O. Stieglitz u.a. (Hrsg.): race & sex: Eine Geschichte der Neuzeit

Cover
Titel
race & sex: Eine Geschichte der Neuzeit. 49 Schlüsseltexte aus vier Jahrhunderten neu gelesen


Herausgeber
Stieglitz, Olaf; Martschukat, Jürgen
Erschienen
Berlin 2016: Neofelis Verlag
Anzahl Seiten
422 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Levke Harders, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Angekündigt als „grenzüberschreitende Re-Lektüren einer kritischen Geschichtswissenschaft“ (Verlagsanzeige) haben Olaf Stieglitz und Jürgen Martschukat für diesen Band 50 Autor/innen aus Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaften gebeten, Essays über 49 historische Texte vom 17. Jahrhundert bis 1997 zur Geschichte des Sexismus und Rassismus zu verfassen. Dem Format eines Sammelbandes mit kurz gehaltenen Essays entsprechend, kann „race & sex“ keine „Geschichte der Neuzeit“, wie im Untertitel annonciert, liefern, sondern lässt verschiedene Einblicke in gesellschaftliche Ungleichheiten entlang der Achsen Geschlecht, Sexualität und ‚Rasse‘ zu. Gezeigt werden die Differenzkonstruktionen anhand von Fach- oder Gesetzestexten, belletristischer Literatur, Fotografien oder Filmen und populärkulturellen Erzeugnissen. Neben der Relektüre kanonisierter Texte wie Judith Butlers „Gender Trouble“, Frantz Fanons „Schwarze Haut, weiße Menschen“, Sojourner Truths „Ain’t I a Woman?“ und ähnlichen, finden sich auch Analysen des Werbesymbols der Sarotti-Schokolade, deutscher Kolonialzeitungen oder fotografischer Abbildungen der Sklaverei. ‚Rasse‘ und Sexualität sind, wie Klasse und Geschlecht, soziale Konstruktionen, um Differenz zu definieren und damit Macht herzustellen und legitimieren. Wie die postkolonialen, rassismuskritischen und feministischen Debatten der letzten Dekaden gezeigt haben, sind diese Kategorien vielfach miteinander verknüpft und bringen spezifische Machtverhältnisse hervor.

Die Intersektionen von „race & sex“ stehen im Zentrum der Beiträge dieses Sammelbandes. Häufig unmittelbar von der historischen Quelle ausgehend, oft persönlich gehalten und lesbar geschrieben, bieten viele Essays überraschende Einblicke, zum Beispiel indem Texte gegen den Strich gelesen werden (so forscht Elisabeth Engel bei W. E. B. Du Bois „The Souls of Black Folk“ [1903] nach der Bedeutung der Kategorie sex). Viele Beiträge stellen neue Bezüge her oder können einen älteren ‚Schlüsseltext‘ trotz späterer, berechtigter Kritik in seine zeitgenössische (oder auch: fortdauernde) Bedeutung einordnen. Durch Querverweise innerhalb des Sammelbandes und (erfreulich pointiert gehaltene) Literaturverweise können zudem Verbindungen zu anderen Texten geknüpft werden. Wie von den Herausgebern in der Einleitung angekündigt, ließen sich die Essays in verschiedene Rubriken gruppieren. Neben der Relektüre kanonisierter Theorietexte (etwa von Stuart Hall, Kimberlé Crenshaw, Eve Kosofsky Sedgwick, Michel Foucault, Edward Said, Immanuel Kant usw.) lassen sich einige thematische Verdichtungen ausmachen: US-amerikanische Diskurse um ‚gemischte‘ (sexuelle) Beziehungen, deutschsprachige Debatten über Sexualität und koloniale Situationen sowie koloniale und postkoloniale Politiken.

Der Band beginnt mit einer aufschlussreichen Analyse des australischen Regierungsberichtes „Bringing them Home“, der 1997 erstmals die rassistische Assimilationspolitik gegen Aborigines thematisierte. Mit Rückgriff auf politische Bewegungen, filmische und literarische Bearbeitungen macht Kay Schaffer die komplexen Unterdrückungsmechanismen von ‚Rasse‘, Klasse und Geschlecht und gleichzeitig ihre gezielte Verschleierung im politischen Diskurs deutlich. Die formale Entschuldigung der Regierung bei den verschleppten indigenen Australier/innen führte nämlich keineswegs zu Entschädigungszahlungen, sondern durch Interventionen nicht-indigener, migrantischer Australier/innen zu einer Vorstellung eines vermeintlich ahistorischen, weder rassistisch noch sexistisch motivierten, Leides von Kindern generell.

Es folgen, über 300 Jahre verteilt, aber doch mit einem Schwerpunkt im 20. Jahrhundert, mehrere Beiträge zu Auseinandersetzungen um die (Un-)Möglichkeit von Liebesbeziehungen zwischen schwarzen und weißen Nordamerikaner/innen, so Uta Fenske über Spike Lees Film „Jungle Fever“ (1991), Anke Ortlepp über das Gerichtsurteil „Loving v. Virginia“ von 1967, Lois E. Horton über das 1864 erschienene Buch „Miscegenation“ oder auch Silvan Niedermeier über die Fotografie eines philippinisch-amerikanischen Ehepaares von 1902. Diese Essays verhandeln die enge Verknüpfung von ‚Rasse‘ und Sexualität in Vorstellungen und Normen von Segregation, die sowohl weiße hegemoniale Männlichkeit als auch die rassistische Gesellschaftsordnung legitimieren sollten.

