J. Elvert (Hrsg.): Geschichte jenseits der Universität

Cover
Titel
Geschichte jenseits der Universität. Netzwerke und Organisationen in der frühen Bundesrepublik


Herausgeber
Elvert, Jürgen
Reihe
Historische Mitteilungen – Beihefte 94
Erschienen
Stuttgart 2016: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
276 S., 8 SW-Abb.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Eike Dunkhase, Deutsches Literaturarchiv Marbach

Dass Geschichte sich auch jenseits der Universität ereignet, versteht sich von selbst. Kaum weniger selbstverständlich ist die Tatsache, dass auch jenseits der Universität Geschichte geschrieben wird (oft nicht die schlechteste). Doch nicht von Geschichtsschreibung im engeren Sinne handelt der anzuzeigende Band zur historischen Wissenschaft in der frühen Bundesrepublik. Hier geht es um Geschichte als Betrieb, genauer: um „Institutionen und Einrichtungen“, die traditionell ex negativo als „außeruniversitär“ definiert werden (S. 7).

Die versammelten Beiträge sind aus zwei Tagungen der Ranke-Gesellschaft von 2011/12 hervorgegangen1 und wecken aus mindestens ebenso vielen Gründen Interesse: Zum einen gewinnt die außeruniversitäre Forschung angesichts der universitären Lage zunehmend an Bedeutung und Attraktivität; zum anderen stellt sie einen wissenschaftsgeschichtlichen Gegenstand dar, der in seiner Gesamtheit vergleichsweise unterbelichtet geblieben ist. Seit die Geschichte der Geschichtswissenschaft vor rund 20 Jahren, befeuert durch die Debatte über die Rolle von Historikern im Nationalsozialismus auf dem Frankfurter Historikertag von 1998, einen Aufschwung zu erleben begann, hat sich dies vor allem in biographischen und diskursgeschichtlichen Darstellungen niedergeschlagen. Wo Institutionen im Mittelpunkt standen, handelte es sich meist um universitäre. Dabei kam den außeruniversitären Institutionen in der frühen Bundesrepublik, wie der Herausgeber Jürgen Elvert zu Recht bemerkt, eine Reihe wichtiger Funktionen zu – „bei der Etablierung von Forschungsrichtungen (von der Geschichtsdidaktik bis zur Zeitgeschichte), bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, bei der Aussöhnung und Völkerverständigung“ (S. 7).

Der Begriff „Institution“ wird von Elvert weit gefasst und nicht vom Begriff „Organisation“ unterschieden, was praktisch aber kein großer Schaden ist. Dass der Band als Ganzes nicht gänzlich überzeugt, hat neben anderem mit seinem deklarierten Schwerpunkt auf der Netzwerkforschung zu tun. Das Konzept des „Netzwerks“ erfreut sich seit dem Beginn des „digitalen Zeitalters“ auch unter Historiographiehistorikern großer Popularität. Die notwendige Herausarbeitung sozialer und machtpolitischer Aspekte von Wissenschaft hat dies zweifellos gefördert. Doch läuft die Rekonstruktion von „Netzwerken“ inzwischen Gefahr, von einer sinnvollen wissenssoziologischen Horizonterweiterung zum Selbstzweck zu werden und dadurch von den eigentlich interessanten Fragen der Fachgeschichte abzulenken (die sich eben nicht in einem Phänomen erschöpfen, das in gleichem Maße andere Disziplinen wie etwa Maschinenbau oder Veterinärmedizin betreffen könnte). Gleichzeitig ist das „Gut-Vernetzt-Sein“ bzw. „Netzwerkmäßig-Gut-Aufgestellt-Sein“ ins Zentrum akademischer Seinsverständnisse gerückt. Ob da ein Zusammenhang besteht? Sei es, wie es sei: Wo sich die Historiographiegeschichte als Netzwerkforschung selbst genug ist, bewegt sie sich am Rand der Banalität.

