K. Krieger: Der "Berliner Antisemitismusstreit"

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Titel
Der "Berliner Antisemitismusstreit" 1879-1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Eine kommentierte Quellenedition im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung


Herausgeber
Krieger, Karsten
Erschienen
München 2003: K.G. Saur
Anzahl Seiten
953 S. in 2 Bd.
Preis
€ 258,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Brosch, Fachbereich Soziologie, Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik

Mit seinem Ende 1879 in den Preußischen Jahrbüchern veröffentlichten Aufsatz "Unsere Aussichten" und den darin enthalten Forderungen und Vorwürfen gegenüber den deutschen Juden sollte der bekannte, vormals liberale Historiker und Politiker Heinrich von Treitschke (1834-1896) in die Geschichte des Modernen Antisemitismus eingehen. Treitschke forderte unter anderem, die Juden "sollten Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen [...]; denn wir wollen nicht, daß auf die Jahrtausende germanischer Gesittung ein Zeitalter deutsch-jüdischer Mischkultur folge" (S. 12). Diese und andere Aussagen Treitschkes in seinem Aufsatz machen letztlich seine massive Überfremdungsangst deutlich. Treitschke zeichnete von sich das Bild eines neutralen Beobachters, der zwar seine Zweifel an einer vollständigen Assimilation der Juden ausspricht, indem er Tacitus zitiert, "es wird immer Juden geben, die nichts sind als deutsch redende Orientalen" (S. 15) und behauptete, dass vor allem nach der gesetzlichen Emanzipation die Juden - "nur eine Minderheit unter uns" (S. 14) - überzogene Forderungen gestellt hätten und mittlerweile ein "gefährlicher Geist der Überhebung in jüdische Kreisen erwacht ist [...]. Man lese die Geschichte der Juden von Graetz 1: welch fanatische Wuth gegen den 'Erbfeind', das Christenthum, welcher Todhaß grade wider die reinsten und mächtigsten Vertreter germanischen Wesens, von Luther bis herab auf Goethe und Fichte! Und welche hole beleidigende Selbstüberschätzung!" (S. 12). Aber anschließend auch relativierend erklärt, dass von einer "Zurücknahme oder auch nur einer Schmälerung der vollzogenen Emancipation [...] unter Verständigen gar nicht die Rede sein" (S. 14) könnte. Jedoch schon in dem im Dezember veröffentlichten Aufsatz "Herr Graetz und sein Judenthum" postuliert er, "mit der vollzogenen Emancipation ist auch der alte Anspruch der Juden, eine Nation für sich zu sein, gänzlich hinfällig geworden. In diesem Jahrhundert der nationalen Staatsbildungen könne die europäischen Juden nur dann eine friedliche und der Gesittung förderliche Rolle spielen, wenn sie sich entschließen - soweit Religion, Ueberlieferung und Stammesart dies erlaubt - in den Culturvölkern, deren Sprache sie reden, aufzugehen." (S. 121) Einige Seiten später fährt er fort, "tritt aber dieser Racedünkel auf den Markt hinaus, beansprucht das Judenthum gar Anerkennung seiner Nationalität, so bricht der Rechtsboden zusammen, auf dem die Emancipation ruht. Zur Erfüllung solcher Wünsche gibt es nur folgende Mittel: Auswanderung, Begründung eines jüdischen Staates irgendwo im Auslande [...]. Auf deutschem Boden ist für eine Doppel-Nationalität kein Raum." (S. 126)

Treitschke forderte von den Juden somit letztlich die vollständige Akkulturation. Nämlich, dass die völlige Preisgabe ihrer kulturellen und religiösen Identität. Er verlangte damit im Grunde, was er selbst für unerfüllbar hielt, da er den Juden andererseits spezielle Eigenschaften als wesenhaft zuschrieb. Die Lösung der Judenfrage ist aus dieser Sichtweise somit nicht möglich, da zumindest seines Erachtens, die Juden innerhalb der Nation nicht vollständig zum Verschwinden zu bringen sind. Er gewährt ihnen allerdings ein Gastrecht zur Existenz als Juden innerhalb des Reiches ein, allerdings unter der Maßgabe, dass sie dieses Recht ohne „einen fühlbaren Einfluß auf die nationale Gesittung"(S. 11) ausüben. Solche Bedingungen sind natürlich nur schwerlich zu erfüllen. In ihnen ist zumindest angelegt, dass die den Juden zugestandenen Eigenarten jederzeit auch als Grund zur Verweigerung der Assimilation ausgelegt werden können.

