A. Mayer: Sigmund Freud zur Einführung

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Titel
Sigmund Freud zur Einführung.


Autor(en)
Mayer, Andreas
Erschienen
Hamburg 2016: Junius Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Giovanni Sorge, Zürich

Es ist einfach, sich in der fast grenzenlosen Menge an Sekundärliteratur zur Psychoanalyse zu verlieren. Obwohl Autoren wie Peter Gay1 und Paul Roazen2 aus der biographischen beziehungsweise aus der historisch-sozialkritischen Perspektive mehrere Beiträge zum besseren Verständnis von Freuds Werk publiziert haben, dürfte sich eine kurze Einführung als überaus hilfreich erweisen, um durch die schwindelerregende Fülle an Literatur zur Psychoanalyse zu navigieren.

Mayers Aufgabe ist gar nicht einfach. Die von Freud initiierte psychoanalytische Tradition beziehungsweise deren Denkstil hat nicht nur das ganze Spektrum der Geistes- und Sozialwissenschaften, sondern auch weite Teile der Populärkultur (Literatur, Film) stark beeinflusst. Dazu kommt, dass die Psychoanalyse kaum als einheitliches Fach angesehen werden kann, da es, wie Mayer betont, so viele Freud’sche ‚Gedankenmodelle‘ wie ‚nationale Rezeptionen’ gibt. Ferner sind „leise Zwischentöne und sanfte Übergänge“ (S. 15) eine eher seltene Erscheinung in dem immer noch anhaltenden Kampf zwischen Freud-Verehrern, die bereit sind, jedes seiner Konzepte (oder die seiner orthodoxen Anhängerinnen und Anhänger) fast wörtlich auf die heutige Weltlage zu übertragen, und Freud-Kritikern, welche die ganze Psychoanalyse als gefährlichen Mythos beziehungsweise als kolossalen Wissenschaftsbetrug verwerfen.

Um die zentralen Konzepte der Psychoanalyse im Laufe ihrer Entstehung und Entwicklung darzustellen, hat Mayer ein Vorgehen gewählt, welches dem methodischen Ansatz Freuds stark ähnelt, „denn dieser hat die Wahl einer historischen Perspektive als zentral für die Vermittlung der Psychoanalyse angesehen“ (S. 16). Mayer verzichtet auf eine soziologische, theoretisch-spekulative oder psychologisierende Deutung von Freuds Ansatz. Stattdessen konzentriert er sich auf die inhaltliche Dimension seiner wichtigeren Werke als zentrale Momente der Freud’schen Reflexion, und zwar mit der Absicht, seine Theorien nicht als „bequeme Endpunkte“, sondern als „Ausgangspunkte für sich öffnende Problemfelder“ (S. 17) zu präsentieren. Ein Grundanliegen hierbei ist, ihr immer noch aktuelles kulturhistorisches und -kritisches Potenzial zu entfalten.

Es ist bemerkenswert, wie es dem Autor im Laufe der sieben Kapitel gelingt, stets treffende Zitate und Passagen auszuwählen, um zentrale Problemfelder im Werk Freuds herauszuarbeiten und die jeweiligen Entstehungsgeschichten zu erhellen. Er bezieht dabei die „Studien über Hysterie“ (1895; mit J. Breuer), die „Traumdeutung“ (1899), „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (1905), „Totem und Tabu“ (1913), „Das Ich und das Es“ (1923), „Die Zukunft einer Illusion“ (1927) und „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ (1939) ein. Mayer zeigt auf, dass die psychoanalytische Theorie das Ergebnis eines “kollektive[n] Unternehmen[s]“ (S. 20) war, das auf der Mitarbeit und dem Austausch mit Kolleg/innen, Freund/innen, Patient/innen und Gleichgesinnten beruhte. Als emblematisch kann hier die Aneignung von Georg Groddecks Konzept des „Es“ von 1923 gelten, das Freud in seine neu gefasste Dreiteilung der Psyche (Ich, Es, Über-Ich) einfügte. Insbesondere durch seine Analyse von „Totem und Tabu“ gelingt es Mayer zu zeigen, dass Freud die Ambition hatte, ein psychologisches, wissenschafts- und kulturtheoretisches System zu entwickeln, das eine Alternative zu Wilhelm Wundts Völkerpsychologie und C.G. Jungs „analytischer Psychologie“ darstellt.

