A. Lechevalier u.a. (Hrsg.): Social Europe: A Dead End?

Titel
Social Europe: A Dead End?. What the Eurozone Crisis is Doing to Europe's Social Dimension


Herausgeber
Lechevalier, Arnaud; Wielghos, Jan
Reihe
Studies in European Cooperation
Erschienen
Kopenhagen 2015: Djøf Publishing
Anzahl Seiten
278 S.
Preis
DKK 375,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Yaman Kouli, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Technische Universität Chemnitz

Das „soziale Europa“ ist eine der wichtigsten Erzählungen der Europäischen Union. Das Versprechen, ein hohes Wirtschaftswachstum zu ermöglichen, das nicht auf Kosten des Sozialen geht, fehlt nur selten in einer Rede zur EU. Gleichzeitig mangelt es zurzeit kaum an kritischen Publikationen und Stellungnahmen zum Zustand der Staatengemeinschaft und der Zukunft des europäischen Projekts. Zahlreiche öffentliche Intellektuelle haben sich zu Wort gemeldet, darunter etwa Jürgen Habermas, Joseph Stiglitz und Dieter Grimm. Ihnen ist gemein, dass sie die institutionelle europäische Integration keineswegs für falsch halten, jedoch Fehlentwicklungen sehen, die zu schwerwiegenden Problemen führen können. Der Sammelband von Jan Wielgohs (Europa-Universität Frankfurt, Oder) und Arnaud Lechevalier (Centre Marc Bloch Berlin) reiht sich in diese Stimmen ein. Sie erheben den Vorwurf, das soziale Europa sei während der Rettung der Krise in der Eurozone in eine Sackgasse manövriert worden. Dieser Vorwurf ist in seiner Sprengkraft kaum zu unterschätzen, ist die soziale Sphäre doch eines der Gebiete, aus dem die Europäische Union ihre Legitimation zieht.

Die Autoren argumentieren in ihrem Werk wie folgt: Bei der Schaffung der Europäischen Währungsunion habe die Deutsche Bundesbank, die selbst wiederum entscheidend vom Ordoliberalismus geprägt worden sei, eine Vorbildfunktion eingenommen. Dementsprechend seien Preisstabilität und die Schaffung und Aufrechterhaltung eines funktionierenden Wettbewerbs als zentrale Aufgaben der Europäischen Zentralbank definiert worden. Auf europäischer Ebene habe diese Doktrin im Verein mit der Währungskrise jedoch fatale Auswirkungen gezeitigt. Die Überzeugung, die Schaffung von Preisstabilität und Wettbewerb sei einen hohen politischen Preis wert, habe dem Ziel eines sozialen Europa schweren, möglicherweise irreparablen Schaden zugefügt. Um nämlich den Euro-Krisenländern zu neuer wirtschaftlicher Konkurrenzfähigkeit zu verhelfen, seien sie durch hohen politischen und ökonomischen Druck genötigt worden, die Sozialausgaben zu senken. An diesen Maßnahmen sei auch dann festgehalten worden, als weithin bekannt gewesen sei, dass es sich bei der Krise weniger um eine Strukturkrise der betroffen Staaten handele als vielmehr um eine vor allem durch die Bankenkrise verschuldete Notlage. Auch der ausbleibende Erfolg und die steigende Ablehnung seitens der europäischen Gesellschaften hätten nichts an diesem Vorgehen geändert. Und so sei das soziale Europa in eine Sackgasse geraten.

