autorin nützliches Grundlagenwissen zu dem von ihr untersuchten Raum vermittelt, die Überlieferungslage skizziert und einen informativen Forschungsüberblick zur iberischen Gerichtspraxis im Frühmittelalter bietet, besteht die Studie im Wesentlichen aus zwei Hauptteilen, nämlich „Part I. The texts“ (S. 33–151) und „Part II. Implications“ (S. 153–260).

Angesichts der noch immer vorherrschenden „tendency to treat texts recording judicial process […] as objective reporting“ (S. 20) plädiert Davies dafür, die Gerichtsdokumente stärker nach Gattungen zu differenzieren und die Genese der Schriftstücke bzw. deren causa scribendi (Stichwort ‚Empfängereinfluss‘) zu berücksichtigen, womit gewissermaßen das Programm für den ersten Teil der Untersuchung umrissen ist. Als Materialbasis dient ihr ein Corpus von 257 sogenannten „dispute records“ aus einem Raum, der von Portugal über Galizien, León und Kastilien, Asturien, der Rioja bis nach Navarra reicht, und am Ende des Bandes durch einen eigenen Index erschlossen wird. Schon diese Zusammenstellung ist sehr verdienstvoll und dürfte zukünftige Forschungen erleichtern.

Die Texte ihres Quellencorpus verteilt Davies auf 10 Untergruppen, die nicht nur nach diplomatisch-formalen Kriterien, sondern auch nach inhaltlichen Bewertungen gebildet sind. Unterschieden werden beispielsweise Prozessberichte („accounts“), Gerichtseide („oaths“), Verträge/Vereinbarungen („agreements“), Schuldeingeständnisse („confessions“), (Straf)zahlungen („fines“), aber auch Mischformen („mixed“) oder beiläufige Erwähnungen von Prozessen („incidental“). Das typologische Raster wirft zwar einige Fragen auf (Texte der Kategorien „fines“ und „confiscations“ sind dem Formular nach häufig nichts anderes als Schenkungsurkunden und auch der Nutzen der Kategorie „incidental“ – eine formal relativ heterogene Gruppe, die immerhin ein gutes Viertel aller untersuchten Texte ausmacht – erscheint diskutabel), gleichwohl gelingt es der Autorin strukturierende Schneisen in das Dickicht der Überlieferung zu schlagen und sowohl Bandbreite als auch Spezifika des prozessualen Schrifttums aufzuzeigen.

In weiteren Unterkapiteln untersucht Davies die Materialität der Dokumente („Material questions“, S. 65–94), deren Textstruktur („Formulaic writing“, S. 95–120) und fragt nach sprachlichen Besonderheiten („The language of dispute records“, S. 121–145). Hinsichtlich der Materialität scheinen sich zwei größere Gruppen herauszuschälen: zum einen großformatige, mit Zierelementen und verschiedenen Beglaubigungsmitteln versehene Schaustücke („display records“), die wie die eingangs erwähnte Urkunde aus Oviedo retrospektiv und affirmativ auf ein abgeschlossenes Gerichtsverfahren blicken; zum anderen schlichte, kleinformatige „functional records“, die zumeist während eines Prozesses angefertigt wurden und einzelne Verfahrensschritte dokumentieren. Ein spezifisches Formular für die Gesamtheit der untersuchten Schriftstücke ist nicht festzustellen, was wenig verwundert, da die Autorin unter dem Label „dispute records“ eben sehr verschiedene Arten von Dokumenten vereint. Erst bei der Betrachtung enger definierter Urkundentypen lassen sich bestimmte, wiederkehrende Formeln identifizieren. Etwa die in mehreren Variationen vorkommende Formel „nullius cogentis“, deren regional unterschiedliche Verbreitung Davies kartografisch sichtbar macht. Überhaupt zeichnet sich der gesamte Band durch vielfach beigegebenes Kartenmaterial aus, mit dem regionale Unterschiede visualisiert werden.