Mayer schildert die Beziehungen Freuds zu Kollegen und Gleichgesinnten (insbesondere Wilhelm Fließ, Sándor Ferenczi, Otto Rank), aber auch zu Alfred Adler und C.G. Jung, die später seine Gegner werden sollten, kursorisch, aber dennoch treffend. Vor allem aber rekonstruiert er Freuds philosophisches Werk, das parallel zur bahnbrechenden Methode der Psychoanalyse entstand. Dies ist damit begründet, dass sich Freud insgesamt mehr von der Philosophie als von der Medizin angezogen fühlte, wie er in einem Brief von 2. April 1896 an Fließ schrieb (S. 42). Mayers Schwerpunktsetzung führt allerdings dazu, dass er den problematischen Aspekten in der Geschichte der Psychoanalyse wenig Raum gibt, etwa Freuds Tendenz zur Ausschließung (mit der häufigen Verwendung pathologisierender Bezeichnungen) derjenigen, die nicht restlos seine Ideen übernahmen oder nicht mit seiner Autorität zurechtkamen (was bekanntlich zur Gründung des „Geheimen Komitees“ führte). Das bleibt aber nachvollziehbar angesichts von Mayers Zielsetzung, eine ausgewogene Darstellung zu liefern.

Pointiert wird die Bedeutung der bekannten Fallgeschichten Freuds (wie der „Fall Dora“ oder der „Rattenmann“, aber auch die Autobiographie des Gerichtspräsidenten Schreber3) vorgestellt. Mit Blick auf die Queer oder Gender Studies wird auch kurz Freuds These der konstitutionellen Bisexualität des Menschen erläutert. Insbesondere bei der Analyse von „Totem und Tabu“ und den darin enthaltenen Reflexionen zu den „Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker“ wird deutlich, dass sich der Neurologe Freud nicht nur auf Darwins Theorien stützte, sondern auch auf Haeckels biogenetisches Prinzip, demzufolge sich in der Ontogenese die Phylogenese des Menschen wiederholt. Dies lieferte die Basis für Freuds Überzeugung, dass die Psyche immer dazu neigt, zu ihren Ursprüngen im biologischen und überindividuellen Sinn zurückzukehren. Dabei handelte es sich um eine Form von mythischer Vorzeit, die nicht nur das Stadium der jeweiligen Kindheit einbezieht, sondern gewissermaßen auch die „ganze[n] Entwicklung der Menschenart“ […] wiederholt“ (S. 91). Eine solche Perspektive, so Mayer überzeugend, „lieferte Freud und der ersten Generation der Psychoanalytiker eine Heuristik, um den Beitrag des ‚archaischen‘ Erbes im Traum und in der infantilen Sexualität zu bestimmen“ (S. 91).4

Im Vergleich zu den oft unausgewogenen Beschreibungen, welche immer noch in der Freud’schen Sekundärliteratur in Bezug auf C.G. Jung auftauchen, finden sich in Meyers Darstellung zahlreiche, in neutraler Sprache gehaltene Hinweise auf den Begründer der „Analytischen Psychologie“ (dessen Streit mit und die Trennung von Freud mitsamt der von Adler ist auf S. 60–65 beschrieben). Ungewöhnlich ist aus meiner Sicht auch, dass Mayer, der am Centre Alexandre-Koyré in Paris arbeitet, kaum auf die Neuinterpretation der Psychoanalyse durch Jacques Lacan eingeht. Das widerspricht dem gegenwärtigen Trend, der in der französischen psychologischen und historisch-psychologischen Sekundärliteratur sehr verbreitet ist; doch beruht dieser Verzicht des Autors wahrscheinlich auf der plausiblen Entscheidung, sein Buch der Analyse und Erforschung der wesentlichsten Aspekten des Freud’schen Werk und dessen Kontextualisierung und Entstehungsgeschichte zu widmen. Alles in allem ist Meyers Buch gelungen und bietet eine kompakte und sorgfältig geschriebene Einführung zu einer enorm einflussreichen historischen Figur des 20. und auch des 21. Jahrhunderts. Die Lektüre sei nicht nur Psychoanalyse- und Psychologieinteressieren empfohlen, sondern auch all denjenigen, die im Bereich der Wissens-, Wissenschafts- und Ideengeschichte arbeiten.

Anmerkungen:
1 Peter Jack Gay, Freud für Historiker, Tübingen 1994; ders., Freud. Eine Biographie für unsere Zeit, Frankfurt am Main 1989.
2 Paul Roazen, Politik und Gesellschaft bei Sigmund Freud, Frankfurt am Main 1971; ders., Sigmund Freud und sein Kreis. Eine biographische Geschichte der Psychoanalyse, Gießen 1997.
3 Daniel Paul Schreber, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, nebst Nachträgen und einem Anhang über die Frage: ‚Unter welchen Voraussetzungen darf eine für geisteskrank erachtete Person gegen ihren erklärten Willen in einer Heilanstalt festgehalten werden?’, Berlin 2003 (Erstausgabe 1903).
4 Ein gutes Beispiel ist in diesem Sinne sein Schüler Sándor Ferenczi, der die Psychoanalyse in Ungarn verbreitete und eigenständige – daher von Freud am Anfang erst als positiv, nachher äusserst kritisch angesehene – Entwicklungen der Freud’schen Ideen vorschlug. Siehe hierzu insbesondere Sándor Ferenczi, Thalassa. Versuch einer Genitaltheorie, Wien 1924.