Die einzelnen Kapitel folgen diesem roten Faden sehr konsequent. Der erste Sachbeitrag von Jean-Claude Barbier stellt die verbreitete Annahme infrage, es gebe ein europäisches Sozialmodell. Angesichts der großen Diversität der europäischen Wohlfahrtsstaaten sowie des sinkenden Vertrauens der Bevölkerung in die EU-Sozialpolitik müsse bezweifelt werden, ob ein solches Modell überhaupt existiere. Dazu sei die Solidarität innerhalb der europäischen Staaten sehr schwach ausgeprägt, und die Gesellschaften hätten bezüglich einer effektiven Sozialpolitik kaum Erwartungen an die EU. Diese befinde sich daher in einem Dilemma, da sie einerseits von den Bevölkerungen nicht als legitimer sozialpolitischer Gestalter wahrgenommen werde, andererseits jedoch hoher Handlungsbedarf bestehe. Im zweiten Sachkapitel erläutert Lechevalier die historischen Ursprünge des Ordoliberalismus und arbeitet heraus, dass aus Sicht dieser Wirtschaftsdoktrin sozialpolitische Eingriffe nur dort gerechtfertigt seien, wo die Wettbewerbsordnung selbst nicht ausreiche, denn „[n]ot the redistribution of wealth but the free market is social because it allows the increase of productivity“ (S. 58). Dieses Denken habe auch die Römischen Verträge geprägt, wo die Deutschen sich stark für eine Marktliberalisierung eingesetzt hätten. Sozialpolitik sei hier nur ein Nebenaspekt gewesen, etwa dort, wo Gesundheits- und Sicherheitsrichtlinien für Beschäftigte nicht-tarifäre Handelshemmnisse zu werden drohten. Auch der Vertrag von Maastricht sei stark ordoliberal geprägt gewesen. Gleichwohl habe eine gemeinsame europäische Fiskalpolitik sowie ein Finanzausgleich zwischen den Mitgliedsstaaten gefehlt (S. 67). Im Kern stelle die auf strukturelle Reformen und Preisstabilität abzielende Sparpolitik trotz gegenteiliger politischer Verlautbarungen vor allem aus Deutschland einen klaren Bruch mit den genannten ordoliberalen Prinzipien dar, da sie nicht dem Credo „minimalinvasiver“ politischer Eingriffe folge und dazu hohe soziale Kosten verursache.

Axel van den Berg und Jason Jensen hinterfragen in ihrem Beitrag die in den Politikwissenschaften verbreitete These, nur zentral organisierte Staaten könnten eine gute Sozialpolitik entwickeln, da weniger Vetospieler auf dem Markt aktiv seien. Ihr Gegenbeispiel ist Kanada, das ebenfalls föderal organisiert sei und zahlreiche Ähnlichkeiten zur EU aufweise. Trotzdem habe der nordamerikanische Staat einen vergleichsweise gut ausgebauten Wohlfahrtsstaat. Dies sei möglich gewesen, da die dortige Bundesregierung ihre Ziele durch die Nutzung finanzieller Anreize sowie gezielter öffentlicher Werbung für die vorgeschlagenen Reformen habe durchsetzen können. Der Europäischen Union stehe dieser Weg jedoch nicht offen, da sie weder über die Legitimität noch über die finanziellen Mittel verfüge, die für ein solches Vorgehen nötig seien (S. 122).

Im vierten Kapitel beschreibt Björn Hacker den neuen ökonomischen Governance-Rahmen der EU, der die europäische Sozialpolitik lähme. Hier werden vor allem die verschiedenen Pakte – Europe 2020, das europäische Semester, der Euro-Plus-Pact, das Six-Pack, Fiscal Compact, Two-Pack – vorgestellt, Maßnahmen, die laut Höcker zur „Kannibalisierung“ der Koordinierung der europäischen Sozialpolitiken geeignet seien. Spätestens hier sei Sozialpolitik zur ökonomischen Stellschraube degradiert worden. In Kapitel fünf zeichnet Cécile Barbier nach, wie die Europäische Zentralbank von einer monetären zur politischen Institution geworden sei. Die EZB, laut Barbier die unabhängigste Zentralbank der Welt, habe inzwischen die Befugnis und auch die Macht erhalten, Staaten zu konkreten Handlungen zu zwingen, ohne hierfür politisch zur Verantwortung gezogen werden zu können (S. 185). Dies sei in hohem Maße auf Kosten der Sozialpolitik der betroffenen Staaten gegangen.