„Mit ‚Unsere Aussichten' brachte Treitschke das Kunststück fertig, den in Deutschland grassierenden Antisemitismus zu unterstützen und zugleich den Eindruck zu erwecken, dass er grade dies nicht täte, indem er sich scheinbar von den Antisemiten distanzierte und seine Beschuldigungen in das Gewand vermeintlich werturteilsfreier Beobachtungen kleidete: ‚Bis in die höchsten Kreise unserer Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit und nationalen Hochmuts mit Abscheu von sich weisen würden' ertöne ‚es heut wie aus einem Munde: Die Juden sind unser Unglück!'" (S. XVI) so urteilt Karsten Krieger richtig, dabei die wohl bekannteste Textstelle aus Treitschkes Aufsatz zitierend.

Im Aufsatz „Unsere Aussichten" werden das Deutsche und das Jüdische von Treitschke je zu einem Wesen ontologisiert. Deutsches und Jüdisches trennt damit eine grundsätzliche Kluft. Überdies ethnisiert Treitschke die Juden zu einer Abstammungsgemeinschaft, „einem Volke mit so reinem Blute und so ausgesprochener Eigenthümlichkeit"(S. 11). Durch die Verbindung von Ontologisierung, Ethnisierung, Personifikation und Abstraktion wird ermöglicht, das Wesen der Gesamtheit einer Personengruppe in Taten und Personen vorzustellen. Was geschieht, geschieht so Kraft der Handlungen von Personen, die ihrerseits ontologisch-ethnisch bestimmt sind. Sie tun, was ihrer Bestimmung gemäß ist. Abstraktionen ergänzen die ontologische Bestimmung durch weiter generelle Wesensmerkmale. Diese Abstrakta erzeugen schuldige Täter, anstatt bei anonymen Verhältnissen stehenzubleiben.2

Äußerungen wie Treitschke sie formulierte, blieben auch damals nicht lange unerwidert. Treitschke löste mit seinem Aufsatz "Unsere Aussichten", in dem er sich letztlich nur im letzten Drittel mit der "Judenfrage" befasst hatte, eine Diskussion aus, die über akademische Kreise weit hinaus, große Teile des deutschen Bildungsbürgertums erfasste und in welcher wenig rational argumentiert wurde. "Kein antisemitischer Aufsatz löste jemals eine so heftige Reaktion aus, wie 'Unsere Aussichten', und kein antisemitisches Pamphlet erzielte jemals eine derart weite Verbreitung wie die unter dem Titel 'Ein Wort über unser Judentum' im Januar 1880 für einen großen Leserkreis veröffentlichte preisgünstige Broschüre, in der Treitschke seine bis dahin erschienen 'Judenartikel' zusammengefasst hatte." (S. XVIIf.)
In der wissenschaftlichen Antisemitismusforschung herrscht im Großen und Ganzen Einigkeit darüber, dass Treitschkes „Unsere Aussichten" in der Genese des deutschen Antisemitismus eine exemplarische, möglicherweise sogar paradigmatische Bedeutung zukommt. 3 In der Person Treitschkes wird die Transformation vom liberalen Nationalismus zum post- und antiliberalen, nationalen Antisemitismus erkennbar, auch wenn die Ausformulierung antisemitischer Weltanschauung nicht nur für (Ex-)Liberale reserviert war.

