G. Roth u.a. (Hrsg.): Aus dem Großen Hauptquartier

Cover
Titel
Aus dem Großen Hauptquartier. Kurt Riezlers Briefe an Käthe Liebermann 1914–1915


Herausgeber
Roth, Guenther; Röhl, John C. G.
Reihe
Kultur- und sozialwissenschaftliche Studien / Studies in Cultural and Social Sciences 15
Erschienen
Wiesbaden 2016: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 299 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Max Bloch, Köln

Als die Riezler-Tagebücher, deren Authentizität seitdem umstritten ist, 1972 ediert worden sind, geschah dies zu dem Zweck, der These eines deutschen „Griffs nach der Weltmacht“ – Stichwort: „Fischer-Kontroverse“ – Paroli zu bieten.1 Heute, 2016, werden Kurt Riezlers Briefe an Käthe Liebermann von dem Herausgeber John C.G. Röhl der „revisionistischen Flut“ (S. 21) entgegengestemmt, die seit Christopher Clarks „Schlafwandlern“, die historische Forschung zum Ersten Weltkrieg auf den Stand vor Fritz Fischers spektakulärem Werk von 1961 zurückgespült habe.2 Kurt Riezler scheint sich also, sowohl zur Relativierung als auch zur Betonung einer deutschen Kriegs(mit)schuld 1914 zu eignen. Ob ihm diese Vereinnahmung, ob von der einen oder der anderen Seite, gut tut, steht freilich dahin.

Die Entdeckungsgeschichte der nun edierten Briefe, die uns der Mitherausgeber Guenther Roth in seiner Einführung schildert, ist spannend: Er selbst hatte sie 2008 im Zuge seiner Studien zu Max Weber und Else Jaffé von Richthofen durch Zufall auf dem Dachboden Christopher Jeffreys in Baltimore entdeckt. Jeffrey ist der Sohn von Friedrich Jaffé/Frederick Jeffrey und Maria geb. Riezler, Kurts und Käthes 1917 geborener Tochter. Die Editionsgeschichte spiegelt somit auch einen Teil Emigrationsgeschichte wider. Im Anschluss an Roths Einführung weist Röhl in einer Historischen Einleitung, die den Titel „Der Drang zum Krieg“ trägt, darauf hin, dass so gut wie alle Primärquellen führender deutscher Akteure der Julikrise 1914 vernichtet sind – vermutlich gezielt vernichtet wurden, um die vermeintlich planmäßige Herbeiführung des Krieges durch Deutschlands Staatsmänner und Militärs zu verschleiern. Hierin liegt fraglos der Wert der Riezler-Tagebücher, die die politische Stimmung jener Julitage einfangen, mögen sie nun nachträglich bearbeitet worden sein oder nicht. Dass Roth nun aber Riezler, den „Liebling“ des Kriegskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg, gegen diesen in Stellung bringt, entbehrt, wie oben dargestellt, nicht einer gewissen Ironie. Denn 1972 verhielt es sich noch andersherum.

Im Grunde eignen sich die Briefe zum Schlagen vergangener Schlachten nicht. Erstens setzen sie – von zwei im März 1914 geschriebenen abgesehen – Mitte August desselben Jahres ein, stellen somit also keine Primärquelle zur Julikrise dar. Zweitens sind sie, vom schmachtenden Bräutigam, der es als Pressereferent des Reichskanzlers im Großen Hauptquartier aushalten muss, an seine Verlobte geschrieben, um deren Liebe er bangt, eher persönlicher Art. Und drittens finden sich in ihnen eigentlich kaum Äußerungen, die eine Deutung Bethmann Hollwegs als kühl kalkulierenden Kriegstreiber stützen. Der Kanzler erscheint hier als liebenswerter Schwarzseher und politischer Tollpatsch mit dem „Temperament eines ausgesprochenen Pechvogels“ (S. 149), eben gerade nicht als „Verbrechernatur“: „Der Kanzler ist so ein schwerer Mensch […] ohne Fatalismus mit zuviel Menschlichkeit und schwerem Blut, die Verantwortlichkeit […] zu tief empfindend und deswegen trotz grosser Zähigkeit und Kraft immer zentnerbelastet.“ (S. 209) Die Charakteristik eines neuen Alexander oder Napoleon läse sich sicher anders. Der einzige Satz, den die Fischer-Schule für sich reklamieren könnte und den Röhl für sich auch reklamiert, ist folgender: „...die Leute müssen doch wenigstens zugeben, dass die Inszenierung [im Juli 1914] sehr gut war. Im übrigen war der Krieg zwar nicht gewollt, aber doch berechnet und ist im günstigsten Moment ausgebrochen.“ (S. 124) Aber auch über diesen Satz könnten die historischen Philologen trefflich streiten.

