L. Behrisch: Die Berechnung der Glückseligkeit

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Titel
Die Berechnung der Glückseligkeit. Statistik und Politik in Deutschland und Frankreich im späten Ancien Régime


Autor(en)
Behrisch, Lars
Reihe
Beihefte der Francia 78
Erschienen
Ostfildern 2016: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
573 S.
Preis
€ 67,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Speich Chassé, Historisches Seminar, Universität Luzern

Wie viele Webstühle gab es in der Grafschaft Lippe um 1770 und wie groß war der Ertrag der Leinsaat? Welche Menge an Getreide wurde im selben Jahr in Bayern geerntet und wie viele Menschen wurden damit ernährt? Nahm die Anzahl der Personen, die in Frankreich lebten, im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu oder ab? Das sind Fragen der klassischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, mit denen sich auch Lars Behrisch beschäftigt. Erstaunlicherweise enthält seine am Deutschen Historikertag in Göttingen 2014 ausgezeichnete Studie aber keine Antworten auf diese Fragen.

In mühevoller Kleinstarbeit hat Behrisch ausgewählte statistische Datenerhebungen rekonstruiert, die sowohl in den deutschen Ländern als auch in Frankreich nach dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763) fast flächendeckend neu lanciert oder intensiviert worden sind. Die am Bielefelder Lehrstuhl von Andreas Suter entstandene Habilitationsschrift basiert auf dem minutiösen Studium von bislang kaum bearbeiteten Quellenbeständen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, des Bayerischen Hauptstaatsarchivs sowie der französischen Archives Départementales und der Archives Nationales. Aber Behrisch hat nicht herausgefunden, wie viele Webstühle es in der Grafschaft Lippe im Jahr 1770 gab, wem in Bayern damals welche Getreidemenge zur Verfügung stand oder wie viele Menschen Frankreich im ausgehenden Ancien Régime tatsächlich bevölkerten. Er hat keine einzige neue Zahlentabelle über vergangene sozioökonomische Realitäten zusammengestellt, denn er interessiert sich nicht für die statistischen Werte selbst, sondern vielmehr für die Geschichte des Wissens über soziale Tatsachen in numerischer Form. Hierzu hat er allerdings viel zu sagen.

Heute leben wir in einer Welt, in der Macht durch Zahlen begründet und ausgeübt wird. Zahlen sind beim Erfassen von Tatsachen unersetzbar. Sie spielen bei jedem Versuch, Kollektive in die Zukunft zu steuern, eine zentrale Rolle, und sie sind beim Ablegen von Rechenschaft gegenüber allen Gemeinschaften wichtig. Zahlen sind zu einem Instrument der politischen Kommunikation geworden – sei es im lokalen Sportverein, in der Dorfgemeinde, im Fachverband der Historikerinnen und Historiker oder in einer Stadt, in einem Nationalstaat, in einer regionalen Wirtschaftsgemeinschaft wie der EU oder mit Blick auf die Menschheit insgesamt (UNO). Zahlen stehen für die Realität, an der sich die Ausübung von Macht zu messen hat. Das war nicht immer so. Das anzuzeigende Buch führt zu den Anfängen dieser Selbstverständlichkeit zurück. Behrisch hält fest, der Konstruktionscharakter der sowohl den Raum als auch die Zeit übergreifenden numerischen Komplexitätsreduktionen sei uns heute kaum mehr bewusst, da die Statistik zu einem unhintergehbaren Wahrnehmungsmuster geworden sei. Für die Menschen des 18. Jahrhunderts habe es sich hingegen um eine „fundamentale und dabei mitunter durchaus bewusste, ja faszinierende Transformation von Realität“ gehandelt (S. 22).

