K. Keller u.a.: Die Fuggerzeitungen im Kontext

Cover
Titel
Die Fuggerzeitungen im Kontext. Zeitungssammlungen im Alten Reich und in Italien


Autor(en)
Keller, Katrin; Molino, Paola
Reihe
Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsbände 59
Erschienen
Anzahl Seiten
235 S., 17 s/w-Abb., 13 Tab.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Holger Böning, Deutsche Presseforschung, Universität Bremen

Dieser Band basiert auf einem großen Erschließungsprojekt zu den Fugger-Zeitungen an der Österreichischen Nationalbibliothek; er gehört mit seiner Quellenorientierung und mit den dadurch ermöglichten neuen Erkenntnissen zu den bemerkenswerten medienhistorischen Arbeiten der vergangenen Jahre und bietet ein Beispiel, wie empirische Forschung unser Bild von der Vergangenheit vollständig verändern kann. Er komplettiert die jüngeren Forschungen zu den handgeschriebenen Zeitungen und damit zur Genese des modernen Nachrichten- und Pressewesens.

Es wurde lange darüber diskutiert, wie die gedruckte periodisch erscheinende Zeitung eigentlich entstanden sei. War sie, wie bis heute vereinzelt behauptet, etwa eine Verstetigung der sogenannten Neuen Zeitungen, die zu besonderen Anlässen erschienen und Teil jener Flugpublizistik waren, bei der man für die Frühe Neuzeit bis 1815 von mindestens 100.000 Drucktiteln wird ausgehen dürfen, wenngleich Schätzungen angesichts der Forschungsdesiderate wenig seriös sind?1 Oder verdankte sie sich einer Verkürzung der Erscheinungsabstände, mittels derer sie sich aus den seit 1588 erscheinenden Messrelationen entpuppte?2 Oder – dritte Annahme – war die gedruckte Zeitung das logische Resultat eines Nachrichtenverkehrs, der bereits seit Längerem durch handgeschriebene Zeitungen vermittelt wurde und sich stetig verdichtet hatte, wie schon der Kulturhistoriker Georg Steinhausen gemeint hat?3

Das hier vorgelegte Werk sowie Forschungen von Cornel Zwierlein4 und Oswald Bauer5 lassen es inzwischen nicht mehr zu, diese drei Annahmen gleichberechtigt nebeneinander zu nennen: Praktisch alles, was wir zu dieser Quellengattung bisher gewusst haben, ist korrigiert worden und dies allein deshalb, weil Forscherinnen und Forscher diese Zeitungen endlich tatsächlich in die Hand genommen und analysiert haben. Die lange Zeit üblich gewesene Einbettung der handgeschriebenen Zeitungen in vorwiegend wirtschaftliche Zusammenhänge war eine reine Erfindung, die sich der Konkurrenz von Zeitungswissenschaft und Wirtschaftsgeschichte in ihrem Kampf „zweier neuer Fächer um das symbolische Kapital der wissenschaftlichen Seriosität“ verdankt, in der letztere zu beweisen suchte, dass die Fuggerzeitungen insbesondere eine Quelle der Wirtschaftsgeschichte seien.6 Die lange vertretene Vermutung, es habe sich bei den Fugger-Zeitungen um ein internes Informationsblatt des Fuggerschen Unternehmens gehandelt, ist ebenso falsch.

Die sogenannten Fugger-Zeitungen, das ist das Entscheidende, waren nämlich gar keine Fugger-Zeitungen, sondern Zeitungen, die bereits Teil des gewöhnlichen Nachrichtenverkehrs in Europa waren. Dies stellt Katrin Keller im neben der Einleitung ersten von vier Einzelbeiträgen des vorliegenden Bandes unter dem Titel „Die Fuggerzeitungen als geschriebene Zeitungen“ (S. 11–47) dar. Ihr Name verdankt sich ausschließlich der Tatsache, dass sie von den Fuggers gesammelt und sorgfältig ausgewertet wurden. Schon Hans Fugger hatte erkannt, dass seine internationalen Kontakte, die er zum Nachrichtenaustausch nutzte, ein wichtiger Aktivposten auch für seine geschäftlichen Interessen waren. Kontrolle über und Auswertung der Nachrichtenströme verschafften Einfluss und Macht. Von einer primär wirtschaftlichen Informationsfunktion dieser Zeitungen kann keine Rede sein. Wirtschaftsnachrichten machen nur 6 Prozent der gesamten Nachrichten aus (S. 23f.).7