Die durch Treitschkes in den Jahrbüchern veröffentlichten Aufsatz ausgelöste deutschlandweite Debatte, erfasste nahezu alle Milieus und polarisierte die politische Öffentlichkeit nachhaltig im hohen Maße und ist heute - obwohl von Zeitgenossen als "Treitschkestreit" bezeichnet - als "Berliner Antisemitismusstreit" jedermann ein Begriff, der sich mit dem „Modernen Antisemitismus" befasst. Die Bezeichnung „Berliner Antisemitismusstreit" geht auf eine 1965 erstmals von dem Journalisten Walter Boehlich veröffentlichte Quellensammlung 4 zurück, die zweifellos zu einem Standartwerk geworden ist. Obwohl Boehlich in seinem Nachwort auch anmerkte, dass es sich bei der Auseinandersetzung keinesfalls nur um einen Gelehrtenstreit gehandelt hat – genannt werden unter anderem etliche Rabbiner 5, die sich in den Streit zu Wort gemeldet haben, genauso deutsche und jüdische Zeitungen, die sich mittels ihrer Berichterstattung in den Streit einmischten - beschränkte er die Auswahl der insgesamt 22 Texte bis auf vier Ausnahmen 5 vielmehr nur auf die wesentlichen Äußerungen aus der Professorenschaft; neben Treitschke hier vor allem die der „jüdischen" Professoren Graetz, Breßlau, Bamberger, Cohen und besonders die Wortmeldungen von Theodor Mommsen 6. Für Boehlich ist der Mommsen der wichtigste Widerpart Treitschkes. In seiner Textsammlung und dem dazugehörigen Nachwort konstruierte er die wohl bekanntesten Opponenten Treitschke und Mommsen zu einem „antagonistischen Gegensatzpaar" (S. VIII). Auf der einen Seite den rückständigen, mittlerweile zum Antiliberalen degenerierten, Nationalisten Treitschke, auf der anderen den „noblen Mommsen", welchen er zum freisinnigen und fortschrittlichen, toleranten Anwalt des deutschen Judentums idealisiert.

Allerdings belegt die genauere Lektüre Mommsens Werks [siehe Anmerkung 6], sowie seiner Replik „Auch ein Wort über unser Judenthum" und die Korrespondenz zwischen ihm und Treitschke, dass ihre Differenzen über die „Judenfrage" möglicherweise gar nicht so groß waren, wie der Leser nach der unkritischen Lektüre der Edition und vor allem des Kommentars von Boehlich zu glauben scheint. Ähnlich wie Treitschke ethnisierte und ontologisierte er die Deutschen und die Juden, sprach von "deutschen Occidentalen" und "semitische Blut" und deren "Stämme [...] recht sehr ungleich"(S. 700) wären, wies den Juden "Sondereigenschaften"(S. 701) zu, die allerdings so schränkt er ein zu scharf empfunden würden. Sie seien "in Deutschland ein Element der nationalen Decompositon"(S. 701) 7 und auch "der jüdische Wucher" sei "keine Fabel"(S. 706). Zu guter Letzt behauptete Mommsen auch noch, dass die Juden einen „Theil der Schuld an der jetzigen Situation“ trügen, denn "das Wort 'Christenheit'" sei es, welches "den Charakter der heutigen internationalen Civilisation" zusammenfaßt."(S. 708) Und "außerhalb dieser Schranken zu bleiben und innerhalb der Nation zustehen ist möglich, aber schwer und gefahrvoll." Offenbar gehörten die Juden, welche sich nicht zum Christentum bekannten, seines Erachtens nicht zur zivilisierten Welt. Er schließt seinen Aufsatz: "Der Eintritt in eine große Nation kostet seinen Preis", diesen hätten bislang alle bezahlt und "sind daran ihn zu bezahlen, und wir fühlen es wohl, daß wir damit von unserem Eigensten ein Stück hingeben. Aber wir geben es dem gemeinsamen Vaterland. Auch die Juden führt kein Moses wieder in das gelobte Land [sic!]; mögen sie Hosen verkaufen [!] oder Bücher schreiben, es ist ihre Pflicht, so weit sie es können ohne gegen ihr Gewissen zu handeln, auch ihrerseits die Sonderart nach bestem Vermögen von sich zu thun und alle Schranken zwischen sich und den übrigen deutschen Mitbürgern mit entschlossener Hand niederzuwerfen."(S. 709)

Damit fordert er letztlich wie Treitschke die Preisgabe ihrer Identität. Die Reaktion Mommsens deutet auf ein charakteristisches Problem des liberalen Bürgertums dieser Zeit, denn Mommsen konnte sich, ebenso wie die meisten anderen nichtjüdischen Kontrahenten Treitschkes, die soziale Integration der Juden nur in Form einer vollständigen Assimilation denken, dies wird an den etlichen Kommentaren der liberalen Presse deutlich, welche in dieser Edition zusammengestellt wurden.