Um diese Transformation freizulegen, wählt Behrisch einen etwas umständlichen Weg. Sein Buch besteht aus drei Fallstudien, die je den Charakter von eigenständigen Monographien haben. Das Kapitel zur kleinen Grafschaft Lippe konzentriert sich auf die Volkszählungen von 1769 und 1776. Sie werden in den Rahmen des Kameralismus gestellt, der das Staatswesen als Gutsbetrieb modellierte. Und sie werden auf die fast prototypische Form des aufgeklärten Absolutismus bezogen, die Graf Simon August während seiner Regentschaft in den Jahren 1747 bis 1782 ausübte. Im Zentrum des Kapitels zum mittelgroßen Bayern stehen die Dachsbergische Volksbeschreibung der Jahre 1771 bis 1781 und die zweite Volksbeschreibung der Jahre 1794 bis 1796. Sowohl das Kapitel zur Grafschaft Lippe als auch jenes zu Bayern untersuchen in einem ersten Schritt die Akteure und Formate dieser frühesten belegten Zahlensammlungen und rekonstruieren in einem zweiten Schritt, wie es in der Folge trotz vieler Widersprüche zu einer neuen Breitenwirkung des Zahlendiskurses kam. Bayern war dabei im Vergleich zu Lippe leicht verspätet. Das Kapitel zu Frankreich ist anders aufgebaut. Es setzt sich mit der zentralstaatlichen Perspektive der Physiokraten auseinander, skizziert die Entwürfe zur Herrschaftskunst von Vauban, blickt auf die Finanzminister Turgot und Terray und endet bei Quesnay. Gleich wie bei den Studien zu Lippe und Bayern geht Behrisch aber auch im Kapitel zu Frankreich detailliert auf einzelne Datenerhebungen ein, so auf die im August 1772 lancierte Bevölkerungs- und Erntestatistik unter Finanzminister Terray. Und er rekonstruiert die konkrete Praxis der numerischen Erfassung von sozioökonomischen Zusammenhängen an Beispielen aus der Auvergne, der Picardie und der Franche-Comté. Vor diese drei Fallstudien hat der Autor eine 75-seitige Einleitung gestellt, die den weiten Forschungsstand zur Geschichte der Statistik und zur Anwendung der Vernunft in der Politik neu ordnet. Zusammen mit dem 20 Seiten starken Schlusskapitel enthält diese Textebene die Substanz einer weiteren Monographie.

Dass Behrisch im Grunde genommen vier Bücher entwerfen musste, um sein Argument zu entfalten, zeugt von der Innovativität seiner Absicht. Er stellt sich gegen eine ganze Reihe von gängigen Annahmen. Das betrifft zunächst die Geschichte der wirtschaftspolitischen Dogmen. Für Behrisch ist die Unterscheidung zwischen dem Merkantilismus, dem Kameralismus und den Physiokraten ebenso nachträglich aufgesetzt wie jene zwischen interventionistischen Regierungsmodellen und liberalen Vorstellungen. Die Unterschiede zwischen diesen Dogmen verschwinden angesichts der Tatsache, dass sie alle von der Vorstellung ausgingen, die wirtschaftliche Dimension menschlicher Kollektive lasse sich in Zahlen objektiv erfassen. Des Weiteren meint er, es brauche eine neue Interpretation der „Geburt der Statistik“ (S. 17ff.). Anders als man bisher dachte, gab es bereits im 18. Jahrhundert eine Vielzahl von numerischen Erfassungen in Sachen Staatlichkeit. Die Rede von einem proto-statistischen Zeitalter vor 1800, in dem die Statistik noch rein deskriptiv gewesen sei, ist offensichtlich falsch, denn Zahlen kamen schon früher zum Einsatz. Zugleich kritisiert Behrisch die These, der Siegeszug der modernen Statistik habe mit der Schrift über „Political Arithmetick“ begonnen, die William Petty 1690 in London publizierte. Gleichzeitig mit Petty und unabhängig vom englischen Vorbild haben auch französische Gelehrte damals erste Ideen zur numerischen Erfassung des Staatswesens entworfen. Vor circa 1770 ist aber die Forderung nach Zahlen nirgends umgesetzt worden.