Die 16.000 Fugger-Zeitungen bieten nichts anderes als einen Ausschnitt aus der Medienlandschaft des 16. Jahrhunderts, der dank der Sammelleidenschaft vor allem Octavian Secundus Fuggers erhalten blieb. Dies entnehmen wir dem zweiten Beitrag Katrin Kellers unter dem Titel „Zeitungssammlungen im Alten Reich: Umrisse einer Medienlandschaft“ (S. 48–98) sowie dem Beitrag „Die Fugger-Zeitungen: zwei Seelen, ein Leib“ von Paola Molino (S. 99–136), der sich der Besonderheit der Fuggerschen Sammlung widmet, auch 2.600 auf Italienisch verfasste Avvisi zu umfassen, die nicht aus den für deutschsprachige Zeitungen wichtigsten Nachrichtenorten der Frühen Neuzeit Antwerpen, Köln, Prag und Lyon stammten, sondern aus Rom und Venedig, den beiden Hauptstädten des Nachrichtenverkehrs auf der italienischen Halbinsel. (S. 99) Hinzu kommt die das Bild komplettierende Analyse zweier weiterer Sammlungen von Avvisi durch Paola Molino (S. 137–183).

Im Gegensatz zu älteren Auffassungen ist nun sicher, dass es sich bei den Zeitungsschreibern nur in einigen Fällen um Mitarbeiter des Fuggerschen Unternehmens gehandelt hat. In der Mehrzahl der Fälle waren es vielmehr professionelle Novellanten, aber auch Privatpersonen, die etwa im Umfeld des Kaiserhofes anzusiedeln sind, oder die mit den Heeren auf den Kriegsschauplätzen der Zeit unterwegs waren, die die Zeitungen verfassten. Die von den Fuggers gesammelten Zeitungen verdankten sich besonders dem blühenden Nachrichtenhandel in Norditalien, der gegenüber dem im deutschen Sprachraum zunächst weit fortgeschritten war. Was als serienmäßiges Zusammenkopieren von Nachrichtenextrakten und Briefen aus der Diplomatie begann, führte in Rom und Venedig zu einem neuen Milieu von Schreibspezialisten, ehemaligen Sekretären, anstellungslosen Humanisten, die nun berufsmäßig das Extrahieren und Zusammenstellen von Informationsbriefen übernahmen. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts standen für jeden, der bezahlen konnte, professionelle Zeitungsschreiber zur Verfügung, die nun einen Teil jener Nachrichtenbeschaffung und Abfassung von Berichten übernahmen, die zuvor als Aufgaben der Diplomaten gegolten hatten; es entwickelte sich ein schnell expandierender Markt für Nachrichten.

Die Zeitung als Instrument politischer Kommunikation entstand – immer noch handgeschrieben – also nicht aus dem kaufmännischen, sondern aus dem diplomatischen Milieu, wo in der Regel Nachrichten von Fachleuten für Fachleute verfasst wurden, sie erhielten keineswegs, wie Habermas von den als „Privatkorrespondenzen“ bezeichneten handgeschriebenen Zeitungen behauptet hat, „vor allem natürlich Nachrichten aus dem internationalen Handelsverkehr“.8

In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gab es dann bereits zahlreiche wöchentlich berichtende Zeitungsschreiber, Ende der 1560er-Jahre war die geschriebene Zeitung europaweit verbreitet, sie kam als kultureller Transfer von Italien auch nach Deutschland. Für die traditionelle druck- und pressehistorische Sichtweise mag es eine Überraschung bedeuten, zu welcher Leistungsfähigkeit es ein auf handschriftlicher Vervielfältigung beruhendes Informations- und Wissensverbreitungssystem bringen konnte. Zu ihm gehörte ein Mann wie Johann Carolus, ebenfalls Herausgeber einer wöchentlich erscheinenden handgeschriebenen Zeitung. Ihm verdanken wir, wie inzwischen gut bekannt, den Übergang zur periodischen gedruckten Zeitung, die also ganz unzweifelhaft aus dem periodischen, durch die Post ermöglichten Nachrichtenverkehr in Europa hervorgegangen ist.9

Es ist also höchst bemerkenswert, was das vorliegende Werk an Neuem zutage gefördert hat. Wer sich die Mühe macht, die handgeschriebenen mit den gedruckten Zeitungen zu vergleichen, wird vor allem Übereinstimmungen zwischen diesen Gattungen feststellen, denn beide sind sie Resultate desselben Nachrichtenverkehrs und Nachrichtenhandels. Die Behauptung von Habermas, dass die zur Veröffentlichung gelangenden Nachrichten – er meint damit jene in den gedruckten Zeitungen – zu den Restkategorien des an sich verfügbaren Nachrichtenmaterials gehört hätten, ist frei von Quellenkenntnis; in den geschriebenen wie den gedruckten Zeitungen stellt die politisch-militärische Berichterstattung mit 75 Prozent aller Nachrichten den Schwerpunkt dar. Ohne Fundament ist auch der so apodiktische wie falsche Satz: „Die Zeitung war ein Nachrichtenorgan zweiter Ordnung, während der Brief im 17. Jahrhundert noch ganz allgemein als die zuverlässigere und schnellere Nachrichtenquelle galt.“10 Diese Behauptung disqualifiziert sich schon durch die Information, der Brief sei schneller gewesen, waren doch alle Nachrichten auf dieselben Verkehrsmittel angewiesen.

Das vorliegende im besten Sinne positivistische Werk – vervollständigt durch ein vorläufiges Verzeichnis „Zeitungen im Alten Reich“ (S. 184–196) und mustergültige Register – bietet uns ein neues Bild des frühneuzeitlichen Nachrichtenwesens. Mehr Lob ist nicht möglich.

Anmerkungen:
1 Daniel Bellingradt, Flugpublizistik und Öffentlichkeit um 1700. Dynamiken, Akteure und Strukturen im urbanen Raum des Alten Reiches, Stuttgart 2011, Vgl. dazu die Rezension von Kai Lohsträter, in: H-Soz-Kult, 27.03.2012 <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-16816> (07.06.2016); sowie Ders., Neuere Forschungen zur Bildpublizistik der Frühen Neuzeit: Quelleneditionen und Interpretationen, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 66 (2011) S. 202–208.
2 Dazu Esther-Beate Körber, Messrelationen. Geschichte der deutsch- und lateinischsprachigen „messentlichen“ Periodika von 1588 bis 1805, Bremen 2016.
3 Georg Steinhausen, Die Entstehung der Zeitung aus dem brieflichen Verkehr, in: Archiv für Post und Telegraphie 23, Berlin 1895, S. 347–357.
4 Cornel Zwierlein, Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland, Göttingen 2006, Vgl. dazu die Rezension von Susan Boetticher, in: H-Soz-Kult, 29.10.2008 <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-8954> (09.06.2016); ; sowie Ders., Gegenwartshorizonte im Mittelalter: Der Nachrichtenbrief vom Pergament- zum Papierzeitalter, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 12 (2010), S. 3–60.
5 Oswald Bauer, Zeitungen vor der Zeitung. Die Fuggerzeitungen (1568–1605) und das frühmoderne Nachrichtensystem, Berlin 2011, Vgl. dazu die Rezension von Flemming Schock, in: H-Soz-Kult, 08.01.2013 <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-18021> (09.06.2016).
6 Detailliert dazu Cornel Zwierlein, Fuggerzeitungen als Ergebnis von italienisch-deutschem Kulturtransfer, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken. Herausgegeben vom Deutschen Historischen Institut in Rom 90 (2010), S. 174f.
7 Bauer, Zeitungen, Kapitel VII.: Die Fuggerzeitungen und ihre Inhalte.
8 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990, Frankfurt am Main 1990, S. 77f.
9 Dazu Volker Bauer / Holger Böning (Hrsg.), Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert: Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit, Bremen 2011, Vgl. dazu die Rezension von Thomas Schröder, in: H-Soz-Kult, 04.10.2011 <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-16632> (09.06.2016).
10 Habermas, Strukturwandel, S. 78.