Wolfgang Benz stellt fest in Bezug auf Boehlich fest, seine „Edition hat sich für die Forschung als fruchtbar erwiesen, indem sie neue Fragen eröffnete." Er muss jedoch auch einschränken, dass sie leider „auch auf falsche Fährten geführt" hat, „da die Wissenschaft der einmal vorgelegten Quellenedition nahezu ausschließlich gefolgt ist." (S. VII) Dem ist unbedingt zuzustimmen. 8 Es ist daher umso erfreulicher, dass das Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin eine gründliche Quellenedition zu der bedeutenden Kontroverse in Auftrag gegeben hatte, deren zweibändiges Ergebnis dem Rezensenten nun vorliegt. Übernommen hatte diese verantwortungsvolle Aufgabe Karsten Krieger 9, der neben der anspruchsvollen kompilatorischen Tätigkeit die überaus informative wie im Verhältnis zum Gesamtwerk vielleicht etwas knapp gehaltene Einleitung verfasst hat. Auch hat er die Quellen gekonnt durch seine kenntnisreichen wie kritischen Kommentare und Anmerkungen flankiert, die - sofern der Rezensent dies beurteilen kann – dem neuesten Stand der Forschung entsprechen. Die umfassende Quellenedition soll die wichtigsten veröffentlichten Texte verzeichnen, die zwischen August 1879 und Mai 1881 erschienen sind und so das komplexe diskursive Umfeld beleuchten, in das dieser Konflikt eingebettet war.

Neben Zeitschriftenaufsätzen, Zeitungsartikeln und -notizen sowie Broschüren und Flugschriftenliteratur, wurden auch unveröffentlichte Texte, wie vor allem Korrespondenzen, in der Edition berücksichtig, hierdurch wird auch deutlich, dass die Debatte nicht nur Mittels des gedruckten Wortes geführt wurde; und gerade der Briefwechsel zwischen Mommsen und Treitschke ist, wie schon erwähnt, besonders aufschlussreich.

Durch die nun neu editierten Texte zum "Berliner Antisemitismusstreit" fällt auch auf, dass in dieser ersten Phase vorwiegend jüdische Deutsche und erklärtermaßen linksliberale Blätter antworteten unter den jüdischen Zeitungen die "Jüdische Presse und die "Allgemeine Zeitung des Judentums", unter den nichtjüdischen die bekannte "Vossische Zeitung" oder der "Berliner Börsen Courier". Selbst die ultrakonservative "Kreuzeitung", in der nicht selten antisemitische Standpunkte vertreten wurden, kritisierte Treitschke. Nur die der katholischen Zentrumspartei sehr nahe stehenden "Germania", die schon seit dem „Gründerkrach“ 1873 immer wieder gegen die Juden agitierte, brachte schon kurz nach der Veröffentlichung von "Unser Aussichten" am 28.11.1879 einen Teilabdruck des Aufsatzes und kommentierte: "Unsere Leser werden finden, dass die Auslassungen Treitschkes im Wesentlichen mit dem übereinstimmen, was wir seit Jahren in der Judenfrage dargelegt haben." Abgesehen von einem weiteren Artikel in der "Germania" schwieg das übrige konservative Bürgertum anfänglich.

Erst ab Januar 1880 meldeten sich auch verstärkt Antisemiten zu Wort, so H. Naudh, Wilhelm Ender und Moritz Busch (April) mit ihren Broschüren oder zum Beispiel der antisemitische "Reichsbote" mit einem Artikel "über die Bedeutung für die antisemitische Bewegung"(S. 305), ebenso die antisemitische "Deutsche Wacht", die zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht mehr in den Händen des bekannten Antisemiten Wilhelm Marr befand. Schon Anfang April 1880, so gibt die Edition zu Erkennen, war die erste Phase der Auseinandersetzung abgeschlossen.