Isabelle Schömann untersucht in ihrem Beitrag, ob während der Krisenbekämpfung die Schutzrechte der Beschäftigten gezielt geopfert wurden. Sie bejaht diese Frage schließlich zwar nicht explizit, aber die Beweislage ist erdrückend. So sei es im Bereich der Arbeitszeit und des Kündigungsschutzes, bei der Bekämpfung der sogenannten atypischen Beschäftigung sowie bei den industriellen Beziehungen zu erheblichen Einschränkungen zu Lasten der Arbeitnehmer gekommen. Schwer wiegt auch der Vorwurf, diese Maßnahmen liefen ohne demokratische Kontrolle ab, da der European Stability and Monetary Treaty (ESMT) ein völkerrechtlicher, aber kein EU-Vertrag sei und der Europäische Gerichtshof daher nicht angerufen werden könne. Die Austeritätspolitik sei so gegen die eigentlich als Schutz vorgesehenen EU-Gesetze immunisiert worden, so dass die rein an ökomischen und fiskalischen Kriterien orientierten Maßnahmen das europäische Sozialmodell und somit das europäische Projekt als Ganzes erheblich ins Wanken gebracht hätten (S. 211).

Im letzten Sachkapitel des Bands geht Francesco Laruffa der Frage nach, ob das 2013 von der EU-Kommission angenommene Social Investment Package (SIP, offizielle deutsche Übersetzung: „Sozialinvestition“) eine Kurskorrektur darstellt. Er verneint diese Frage sehr klar. Statt verbindlicher Vorgaben und Einigungen habe sich die „Offene Methode der Koordinierung“ (OMC) als bemerkenswert wirkungsmächtig erwiesen, obwohl von ihr keine bindende Wirkung ausgehe und sie mit keinerlei Sanktionen verbunden sei. Jedoch hätten die EU-Staaten sie häufig für innenpolitische Zwecke genutzt, so dass es auch durch die OMC zu keiner Harmonisierung im Bereich der Sozialpolitik gekommen sei. Vor dem Hintergrund der geringen Finanzausstattung des SIP habe es sich daher stärker um einen Debattenimpuls als um eine Strategie zur Entwicklung einer europäischen Sozialpolitik gehandelt (S. 222). Laruffa unterstellt schließlich, die EU strebe mit ihren Konzepten weniger die Reparatur sozialer als die Reparatur ökonomischer Probleme an, weshalb es zum Hauptziel der Sozialpolitik geworden sei, die Bürger mit vermarktbaren Fähigkeiten auszustatten.

Im letzten Beitrag nehmen die Herausgeber eine Abschlussbewertung vor und wagen eine Prognose. Sie kommen zum wenig überraschenden Fazit, die aktuelle Krise werde tiefgreifende und dauerhafte Folgen für das soziale Gefüge der EU haben und das europäische Projekt als Ganzes in Gefahr bringen. Vor dem Hintergrund des Anstiegs der Ungleichheiten innerhalb und zwischen den Mitgliedsstaaten, der gezielten Umgehung demokratischer Prinzipien sowie des sich fortsetzenden Verlusts der EU an Legitimität halten sie die unmittelbare Gefahr für das europäische Projekt für sehr real (S. 267).

Es fällt schwer, den Autorinnen und Autoren zu widersprechen. Die Vorgaben der Troika, mithin der Europäischen Zentralbank, des Internationalen Währungsfonds und der EU-Kommission, haben zu schweren sozialen Verwerfungen geführt. Und auch der glühendste Europäer wird Schwierigkeiten haben, die Austeritätspolitik als dem sozialen Europa und der Legitimität der EU förderlich zu deuten. Die Europa 2020-Strategie etwa, mittels derer unter anderem die Zahl der Armutsgefährdeten um 25 Prozent bzw. 20 Millionen gesenkt werden soll, erscheint vor dem Hintergrund der Schilderungen zur Sparpolitik als schwer nachvollziehbar.