Im vorliegenden Fall vermag der Netzwerk-Funke allerdings nur auf einen kleineren Teil der 15 Beiträge überzuspringen. Zum größeren Teil stellen sie klassische Institutionsgründungsgeschichten dar, etwa zum Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen, zum Internationalen Schulbuchinstitut in Braunschweig, zur Forschungsstelle für die Geschichte Hamburgs 1933−1945 oder zur Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Doch auch die Neuanfänge des Historikerverbandes und der „Historischen Zeitschrift“ nach dem Zweiten Weltkrieg werden beleuchtet. So entsteht ein breites Panorama der außeruniversitären Geschichtsforschung in Westdeutschland. Was fehlt, ist eine verbindliche Problemstellung.

Durch einen souveränen und kenntnisreichen Überblick von Winfried Schulze gewinnt das Unternehmen an Statur. Schulze spricht wichtige wissenschaftspolitische Fragen an, denen der Band nicht systematisch nachgeht. Dazu gehört neben dem Impuls einer „intellektuellen Wiedergutmachungspolitik“ (S. 37) die „Konkurrenz zwischen Bund und Ländern“ (S. 36). Diese eröffnete den Handlungsspielraum für ein Organisationsmodell, das „langfristige Finanzierung bei bemerkenswert geringer inhaltlicher Kontrolle garantierte“ und „inhaltliche Differenzierung und methodische Pluralisierung erlaubte“ (S. 39). Die Mehrheit der Beiträge widmet sich statt strukturellen Bedingungsfaktoren aber mehr dem Zusammenspiel von „Akteuren“.

Rolf Große etwa schildert in seiner Entstehungsgeschichte des Deutschen Historischen Instituts Paris anschaulich die personelle Konstellation, die 1958 die Gründung des nach Rom zweitältesten historischen Auslandsinstituts der Bundesrepublik ermöglichte. Im Mittelpunkt stehen hier die Mediävisten Eugen Ewig und Paul Egon Hübinger. Sie kannten sich aus ihrer Bonner Studienzeit und verfügten über enge Kontakte ins Bonner Regierungsviertel – als Schwiegersohn von Adenauers Leibarzt der eine, als zeitweiliger Leiter der Kulturabteilung des Innenministeriums der andere. Der im Geist der deutsch-französischen Aussöhnung betriebene Institutionenaufbau konnte dabei an ältere Pläne Paul Kehrs zu einer deutschen Forschungsstelle in Paris anknüpfen, deren Umsetzung durch den Ersten Weltkrieg vereitelt worden war.

Mit Gewinn liest sich auch Hans Günter Hockerts’ Beitrag zur Fritz Thyssen Stiftung. Hockerts gelingt es, das Geflecht von wirtschaftspolitischem Kalkül und memorialpolitischer Ambition zu entwirren, aus dem heraus das aus Robert Ellscheid, Kurt Birrenbach, Hans-Günther Sohl und Robert Pferdmenges bestehende „Thyssen-Komitee“ im Jahr 1959 einen der wichtigsten Drittmittelgeber für die bundesrepublikanische Geschichtswissenschaft schuf. Zugleich zeigt Hockerts anhand der Komposition des Wissenschaftlichen Beirats, wie die Stiftung über die Jahre „ein intellektuelles Basislager für die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik“ bildete (S. 250).

Was die Netzwerkanalyse betrifft, tut sich Jürgen Elvert in seiner dreiseitigen, offensichtlich mit heißer Nadel gestrickten Einführung selbst etwas schwer damit, ihren tieferen Sinn zu erklären. So schreibt der Herausgeber zwar wiederholt von ihrem „hohen Erkenntnispotenzial“ für die Geschichtswissenschaften, meint dann aber: „Allerdings müssen dabei die Forschungstätigkeit und der daraus zu erzielende wissenschaftliche Nutzen voneinander abgegrenzt werden. Nicht immer rechtfertigen die Ergebnisse den Zeit- und Kostenaufwand der Analyse.“ (S. 9) Zielt Elverts Vorbehalt auf Olaf Blaschkes „Verlagsfeldforschung“ am Beispiel der katholischen Kommission für Zeitgeschichte? Blaschke übt seinerseits deutliche Kritik am Veranstalter, wenn er zu Beginn seines Beitrags das weitgehende Fehlen der „echten, datenbankgestützten Netzwerkanalyse“ (S. 73) auf den Tagungen beklagt. Als einziger Autor in dem Band zeigt er gekonnt, was man sich darunter konkret vorzustellen hat. Dass den Schlüsselfiguren der Kommission in den Danksagungen von Autoren der hauseigenen Schriftenreihe ein stabiler „Zentralitätsgrad“ zukommt (S. 80), hätte man ihm aber auch ohne die aufwendigen Erhebungen und Schaubilder geglaubt.

