Cover
Titel
Light Touches. Cultural Practices of Illumination, 1780-1900


Autor(en)
Barnaby, Alice
Reihe
Directions in Cultural History
Erschienen
London 2017: Taylor & Francis
Anzahl Seiten
164 S.
Preis
£ 105.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Niklaus Ingold, Zürich

Stärke und Qualität künstlichen Lichts waren im 19. Jahrhundert so variierbar wie nie zuvor. Ursache waren lichttechnische Neuerungen wie die nach ihrem Erfinder benannte Argand-Öllampe aus den 1780er-Jahren und die nach der Jahrhundertwende einsetzende Installation des Gaslichts zur Beleuchtung von Fabriken, Straßen und allmählich auch der Stadtwohnungen der Wohlhabenden. Spektakuläre Inszenierungen des Aufeinandertreffens von Licht und Materie begleiteten den technischen Wandel: „using, seeing, feeling and being in light were now matters of intense personal and cultural concern.“ (S. 3) Dies ist der Ausgangspunkt von Alice Barnabys kulturhistorischer Monografie „Light Touches“. Barnaby untersucht die Bedeutung von Beleuchtungspraktiken für die materielle Kultur und für Subjektivierungsvorgänge in englischen Städten des 19. Jahrhunderts. Das Buch ist aus einer am Departement für englische Literatur der Universität Exeter eingereichten Dissertation hervorgegangen und richtet sich an Forscherinnen und Forscher wie auch Studierende. Barnabys Anspruch ist, zu einem neuen Verständnis des „Wahrnehmungswissens“ („perceptual knowledge“, S. 17) des 19. Jahrhunderts beizutragen.

Neben den Standardwerken von Wolfgang Schivelbusch zur Geschichte der künstlichen Helligkeit1 und von Craig Koslofsky zur Geschichte der Nacht2 bezieht sich die Autorin vor allem auf Jonathan Crarys Darstellung „Techniques of the Observer“3. Dieses Buch hat der Kunstgeschichte in den 1990er-Jahren einen neuen Zugang zur Historisierung der visuellen Wahrnehmung eröffnet. In Auseinandersetzung mit Michel Foucaults Untersuchungen zu Mikromächten postulierte Crary die Unterwerfung des Individuums unter neue Regeln visuellen Konsums im 19. Jahrhundert. Er zeigt dies an der Trennung der – für Theorien des Sehens des 17. und 18. Jahrhunderts grundlegenden – Verbundenheit von visueller Wahrnehmung und Tastsinn. Wichtig für diese Trennung waren nach Crary optische Instrumente wie das Kaleidoskop, die von technischen Dingen zur Erforschung der Physiologie des Sehens zu Gegenständen visueller Unterhaltung umfunktioniert wurden.

Barnaby kritisiert diese Darstellung. „In this version of events, nineteenth-century visuality has become strangely disembodied and seemingly abstracted from the immediate materiality of the world.“ (S. 9.) Dem sei entgegenzuhalten, dass die neuen Lichttechniken „experiences of sensual and tactile engagement with, rather than separations from, the world” (S. 9, Hervorhebungen im Original) angeregt hätten. Das visuelle Erlebnis sei deshalb eine „embodied experience“ (S. 9), also ein „verkörpertes Erlebnis“ gewesen. Diesen Zugang stützt die Autorin auf Überlegungen, die Dichotomien von Geist-Materie und Subjekt-Objekt problematisieren. In der Einleitung verweist sie unter anderem auf die Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty und auf die mit dem Etikett new materialism versehenen Ansätze von Bruno Latour oder Jane Bennett. In sechs Kapiteln führt Barnaby Beispiele für die Wechselwirkung zwischen Licht und Materie an, die den von Crary hervorgehobenen Anstrengungen zur Kontrolle von Subjektivierung entgegenliefen.

Die beiden ersten Kapitel handeln von den Materialien, mit denen wohlhabende Frauen in ihren Wohnräumen „atmospheres of transparency“ (S. 48) erzeugten. Zu diesen Dingen zählten durchscheinende Bilder, die derart mit Farbe und Lack bearbeitet waren, dass sich Lichteffekte ergaben, wenn sie als Fensterschmuck oder auf Lampen- und Feuerschirmen zum Einsatz kamen. Barnaby beschreibt die häusliche Herstellung und Anwendung solcher Bilder als Praktiken, durch die eine Beziehung zur modernen Welt hergestellt wurde, in der das Sehen „active, embodied and environed“ (S. 43) war. In den häuslichen Lichtexperimenten sieht sie Parallelen zur zeitgenössischen erkenntnistheoretischen Auseinandersetzung mit subjektiver Erfahrung, die sie anhand von Johann Wolfgang Goethes Farbenlehre illustriert.

Neben durchscheinenden Bildern gehörten Kleider und Gardinen aus Musselin, einem gebleichten, locker gewobenen Baumwollstoff, der zwischen 1790 und 1840 im Empire in Mode war, zum Spiel mit Transparenz. Barnaby beschreibt diesen Stoff im zweiten Kapitel als „active agent” (S. 49), der sinnliches Vergnügen bereitete, aber auch die miserablen Arbeitsbedingungen seiner industriellen Herstellung verschleierte. Mit Verweis auf Karl Marx hält die Autorin fest: „Muslin, perhaps above all other commodities, best exemplifies the experiential dichotomies of industrial capitalism.“ (S. 51) Diskursiv aufgeladen mit Normen idealisierter Weiblichkeit, war Musselin allerdings für die privilegierten Trägerinnen nicht ganz ohne Tücken, konnte die Interaktion von Kleidern aus diesem Stoff mit dem Licht doch auch enthüllend wirken.