Zum Jahresende weitete sich der Streit dann enorm aus und trat in seine zweite Phase. Bedeutend für die Ausweitung war, wie Krieger anhand der Quellen dokumentieren kann, insbesondere die Initiierung der „Antisemitenpetition“ 10. Als sich im Dezember 1880 Theodor Mommsen mit der Broschüre "Auch ein Wort über unser Judentum", welche es in nicht einmal einer Woche zu drei Auflagen brachte, zu Wort meldete und "sich nun die zwei berühmtesten Gelehrten Deutschlands gegenüberstanden," so kommentiert Krieger, "erreichte die Polarisierung der Öffentlichkeit eine Ausmaß an Intensität, die in Bezug auf den Antisemitismus im 19.Jahrhundert nur noch von der 'Dreyfus-Affäre' in Frankreich übertroffen wurde."(S. 695)

Der Streit beherrschte ab Dezember zunehmend die Titelblätter der deutschen Presse. Auch im Ausland wurde er in der Tagespresse "mit einer Mischung aus Befremden, Verachtung und Sorge" (S. 602) beobachtet und kommentiert, Krieger wählte hierfür stellvertretend zwei Artikel der Londoner "Times" aus. Die Edition der Texte illustriert eindrucksvoll, wie sich nach der Veröffentlichung der Broschüre Mommsens die Stimmung endgültig gegen Treitschke wendete. Neben den jüdischen Zeitungen, schossen sich nun auch die liberale Presse endgültig gegen Treitschke ein. Die Wortmeldungen zugunsten Treitschkes wurden seltener und zurückhaltender. Somit markierte der Aufsatz Mommsens den gleichzeitigen Höhe- wie Wendepunkt des "Berliner Antisemitismusstreits"

Wolfgang Benz urteilt in seinem Vorwort treffend:
"Der 'Berliner Antisemitismusstreit' war vor allem eine Identitätsdebatte, eine Auseinadersetzung darum, was nach der 1871 erfolgten Reichsgründung und rechtlichen Emanzipation der Juden, Deutscher zu sein und deutscher Jude zu sein, eigentlich bedeuten sollte und anhand welcher Kriterien sich diese Fragen beantworten ließen. Im 'Berliner Antisemitismusstreit wurde nahezu alles verhandelt, was sich seit der Reichsgründung und der Judenemanzipation in Deutschland an Identitätskonflikten aufgestaut hatte."

Nachdem Treitschke auf Drängen Mommsens am 15. Dezember ein öffentliches Dementi zur "Studentenpetition" 11 abgab und auf eine im neu beigefügten Nachwort der grade erschienen dritten Auflage der Flugschrift "Auch ein Wort über unser Judentum" enthaltene Zurechtweisung Mommsens nicht reagierte, hatte er den Streit zumindest in den Augen der Öffentlichkeit verloren.
Die im April 1881 Bismarck übergebene "Antisemitenpetition“ blieb ohne weitere Folgen. Im Gegenteil, die Linksliberalen gingen aus den nachfolgen Wahlen gestärkt hervor.

Krieger betritt mit seiner kommentierten Edition, welche eine sagenhafte Fleißarbeit darstellt, durch die Einbeziehung der zahlreichen Zeitungskommentare und entlegenen und mühselig zusammen getragenen Korrespondenzen absolutes Neuland und gewährt der Forschung so einen vollkommen neuen Einblick in die Debatten des "Antisemitismusstreits". Gewiss wird diese Arbeit, die zweifellos das neue Standartwerk zum "Berliner Antisemitismusstreit" darstellt, der Stein des Anstoßes für weitere Forschungen sein.