Ähnlich skeptisch wie Elvert warnt Morten Reitmayer in seinem Eröffnungsaufsatz über die „Bedeutung von Netzwerken in der deutschen Zeitgeschichte“ vor der „immer noch anhaltenden Netzwerk-Euphorie in der Geschichtswissenschaft“, die dazu verführe, die „Bedeutung netzwerkartiger Verflechtungen grundsätzlich zu überschätzen oder falsch einzuordnen“ (S. 11) − bevor er ausgewählte Kategorien des Netzwerk-Ansatzes schlüssig auf die Erfolgsgeschichten Werner Conzes und Theodor Schieders nach 1945 anwendet. Hierbei handelt es sich freilich um die bekannten Musterbeispiele „jener ‚Netzwerke‘, zu deren Analyse sich heute“, wie ein Kritiker bereits vor einem Jahrzehnt schrieb, „eine Wissenschaftsgeschichte gedrängt sieht, die nach dem radikalen Dekonstruieren aller Inhalte und Methoden an der Realität von Gefälligkeitsrezensionen und Berufungsabsprachen nicht zweifeln möchte“.2

Der Band schließt mit einem Beitrag Christoph Nonns zum „Aufstieg Theodor Schieders in der Geschichtswissenschaft der 1950er Jahre“. Nonn, der 2013 mit einer anhänglichen Biographie Schieders hervorgetreten ist3, schreibt Historiographiegeschichte als Karrieregeschichte. Hier fragt er nach der Rolle, die Netzwerke beim beruflichen Neuanfang des nationalsozialistisch belasteten Historikers spielten – und schätzt sie als eher gering ein. „Entscheidend war für seine Karriere letzten Endes, dass andere nicht oder jedenfalls nicht so geschickt die Themen ansprachen, die er in den 1950er Jahren aufbrachte.“ (S. 265) Dies mag auch als versteckter Hinweis an den Nachwuchs durchgehen. Wer höher hinaus will, weiß sich bei Nonn gleich eingangs belehrt: „Woran lässt sich Erfolg im ‚Feld‘ eines akademischen Faches messen? Pierre Bourdieu hat dafür weithin akzeptierte Kriterien formuliert. Ein Lehrstuhl ist die Grundvoraussetzung. Relativ zu anderen Lehrstuhlinhabern ergibt sich die Stellung eines Wissenschaftlers dann aus wissenschaftlicher Macht – in Form der Präsenz in Gremien und Institutionen. Und sie resultiert aus intellektueller Prominenz – etwa durch die Herausgeberschaft von Zeitschriften, die für das Fach von Bedeutung sind.“ (S. 251) Hier spricht ein Mann vom Fach. Seine Schieder-Geschichte führt uns am Ende wieder ins Diesseits der Universität.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Berichte von Jürgen Nielsen-Sikora, in: H-Soz-Kult, 31.03.2012, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4119> (31.08.2016), und von Jens Ruppenthal, in: H-Soz-Kult, 09.01.2013, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4564> (31.08.2016).
2 Patrick Bahners, Der verlorene Plot. Das Leben des Historikers Hans Rothfels, in: Merkur 60 (2006), S. 253–259, Zitat S. 257; dort auch weiterführende Literaturhinweise.
3 Christoph Nonn, Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2013. Vgl. dazu die Rezension von Peter Schöttler, in: H-Soz-Kult, 19.12.2013, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-21182> (31.08.2016), und Nonns dort ebenfalls abrufbare ausführliche Replik.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension