H.-P. Schmiedebach: Entgrenzungen des Wahnsinns

Cover
Titel
Entgrenzungen des Wahnsinns. Psychopathie und Psychopathologisierungen um 1900


Herausgeber
Schmiedebach, Heinz-Peter
Reihe
Schriften des Historischen Kollegs 93
Erschienen
Berlin 2016: de Gruyter
Anzahl Seiten
306 S.
Preis
€ 79,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Freis, Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Der Wahnsinn hat wieder Konjunktur. Und mit ihm hat im öffentlichen Diskurs des vergangenen Jahres ein ganzes Feld verwandter Begriffe an Schwung gewonnen: Es ist erneut die Rede von Psychopathen und Soziopathen, von Massensuggestion und Massenhysterie und sogar von ganzen Nationen, die nun verrückt geworden seien. Gleichzeitig werden Parallelen zwischen der Gegenwart und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezogen, wobei jedoch einige Unklarheit darüber zu bestehen scheint, welches Jahr – 1914, 1917, 1933? – es sein soll, das sich da gerade wiederholt. Glaubt man den Kommentaren zum Zeitgeschehen, befinden wir uns inmitten eines zweiten „nervösen Zeitalters“. Gleichzeitig hält, wie das stetige Erscheinen neuer Studien zur Geschichte der Psychiatrie und ihrer Diagnosen um 1900 zeigt, auch das historische Interesse am ersten „nervösen Zeitalter“ an. Nicht zuletzt im Gefolge von Joachim Radkaus gleichnamigen Buch hat sich mittlerweile eine fruchtbare historische Forschungslandschaft entwickelt1, die über die Mauern der psychiatrischen Anstalten und Kliniken hinausblickt und weniger den Ausschluss des Wahnsinns aus der Gesellschaft als die Grauzonen der vielfältigen Rückkopplungen zwischen Psychiatrie, Gesellschaft und Politik in den Fokus rückt.

Der von Heinz-Peter Schmiedebach herausgegebene Sammelband „Entgrenzungen des Wahnsinns“, der auf eine Tagung im Jahr 2014 zurückgeht, zeigt die beeindruckende Bandbreite und Ergiebigkeit aktueller psychiatriehistorischer Forschungen. Die titelgebende „Entgrenzung“ definiert Schmiedebach in Abgrenzung zu Michel Foucaults Begriff der „Expansion“. Während Foucault sich mit der „Expansion“ vor allem auf die Ausweitung der Psychiatrie als Disziplinarsystem beziehe, sei, so der Herausgeber, der Begriff der Entgrenzung offener und ermögliche den Blick über die Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen hinaus, ebenso wie „eine multiperspektivische Behandlung der Vielfalt unterschiedlichster Phänomene und eine größere Tiefenschärfe der Untersuchung“ (S. 5). Konkret heißt dies, dass der Begriff der Entgrenzung auf nahezu alle Aspekte der Psychiatriegeschichte bezogen werden kann – von den sprichwörtlichen „Grenzen der Anstalt“ über unklare institutionelle Zuständigkeiten bis hin zu Verschiebungen innerhalb diagnostischer Systeme.2 Was jedoch die Verwendung des Begriffs als semantische Klammer für den Sammelband ermöglicht, geht zugleich auch zu Lasten der analytischen Schärfentiefe. Als nicht unproblematisch erweist sich auch der ebenfalls titelgebende Wahnsinn. Für die Psychiatrie um 1900 war „Wahnsinn“ keine Diagnose mehr; sie hatte den Begriff im Laufe des 19. Jahrhunderts zu Gunsten komplexerer nosologischer Systeme und feingliedrigerer Krankheitsklassifikationen aufgegeben. In seiner entgrenzten Form erscheint der Wahnsinn weniger als Diagnose oder Quellenbegriff denn als Chiffre für eine Vielfalt psychiatrischer Wissensbestände. Gleichzeitig schwingt hier auch, durchaus im Gefolge Foucaults, eine gewisse Romantisierung des Wahnsinns als dem schillernden Anderen der Vernunft mit.

Die im Untertitel erwähnte „Psychopathie“ trägt kaum zur Wiedereingrenzung bei und ist ihrerseits doppeldeutig. Zwar war Psychopathie tatsächlich eine zeitgenössische Diagnose, doch diese bezeichnete im Gegensatz zur wörtlichen Übersetzung des Begriffs keine Geisteskrankheit, sondern eine Reihe von Zuständen und Konstitutionen im Grenzbereich zwischen psychischer Krankheit und Gesundheit. Der etwas sperrige und nicht explizit definierte Begriff der Psychopathologisierungen ließe sich insofern wohl als eine spezifisch psychiatrische Variante von Medikalisierungsprozessen lesen.3 Insgesamt liefert die Einleitung also weniger ein einheitliches Forschungsprogramm oder einen systematischen Erklärungsansatz als eine weite Klammer für die Vielzahl unterschiedlicher Themen, Perspektiven und Ansätze der einzelnen Beiträge. Damit ist der Band exemplarisch für die kulturwissenschaftliche Öffnung der jüngeren Psychiatriegeschichte, die sozialhistorische Perspektiven und die Frage nach der Sozialdisziplinierung nicht aufgegeben, aber durch einen fruchtbaren Methodenpluralismus und den Blick auf widersprüchlichere Dynamiken erweitert hat.4

Eine inhaltliche Zusammenfassung des Bandes fällt angesichts der Spannbreite an Themen und Perspektiven nicht leicht. Daher möchte ich mich darauf beschränken, knapp auf einige der wesentlichen Aspekte einzugehen. Schmiedebach nennt sechs verschiedene Themenkomplexe, die auch die inhaltliche Struktur des Bandes vorgeben:
(1) Revolution, semantischer „flow“ und Spannung; (2) Familienpflege, Diagnosen und Polikliniken im Vergleich: Topografische und diagnostische Grenzverschiebungen; (3) Psychopathie: Nosologische Entgrenzungen; (4) Querulantenwahn: Disziplinäre Entgrenzungen; (5) Pathographie, Genie und Wahnsinn: Entgrenzende Zirkeldynamiken des künstlerischen Schaffens; (6) Sexualwissenschaft: Grenzverschiebungen im intimen Selbst.

Zwischen den Beiträgen und Themenkomplexen, die keiner strengen chronologischen Ordnung folgen, bestehen oftmals enge Verbindungen und Überlappungen. Die psychiatrische Auseinandersetzung mit der Novemberrevolution, die Thomas Beddies im ersten Beitrag untersucht, war nicht zuletzt ein Diskurs über die politische Gefährlichkeit so genannter Psychopathen, einer Diagnose also, die auch im Mittelpunkt von Stefan Wulfs Beitrag zum Hamburger Drogendiskurs der 1920er-Jahre und Urs Germanns exzellenter Darstellung „psychopathischer Persönlichkeiten“ als boundary objects (Susan Leigh Star/James R. Griesemer) zwischen Psychiatrie und Strafjustiz steht. Die umstrittenen Grenzen der Zuständigkeit von Justiz und Psychiatrie wiederum führen von den Psychopathen zu den Querulanten, mit denen sich die Texte von Rupert Gaderer und Sonja Mählmann/Cornelius Borck befassen. Kai Sammets Beitrag über die Pathographien Friedrich Hölderlins hingegen wäre mit dem Genie/Wahnsinn-Diskurs, mit dem sich auch Gabriele Dietze befasst, vielleicht besser beschrieben als mit dem etwas unscharfen Begriff des „semantischen flows“.

Ein einheitlicheres Bild ergibt sich aus den vier Beiträge, die sich mit Polikliniken und der extramuralen Versorgung psychisch Kranker befassen. Hierbei handelt es sich um wesentliche Desiderata einer Psychiatriegeschichte, deren Narrative zumeist von Universitätskliniken und Anstalten dominiert wurden. Felicitas Söhners Beitrag gibt entlang des Beispiels der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren einen hervorragenden Überblick über die Entwicklung der Aufnahme psychiatrischer PatientInnen in Pflegefamilien zwischen 1875 und 1935. Eine vergleichbare Langzeitperspektive nehmen auch Julie Clauss/Christian Bonah und Volker Hess/Chantal Marazia ein, die in ihren Beiträgen die wechselhafte Geschichte der Universitätspsychiatrie in Straßburg in den Fokus nehmen. Die beiden letztgenannten Beiträge zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie durch die systematische Auswertung von Krankenakten der wichtigen und komplexen Frage nach dem Zusammenhang zwischen psychiatrischem Wissen und lokalen Praktiken nachgehen.

Um zu einem Fazit zu kommen: Sehr erfolgreich ist der Band sicherlich, wenn es darum geht, die bemerkenswerte Produktivität aktueller Forschungen in der Psychiatriegeschichte zu präsentieren. Die meisten Beiträge sind für sich genommen ausgesprochen gelungene, relevante und lesenswerte Fallstudien, auch wenn die Tendenz einiger AutorInnen, ihre Texte mit theoretischem Jargon zu sättigen, bisweilen den Blick auf das historische Material verstellt. Dies führt vereinzelt zu Stilblüten wie beispielsweise zur Feststellung, dass „im bunten Strauß antirealistischer Epistemologien […] der Konstruktivismus nur die derzeit duftendste Blüte“ sei (S. 45). Der Anspruch jedoch, mit Themen und Fragestellung der Psychiatriegeschichte an aktuelle Debatten in den Kulturwissenschaften anzuschließen, soll damit keinesfalls in Frage gestellt werden. Das Potential solcher Ansätze stellen die Beiträge deutlich unter Beweis.

Ein gemeinsames Narrativ ergibt sich aus den einzelnen Beiträgen allerdings nicht. Stattdessen entsteht der Eindruck eines Kaleidoskops, in dem sich aus unterschiedlichen Konfigurationen wiederkehrender Begriffe und Motive stets neue Bilder ergeben. Zu einem gewissen Grade spiegelt der Band damit auch die Selbstwahrnehmung des „nervösen Zeitalters“ wieder, das von zahlreichen ZeitgenossInnen als Epoche zunehmender Widersprüchlichkeit und Fragmentierung erlebt wurde. Dennoch wäre bei aller Sympathie für den Versuch, die Grauzonen und Randbereiche der Psychiatrie um 1900 auszuloten, eine stärkere Fokussierung auf bestimmte Leitmotive förderlich gewesen. Der Begriff der Entgrenzung wird zwar von mehreren AutorInnen aufgenommen, erweist sich aber als letztlich zu flüchtig und polyvalent, um die Beiträge analytisch einzugrenzen. Dass es sich dennoch um eine der interessantesten Neuerscheinungen im Bereich der Psychiatriegeschichte handelt, liegt vor allem daran, dass viele der Beiträge auf fruchtbare und anregende Weise neue Themenfelder erschließen. Für weitere Forschungen im Grenzbereich des „Wahnsinns“ wird das Buch für einige Zeit sicherlich ein wesentlicher Bezugspunkt und eine reiche Inspirationsquelle sein.

Anmerkungen:
1 Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998.
2 Cornelia Brink, Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860–1980, Göttingen 2010.
3 Zuletzt: Joan Busfield, The Concept of Medicalisation Reassessed, in: Sociology of Health & Illness 39 (2017), S. 759–774.
4 Wie beispielsweise auch in: Volker Hess / Heinz-Peter Schmiedebach (Hrsg.), Am Rande des Wahnsinns. Schwellräume einer urbanen Moderne, Wien 2012.