Als Außenseiter, den die Gunst des Kanzlers an seinen Vorgesetzten vorbei in eine exponierte Vertrauensstellung gehoben hatte, gehörte Riezler – im Kreis der hohen Diplomaten und Militärs des Großen Hauptquartiers – „nicht dazu“ und wollte auch gar nicht „dazugehören“. Er, der ein ausgesprochener Friedensmensch war, von bellizistischen Anwandlungen frei, teilweise aber mit Anleihen an zeitgemäße Würdigungen der ästhetischen Schönheit des Krieges operierend, pochte auf seine Autonomie. Mehrfach äußert er seine – im Rückblick unbegründete – Furcht vor zu großen deutschen Siegen, die den „alldeutsche[n] Grössenwahn“ anfachen und die deutsche Kultur unter sich begraben würden (S. 131). Vorsichtig spottet er über Max Liebermanns, seines Schwiegervaters in spe, „Ultra-Nationalismus“, ätzt er gegen Walther Rathenaus politische Betriebsamkeit und kommt er immer wieder auf den „Vater der Lüge“, Großadmiral Alfred von Tirpitz, zu sprechen, „der mit seinen dummen Dreadnoughts an der ganzen Sache schuld ist“ (S. 161). Das „Danaergeschenk der Weltherrschaft“ weist Riezler entschieden zurück (S. 199) und hofft darauf, nach einem günstigen Friedensschluss gemeinsam mit dem Kanzler eine liberale Ära in Deutschland einläuten zu können. Klar ablehnend äußert er sich zu den Plänen der entschiedenen Annexionisten, wenn er auch – und hier paraphrasiert er die von ihm ausgearbeitete Denkschrift vom 18. Oktober 1914 – dafür plädiert, Belgien als „eine Art Tributärstaat“ zu behalten, um hierdurch Frankreich zu schwächen (S. 188). Die Briefe enden im Frühjahr 1915, als sich, wie er notiert, noch immer „nicht der Schwanz einer Friedenstaube“ zeigte (S. 255).

Ein zweiter Teil der Edition besteht aus sechs Briefen, die Riezler 1918, mittlerweile Ehemann der zäh umworbenen Käthe und Vater eines Töchterchens sowie Botschaftsrat im bolschewistischen Russland, aus Moskau schrieb: Das bolschewistische Experiment, an dem er, der in die Finanzierung der Bolschewiki 1917 in zentraler Rolle eingebunden war, das er aber sicherlich nicht als dauerhaft ansah, betrachtete der liberale Weltbürger interessiert und kam nach eingehender Untersuchung zu folgendem Befund: „Russland ist irrsinnig geworden.“ (S. 274) In seinem Epilog skizziert Roth Kurt und Käthe Riezlers weiteres Ergehen: Nach einer politischen Verwendung als Vertreter der Reichsregierung in Bayern 1919 (wo er an der Niederschlagung der Münchner Räterepublik Anteil hatte) und als Kabinettschef des Reichspräsidenten Friedrich Ebert 1919/20 zog er sich, wie er es in seinen Briefen 1914/15 bereits erwogen hatte, in die Wissenschaft zurück. 1933 in „Schutzhaft“ genommen, emigrierte Riezler mit seiner Frau 1938 in die USA, wo er wieder lehren konnte. Max Liebermann war zuvor im Februar 1935 verstorben; Martha Liebermann lehnte es ab, mit Tochter und Schwiegersohn die Heimat zu verlassen. Sie nahm sich im März 1943, um der drohenden Deportation nach Theresienstadt zu entgehen, das Leben. Kurt und Käthe Riezler starben 1955 bzw. 1952.

Kurt Riezlers Briefe an Käthe Liebermann sind ein bewegendes Zeitdokument. Sie führen den Leser in die Welt jenes liberalen und weltläufigen (und überkonfessionellen: Kurt war Katholik, Käthe Jüdin) Bürgertums, das sich im Ersten Weltkrieg wenn nicht begeistert, so doch loyal zur Staats- und Kriegsführung verhielt. Am 9. September 1914 hatte Kurt an Käthe geschrieben: „...vielleicht treten wir überhaupt in ein Zeitalter der Kriege.“ (S. 145) Dass es ein Zeitalter der Vernichtungskriege, der Mordfabriken und Tötungsmaschinen, dass diese Lebenswelt zerbrechen würde, das konnte er damals nicht ahnen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Karl-Dietrich Erdmann (Hrsg.), Kurt Riezler. Tagebücher, Aufsätze, Dokumente, Göttingen 1972.
2 Vgl. Fritz Fischer, Der Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918, Düsseldorf 1961; Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013.

Kommentare

Von H-Soz-Kult, Redaktion11.08.2016

In Zeile 9 des zweitletzten Paragaphen dieser Rezension wurde versehentlich Roehl statt Roth als Verfasser des "Epilogs" genannt. Im zweiten Paragraph wurde versehentlich Marianne Riezler, Walter Riezlers Tochter, mit Marie Riezler, Kurt Riezlers Tochter verwechselt. Beide Fehler wurden korrigiert. Rezensent und Redaktion bitten um Entschuldigung.

Die Redaktion von H-Soz-Kult