Doch die unmittelbaren Folgen der Debatte wiegen im Vergleich zu den langfristigen wesentlich geringer. Krieger selbst schätzt die Auswirkungen des Streites am Ende seiner Einleitung folgendermaßen ein:

"Wahrscheinlich prägte Treitschke wie kein zweiter das Identitätsbewusstsein sowohl der Führungseliten als auch der Mittelschichten im Deutschen Kaiserreich. Die durch ihn beförderte und in ein nationales Weltbild integrierte scheinbare Domestizierung der Judenfeindschaft hat vermutlich maßgeblich dazu beigetragen, dass der Antisemitismus einen integralen Bestandteil des eigenen Weltverständnisses bildete, dessen zerstörerisches Potenzial sich allerdings erst seit dem Ersten Weltkrieg offenbarte."(S. XXXI)

Ergänzt wird die Edition durch etliche Hilfsmittel, wie ein chronologisches und alphabetisches Quellenverzeichnis, die Nennung der Auflagenzahlen und Erscheinungsweise der aufgenommenen Zeitschriften, die Auflistung der Artikelserien der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" zum "Berliner Antisemitismusstreit", ein Literaturverzeichnis, eine Zeittafel, ein Personenregister mit biographischen Angaben sowie der Nennung von Quellen, welche nicht Eingang in die Edition fanden. 12