Kapitel drei und vier befassen sich mit Lichtspielen und Beleuchtungstechniken im öffentlichen Raum. Wegen ihrer Interaktion mit Lichtstrahlen genauso begehrt wie durchscheinende Stoffe waren Spiegel. Kapitel drei behandelt die Ausstattung des öffentlichen Raums mit diesem reflektierenden Material. Barnabys wichtigstes Beispiel ist das Heptaplasiesoptron, ein Spiegelsaal in den Londoner Vauxhall Pleasure Gardens. Darin beobachteten Menschen sich selber und andere. Es war ein „no-narrative, spontaneous, open-ended and self-generating drama“ (S. 78), an dem die Besucherinnen und Besucher aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten genauso mitwirkten wie sie zuschauten. Barnaby versteht solche Vergnügungen als Vorgang zur Ausbildung neuer visueller Kompetenzen, die einem halfen, sich selber und andere in Zeiten gesellschaftlichen Wandels sozial einzuordnen (S. 85). Sie leitet diese Sichtweise aus Foucaults Heterotopie-Konzept ab, ohne allerdings eine Quelle zu zitieren, die ein entsprechendes Erlebnis schildern würde.

Wie das Tragen transparenter Kleidung konnte auch der Aufenthalt in verspiegelten Räumen den sozialen Status gefährden, wie Barnaby anhand von Kontroversen um sogenannte „gin palaces“ ausführt. Dies waren Bars, die im Unterschied zu den herkömmlichen „public houses“ aufwändig mit Spiegeln geschmückt waren und hauptsächlich von Frauen und Männern aus der Arbeiterklasse frequentiert wurden. Die in Debatten über solche Trinkeinrichtungen zum Ausdruck kommenden Ängste über Klassenzugehörigkeit seien „symptomatic of a wider cultural struggle to control the energy and matter, the materiality and immateriality, of industrialized modernity“ (S. 96). In denselben Zusammenhang setzt Barnaby in Kapitel vier (Beleuchtungs-)Anlässe, zu denen die Häuser bestimmter Straßenzüge und Stadtteile ausgeleuchtet wurden. Gegenüber Koslofsky und Schivelbusch betont Barnaby das Ungewöhnliche, Temporäre und Performative solcher Anlässe.

Kapitel fünf und sechs behandeln zwei unterschiedliche Beleuchtungsprogramme in Kunstgalerien, den neuen Zentren des Kulturlebens des 19. Jahrhunderts. Nationalgalerien und andere in Staatsbesitz befindliche Kulturbetriebe setzten eher auf Beleuchtungslösungen wie Dachfenster, die das Licht von oben auf die Kunstwerke fallen ließen und eine Verbindung zwischen dem Rauminnern und dem Himmel formten. Diese Architektur war durch das Pantheon in Rom inspiriert und bei englischen Aristokraten in Mode. Durch das Dachfenster fiel das Licht scheinbar unberührt von weltlicher Materialität in den Raum, wie Barnaby ausgehend von Sekundärliteratur referiert. Auf diese Weise sei eine intellektuelle Vertiefung in die Kunst befördert worden.

Kapitel sechs dagegen befasst sich mit Räumen, in denen die Beleuchtungstechnik körperliche und kognitive Reaktionen auf die Kunst auslösen sollte. Spiegel, Stoffgardinen, Schatten, Kerzen und Gaslicht schufen Atmosphären, die dem kuratorischen Programm einer rationalisierten Regulierung des Blicks entgegenliefen: „what we see in these styles of illumination is a concern for expressing subjective rather than objective aesthetic taste“ (S. 154). Diese nach Subjektivität strebende Ästhetik korrespondierte wiederum mit der von Goethe vertretenen erkenntnistheoretischen Auffassung, dass Denken und Fühlen nie getrennt voneinander funktionieren würden.

Das Schlusskapitel führt sehr kurz aus, wie die Elektrifizierung am Ende des 19. Jahrhunderts private und öffentliche Lichtspiele veränderte. Elektrische Lampen erzeugten ein gleichförmig brennendes Licht und waren vom Anschluss ans Stromnetz abhängig, was ihre Mobilität einschränkte. Barnaby sieht darin eine Limitierung der ästhetischen Adaptierung durch die Anwenderinnen und Anwender: „There was less personal intervention, less contingency and less playfulness involved in late nineteenth-century domestic lighting practices.“ (S. 159)

Barnaby gelingt es, die Verbreitung neuer Beleuchtungstechnik als aktive Auseinandersetzung mit den Eigenschaften von Licht und Materialien darzustellen. Dadurch wird ihr grundsätzliches Argument plausibel, dass Beleuchtungstechniken, transparente Stoffe und Spiegel zu einer neugierigen, spielerischen Beschäftigung mit der modernen Welt und dem eigenen Platz darin anregen konnten. Allerdings stellt sich für den rezensierenden Historiker die Frage nach dem Stellenwert des historischen Quellenmaterials. Es gibt keine einleitenden Bemerkungen zur Quellenauswahl und die Lektüre hinterlässt den Eindruck eines bloß illustrativen Zitierens. Die Argumentation scheint mehr von theoretischen Überlegungen als von empirischen Einsichten auf breiter Quellebasis getragen. Eine Gesamtbibliografie am Ende des Buches hätte zudem der besseren Orientierung gedient und wäre auch mit Blick auf den hohen Verkaufspreis von 105£ eine angemessene Ergänzung gewesen.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Schivelbusch, Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, München 1983.
2 Craig Koslofsky, Evening’s Empire. A history of the Night in Early Modern Europe, Cambridge 2011.
3 Jonathan Crary, Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century, Cambridge 1990.