Auseinandersetzungen um Sexualität in deutschsprachigen Ländern verdeutlichen, wie sehr Sexualität und heteronormative Geschlechterverhältnisse die gesellschaftliche Ordnung stabilisierten bzw. vermeintliche Abweichungen als Angriff auf diese verstanden wurden, angefangen von Richard Freiherr von Krafft-Ebings „Psychopathia sexualis“ von 1886 (Heiko Stoff) über Helmut Schelskys (homophobe) „Soziologie der Sexualität“ von 1955 (Axel Schildt) bis hin zu jugendlicher Sexualität in Günter Amendts „Sexfront“ von 1970 (Massimo Perinelli). Anhand der deutschen Mediendebatte um deutsche (Sex-)Touristinnen in Italien um 1960 zeigt Maren Möhring, dass nicht nur die (deviante) weibliche, sondern auch die als animalisch imaginierte Sexualität ‚der Italiener‘ als gefährliche Grenzüberschreitungen wahrgenommen wurden.

Koloniale Unterdrückung und postkolonialer Widerstand bilden einen weiteren Schwerpunkt. Gloria Anzaldúas „Borderlands / La Frontera“ von 1987 und Duke Redbirds „We are Metis“ von 1980 verbinden nicht nur verschiedene Textgenres, sondern überschreiten auch inhaltlich normative Grenzziehungen zugunsten ambivalenter Gegengeschichten und kultureller Adaptionen, wie Barbara Lüthi über Anzaldúa und Ursula Lehmkuhl über Redbird überzeugend argumentieren. Demgegenüber sind kolonialistische Vorstellungen der exotisierten und sexualisierten ‚Anderen‘ immer gebunden an die Herstellung von Weißsein und die Sicherung der kolonialen Macht, wie unterschiedliche Beiträge eindrücklich belegen, unter anderem Robert Fischer über die „Pinturas de Castas“, Abbildungen aus Mexiko im 18. Jahrhundert, Nora Kreuzenbeck über einen französischen Reisebricht über die Kolonie Saint-Domingue von 1797 oder Pablo Dominguez Andersen über den Film „Geheimnisse einer Seele“ von Georg W. Pabst (1926).

Die vorangestellte Widmung für den Kölner Nordamerika-Historiker Norbert Finzsch lässt vermuten, dass es sich bei der Publikation um eine Art Festschrift handelt. Dies könnte die Zusammenstellung der Themen wie Autor/innen erklären, denn zum einen sind viele der besprochenen ‚Schlüsseltexte‘ in den USA entstanden, während zum anderen vor allem weiße Wissenschaftler/innen hier über ‚Rasse‘ schreiben. Leider hat dieser Essayband unter dem umfassenden Titel „race & sex“ die Chance verpasst, verstärkt zentrale, in Deutschland erschienene Texte zur Intersektion von Rassismus und Sexismus aufzunehmen (um nur ein Beispiel zu nennen: „Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“ von 1986) und (deutschsprachige) Autor/innen of Color zu gewinnen. Auch wird die Auswahl der ‚Schlüsseltexte‘ von den beiden Herausgebern in ihrer Einleitung kaum erläutert (während die chronologische Anordnung von 1997 ‚rückwärts‘ durchaus begründet wird; S. 19–22). Die Erklärung von Stieglitz und Martschukat zu ihrer Zusammenstellung, ‚Schlüsseltexte‘ würden zu solchen „aus unserer Sicht“ (S. 18), ist etwas irritierend, sind doch Sammelbände, wie gerade auch der vorliegende, sowohl Ergebnis als auch Teil von Kanonisierungsprozessen. Ein anderer Titel und Untertitel sowie eine transparente Aussage zum Auswahlprozess sowohl der Beitragenden als auch der ‚Schlüsseltexte‘ hätten hier ein gewisses Unbehagen vermeiden können.

Nichtsdestotrotz geben 49 Essays über 49 Schlüsseltexte (sowie die Einleitung) für die eigene Arbeit Anregungen in ganz unterschiedliche Richtungen. Einige Beträge mögen sich gut für Lehrveranstaltungen eignen, andere animieren dazu, bestimmte Bücher erneut zur Hand zu nehmen oder besprochene Filme endlich einmal zu sehen. Nicht zuletzt, wie Stefan Micheler in seinem Beitrag über „Der rosa Winkel in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern“ (1977) fordert, könnten die Analysen von „race & sex“ auch eine Inspiration sein „wieder verstärkt nach Schichten und Klassen zu fragen, was in großen Teilen der Geschichtswissenschaft völlig aus der Mode gekommen zu sein scheint. Dabei darf dann gerne auch ein Blick auf das wissenschaftliche Prekariat gelegt werden“ (S. 133). Denn nicht nur die Forschungsgegenstände selbst, sondern auch die Fragen, die an sie gerichtet werden, und die (akademischen) Arbeitsbedingungen sind durch ‚Rasse‘, Sexualität, Klasse, Geschlecht und / oder andere Ungleichheitskategorien strukturiert.