Anmerkungen:
1 Heinrich Graetz einer der bekanntesten deutsch-jüdischen Historiker dieser Zeit, veröffentlichte die elfbändige „Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis in die Gegenwart" (1853-1875)
2 vergl. genauer zu Treitschkes Aufsatz „Unsere Aussichten", die herausragende Analysearbeit des Soziologen Klaus Holz (Holz, Klaus, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2000, Kapitel III, 165-247,
ebenso ist sehr lesenswert, der Aufsatz des Historikers Christhard Hoffmann, Geschichte und Ideologie. Der Berliner Antisemitismusstreit 1879/81, in: GWU 46, 1995, S. 167-178)
3 Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass Treitschkes antijüdische Haltung später noch deutlicher und massiver in der vielfach aufgelegten und bis heute im Buchhandel erhältlichen fünfbändigen in den Jahren 1879-1894 veröffentlichten „Deutschen Geschichten Geschichte im 19. Jahrhundert“ hervortrat. Besonders widerlich sind hier seine stereotypen Ausführungen über das eingewanderte Ostjudentum. Die „Deutsche Geschichte“ fand eine große Verbreitung in das Bildungsbürgertum, sowie Schul- und Leihbibliotheken. Es ist anzunehmen, dass die „Deutsche Geschichte“ eine noch deutlich höhere und nachhaltigere Wirkungskraft hatte als sein Artikel „Unsere Aussichten“.
4 Böhlich, Walter (Hg.); Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt am Main 1965.
Das Buch hatte einen Umfang von 267 Seiten, erschien in der Sammlung Insel (Bd. 6) und brachte es in einem Jahr auf zwei Auflagen von insgesamt 9000 Exemplaren. 1988 wurde es im Insel-Verlag als Taschenbuch (it 1098) nochmals neu aufgelegt.
5 Den national-liberalen Reichstagsabgeordneten Ludwig Bamberger, den Rabbiner Joel und als Fürsprecher Treitschkes den radikalen Antisemiten H. Naudh (d.i. Heinrich Nordmann, bekannt vor allem durch die vielfach aufgelegte Schrift „Die Juden und der Deutsche Staat“) und den nicht weiter bekannten Antisemiten Wilhelm Endner.
6 Theodor Mommsen (1817-1902), weltbekannter Altgeschichtler, erhielt 1902 den Nobelpreis für Literatur für sein dreibändiges Standartwerk „Römische Geschichte“. Berühmt-berüchtigt sind die häufig diskutierten „antijüdischen“ Passagen im Band III der „Römischen Geschichte“ (S. 550f.), die ihren Eingang in das weit verbreite, „Handbuch der Judenfrage“ gefunden haben (z.B. 28 Aufl., S. 144f), welches von dem paranoid-antisemitischen Theodor Fritsch herausgegeben wurde. An der bekanntesten Stelle der „Römischen Geschichte“ behauptet Mommsen, ähnlich wie in der an Treitschke gerichteten Schrift „Auch ein Wort an unser Judentum“, die Juden wären ein "Ferment des Kosmopolitismus und der nationalen Dekomposition" gewesen, der zweite weniger bekannte Teil des Zitates lautet folgendermaßen: „ und insofern ein vorzugsweise berechtigtes Mitglied in dem Caesarischen Staate, dessen Politik doch nichts als Weltbürgertum, dessen Volkstümlichkeit im Grunde nichts als Humanität war.“
Auch Treitschke verwendete die erste Hälfte des Zitates argumentativ gegen Mommsen, um einen Rollentausch vorzunehmen. (S. 616f.)
(Vergl. zu Mommsen und dem Antisemitismus: Malitz, Jürgen, „Ich wünschte ein Bürger zu sein". Theodor Mommsen im wilhelminischen Reich, in: Christ, Karl; Momigliano, Arnaldo, Die Antike im 19. Jahrhundert in Italien und Deutschland. Berlin, 1988. S. 321 - 360
Oder: St. Zucker, Theodor Mommsen and Antisemitism, in: "Leo Baeck Institute Year Book", 17, 1972, S. 237-241)
7 Mommsen meint damit möglicherweise auch in diesem Zusammenhang etwas Positives, denn um die diversen Völkerschaften zu einem deutschen
Volk zu vereinen, war diese „jüdische Eigenschaft“ natürlich unbedingt hilfreich. Mommsen macht auf diese Weise auch deutlich, dass die Juden kein "Fremdkörper" sind, der erst später oder wesensfremd hinzutrat, sondern er bindet die deutschen Juden folglich in die Nationswerdung genuin ein. Allerdings wurde das Wort von der Mommsen wendet dieses Stereotyp also ins Positive, diese Inversion
ist natürlich auch gefährlich, denn trotz der positiven Charakterisierung bleibt das Stereotyp erhalten.
8 Erst in seinem soeben erschienen Aufsatz über Treitschke – wahrscheinlich die jüngste Veröffentlichung zu ihm verläßt sich Hans-Jürgen Lüsebrink in dem Teil, in welchem er sich dem „Antisemitismusstreit" widmet, alleinig auf Boehlichs Edition. (Siehe: Nationalistische Publizistik und „tatbegründete" Wissenschaft – zum Werk Heinrich von Treitschkes, in: Grunewald, Michel; Puschner, Uwe, Das Konservative Intellektuellen-Milieu in Deutschland (1890-1960), besonders 667-671)
9 Karsten Krieger ist Doktorand am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin. Sein Dissertationsvorhaben trägt den Titel "Geschichtswissenschaft, Antisemitismus und veröffentlichte Meinung im preußisch-deutschen Kaiserreich. Eine komparativ-biographische Studie zur Begründung kollektiven Identitätsbewusstseins bei Heinrich v. Treitschke, Adolf v. Harnack und Werner Sombart".
10 Die 1880 unter anderem von bekannten Berliner Antisemiten (Bernhard Förster, Max Liebermann v. Sonnenberg, Ernst Henrici) initiierte „Antisemitenpetition“ forderte praktisch die Aufhebung der Emanzipation der Juden im Deutschen Reich, ein bekannter Unterzeichner war u.a. der selber antisemitisch aktive Hofprediger Adolf Stöcker.
11 Bei der so genannten „Studentenpetition“ handelte es sich um den Versuch, die „Antisemitenpetition“ in der Studentenschaft zu verbreiten. Letztlich sollte eine demonstrative Beteiligung der Studenten an der „Antisemitenpetition“ erzielt werden. Treitschke der zu diesem Versuch offenbar positiv Stellung bezogen hatte, wurde als Idol des antisemitischen Teils der deutschen Studentenschaft als Werbeträger herangezogen. (vergl. hierzu: Kampe, Norbert, Studenten und Judenfrage, besonders S. 23ff., vergl. ebenso die zahlreichen Quellen in der Edition, z.B. den Brief des Studenten Paul Dulon an Treitschke)
12 Schade ist allerdings, dass der Leser nicht darüber informiert, warum diese Texte nicht in die Edition aufgenommen wurden bzw. nach welchen Kriterien die Auswahl der Texte erfolgte.

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