Diese Korrekturen sind überzeugend, weil Behrisch im Gegensatz zu vielen bisherigen Forschungen über die Geschichte der Regierungstechnik (Michel Foucault eingeschlossen) nicht nur Druckschriften analysiert, sondern vor allem unediertes Material. Gerade die Frage, was publiziert werden konnte und durfte, war im Entstehungsprozess der modernen Öffentlichkeit umstritten. Sein konsequenter Gang in die Archive eröffnet neue Einsichten. So forderte die Obrigkeit der Grafschaft Lippe im März 1769 von den Lokalbehörden „binnen 24 Stunden“ eine vollständige Auskunft darüber, „wie viele […] von jeder Gattung angesessene Untertanen […] wirklich vorhanden sind“ (S. 108). Genüsslich breitet Behrisch die an diese Weisung anschließende Verwaltungskorrespondenz aus, die von einer kompletten Überforderung der Dienstleute zeugt und belegt, wie neuartig der Zahlenblick im ausgehenden Ancien Régime war. Sein Buch enthält viele solche Geschichten mit teilweise großem Unterhaltungswert – zum Beispiel jene über die verwickelte Entsorgung der Resultate der ersten bayerischen Volkszählung in einem verstaubten Estrich (S. 236ff.). Obwohl dieses Unternehmen teuer war, diente es keiner einzigen konkreten Regierungsentscheidung. Der Umgang mit den Zahlen musste erst erlernt werden.

Die wichtigste Annahme, gegen die sich Behrisch stellt, ist die Vorstellung, Zahlen böten einen fast natürlichen Kurzschluss auf die Realität. Zwischen den zwei epistemischen Polen des Essentialismus und des Konstruktivismus verfolgt er einen pragmatischen, archivgesättigten Mittelweg, der historisch zeigt, welche Lernprozesse und welche Organisationsinnovationen nötig waren, bis die Statistik ihren heutigen hohen Status erlangen konnte. In Frankreich, in Bayern und in der Grafschaft Lippe hatten die Menschen zunächst Angst vor den Zahlen, weil sie das Zusammenleben in einem Staat als eine Sache von persönlichen Beziehungen verstanden, zu denen insbesondere die Steuerverpflichtung gehörte. Erst mit der Wiederholung von Volks-, Vieh- und Erntezählungen wurde allen Beteiligten allmählich klar, dass die Zahlen auch eine anonymisierte Gesamtschau ermöglichen und sich aus ihnen ein objektiver Zugriff auf das Gemeinwohl ergibt, der dessen Steigerung dienen kann – und also allen nützt.

Man kann das Buch von Lars Behrisch durchaus kritisieren. Die Auswahl der Fallstudien wirkt nicht zwingend. Die Funktion der Zahlen hätte auch am englischen Beispiel vertieft werden können, oder mit Blick auf den österreichisch-ungarischen Herrschaftsverbund. Dabei wäre wahrscheinlich auch die imperiale Macht der Zahlenlogik deutlich geworden, die im 19. Jahrhundert auf den ganzen Planeten ausgriff. Brandenburg-Preußen wird als Fallbeispiel etwas leichtfertig mit dem Hinweis entsorgt, das persönliche Regiment Friedrichs II. habe eine schwierige Aktenlage geschaffen. Und aus der theoretischen Warte vermisst man Bezüge auf Bruno Latour, der die Macht von Kalkulationszentren recht genau analysiert hat. Solche Vorbehalte sind aber zweitrangig. Es geht Behrisch um das „Eindringen zahlenmäßiger Wirklichkeitserfassung in Politik und Verwaltung“ (S. 23). Dieses Erkenntnisinteresse macht seine Arbeit über die Berechnung der Glückseligkeit zu einem Standardwerk für all jene Forschenden, die den Aufstieg der numerischen Rationalität in der politischen Kommunikation besser verstehen wollen. Wie viele Webstühle es in der Grafschaft Lippe um 1770 gab, ist für heutige Historikerinnen und Historiker eine doppelt interessante Frage. Zum einen kann man versuchen, diese Zahl nachträglich zu eruieren. Und zum anderen kann man danach fragen, wer wann hierüber Klarheit zu haben wünschte. Die Arbeit von Behrisch ist ein fast genialer Wurf in dieser zweiten Hinsicht, indem sie aus der Lokalgeschichte verallgemeinerungsfähige Schlüsse zieht und die heutige Zahlenobsession geschichtlich erdet.