Dennoch ist die Argumentation nicht immer stringent. Schömann beispielsweise belegt ihre Kritik an der Senkung der Sozialstandards nicht nur durch Verweis auf die Krisenländer Spanien und Griechenland, genannt werden vielmehr neben Großbritannien auch zahlreiche mittel- und osteuropäische Staaten. Diese befinden sich jedoch seit der Transformation weiterhin in einer institutionellen Findungs- und Konsolidierungsphase, der Verweis auf die Krise allein ist daher nicht überzeugend. Dazu partizipieren Großbritannien, die Tschechische Republik und Polen gerade nicht an der Eurozone. Problematisch ist auch der in zahlreichen Aufsätzen hervorstechende anklagende Duktus. Die Bezeichnung der Europäischen Währungsunion als „nötigende Haushalts-Föderation“ (coercive budgetary federation, S. 185) oder die Unterstellung, die EZB habe die griechische Regierung erpresst (blackmail, S. 183), sind Formulierungen am Rande des wissenschaftlich zulässigen, was die Beiträge nicht nötig haben, sprechen die in ihnen genannten Beispiele doch für sich.

Was an verschiedenen Stellen fehlt, ist eine gezielte Auseinandersetzung mit den Argumenten der Verfechter der kritisierten Austeritätspolitik. Die Frage der Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsstaaten bleibt auch nach Lektüre des Sammelbands ungeklärt, obwohl sie für den behandelten Themenkomplex entscheidend ist. Wenn sich die unterschiedlichen Niveaus bei der Arbeitsproduktivität pro Kopf nicht in vergleichbaren Lohndifferenzen widerspiegeln, führt das notwendigerweise zu Spannungen, die sich auch durch ein dichteres soziales Netz nicht einfach auflösen werden. Wer also die Strategie einer internen Abwertung mit Blick auf die gesellschaftlichen Folgen kritisiert und auch eine Abwertung durch die Währungsgemeinschaft ausgeschlossen ist, sollte die Frage beantworten, wie eine funktionierende Handlungsstrategie, die auch von den europäischen Gesellschaften akzeptiert wird, aussehen könnte.

Wo in der Publikation Auswege angedeutet werden, wird gleichzeitig das Dilemma offenbar, in welchem sich die verantwortlichen Akteure befinden. Die Autorinnen und Autoren empfehlen an mehreren Stellen, nicht mehr nur Integrationshemmnisse zu beseitigen (negative Integration), sondern auch aktiv eine soziale Integrationspolitik zu verfolgen (positive Integration, z.B. Laruffa, S. 217). Nach der Lektüre fällt es jedoch schwer zu glauben, dass derlei technische Ansätze allein ausreichen, der Legitimitätskrise der EU zu begegnen. Der Einwand liegt nahe, dass die Ablehnung in Teilen der europäischen Gesellschaften auch aus dem Eindruck resultiert, „Brüssel“ schränke den Handlungsspielraum der EU-Mitgliedsstaaten stark ein, ohne hierzu befugt zu sein. Ob eine genuin europäische Sozialpolitik nicht in dieselbe Falle tappen würde und zu vergleichbaren Abwehrreflexen führen würde, müsste sich erst noch erweisen.

Die genannten Kritikpunkte beziehen sich jedoch allein auf die Lösungsvorschläge, die gestellte Diagnose des Zustands des sozialen Europas ist überzeugend. Den Verfasserinnen und Verfassern gelingt es, die sozialen Konsequenzen der Rettungspolitik der Eurozone nicht nur zu benennen, sondern sie historisch einzuordnen und, wo möglich, auch plausibel zu quantifizieren. Die Herausgeber wollen eine Untersuchung der Gegenwart vorlegen, und das ist ihnen in herausragender Weise gelungen.

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