Auch wenn sich statistische Aussagen auf Basis der zur Verfügung stehenden Texte kaum treffen lassen, vermag Davies im zweiten Hauptteil der Studie wichtige Grundzüge der iberischen Gerichtspraxis herauszuarbeiten. Dabei fokussiert sie sich auf die an den Verfahren beteiligten Personen (Roles, S. 155–180), von denen hier nur die schon in westgotischer Zeit bezeugten saiones genannt seien, eine Art temporärer, zum Teil auch zur Gewaltausübung bevollmächtigter Gerichtsbeamter. Zudem untersucht Davies, welche sozialen Gruppen in welchen Auseinandersetzungen vor Gericht zogen (Power, S. 181–203), wobei sich unter anderem herausstellt, dass weniger der Streitgegenstand als der soziale Status darüber entschied, vor welchem Gerichtsherrn (König, Graf, andere Grundherren) man sich traf. Auch der Frage, inwieweit die zumeist durch kollektive Richtergremien geleiteten Prozesse lokalen Einflüssen unterlagen („Local responses“, S. 204–231), ist ein eigenes Unterkapitel gewidmet.

Bei alldem wird deutlich, wie sehr die frühmittelalterliche iberische Rechtskultur auf westgotische Traditionen aufbaute und diese fortentwickelte. Die Studie zeigt, dass für diese Zeit von einem auf langer Gewohnheit basierenden Gerichtswesen mit routinierten, zum Teil schriftbasierten Prozeduren ausgegangen werden darf und Gerichte nicht nur von den Spitzen der Gesellschaft in Anspruch genommen wurden. Auch wenn die auf uns gekommenen Schriftzeugnisse fast ausschließlich von Klerikern verfasst wurden und über kirchliche, vor allem klösterliche Archive und Chartulare überliefert sind, so unterstreicht die Autorin, dass es doch nicht nur Bischöfe, Klöster oder hochgestellte Adlige waren, die ihr Recht vor Gericht zu erstreiten suchten, sondern auch kleinere Grundbesitzer und Bauern bzw. deren Familien.

Erhellend ist insbesondere das vorletzte, vergleichende Kapitel („A view on Northern Iberia in the European context“, S. 232–254), in dem Davies ihre Befunde bündelt und in einen gesamteuropäischen Forschungskontext einbettet. Signifikante Unterschiede zu anderen Rechtskulturen Lateineuropas bestanden durchaus – etwa im Nichtvorhandensein eines öffentlichen Notariats, in der besonderen Anwendung des Gottesurteils (zur Prüfung der Glaubwürdigkeit des Zeugen, nicht des Angeklagten), im vergleichsweise geringen Engagement des Königtums, das Gerichtswesen zu zentrieren bzw. zu normieren –, jedoch betont Davies insgesamt stärker die Gemeinsamkeiten. Wichtiger noch: sie gibt zu bedenken, dass angesichts europaweit sehr unterschiedlicher Überlieferungssituationen das Ergebnis vergleichender Betrachtungen sehr stark von den gewählten Methoden und Modellen des Historikers abhängen. Wenn das 10. und 11. Jahrhundert in soziopolitischer Hinsicht häufig als „key phase of change“ (S. 253) verstanden werde, in dem sich nach dem Zerfall des vergleichsweise zentralisierten Karolingerreichs ein auf persönliche Interessen adliger Herren basierendes Feudalsystem etabliert habe, so will Davies diese Erzählung mit Blick auf die nordspanische Gerichtspraxis ausdrücklich nicht bestätigen. Vielmehr wendet sie sich gegen vereinfachende Modelle, die das Gerichtswesen jener Zeit als feudales Unterdrückungsinstrument interpretierten („This was not a simple world of oppression and submission“, S. 256) und verweist auf die zahlreichen Fälle, in denen sich Gleichrangige sozial niederer Schichten vor Gericht trafen.

Inwieweit Meistererzählungen, wie die hinterfragte, tatsächlich noch vorherrschend sind, bleibe dahingestellt. Dass nun aber mit dieser breit angelegten und gut zu lesenden Studie ein grundlegender, fast schon handbuchartiger Überblick über das iberische Gerichtswesen vorliegt und gleichzeitig der des Spanischen nicht immer mächtigen internationalen Forschung ein Panoramafenster zur nordiberischen Rechtskultur aufgestoßen wurde, dies ist Wendy Davies‘ kaum zu überschätzendes und bleibendes Verdienst.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa den Sammelband: Wendy Davies / Paul Fouracre (Hrsg.), The Settlement of Disputes in Early Medieval Europe, Cambridge 1986.
2 Vgl. insbesondere den programmatischen Aufsatz: Roger Collins, ‚Sicut lex Gothorum continet‘: Law and Charters in Ninth- and Tenth-Century León and Catalonia, in: The English Historical Review 100 (1985), S. 489–512.