P. Reick: "Labor is not a Commodity!"

Cover
Titel
"Labor is not a Commodity!". The Movement to Shorten the Workday in Late Nineteenth-Century Berlin and New York


Autor(en)
Reick, Philipp
Reihe
Nordamerikastudien 37
Erschienen
Frankfurt am Main 2016: Campus Verlag
Anzahl Seiten
237 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Schmidt, IGK Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive, Humboldt-Universität zu Berlin / Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit (IGZA)

Arbeit ist eine Ware, über deren Wert man verhandeln kann, lautet eine marktliberale Definition von Arbeit. Eine der Möglichkeiten, um den Wert dieser Ware für Arbeitnehmer zu steigern, liegt darin, die Arbeitszeit (bei gleichem Lohn) zu verkürzen. Für Gewerkschaften ist dieser Mechanismus eine wesentliche Grundlage, um in Arbeitskämpfe zu ziehen. Mitte der 1990er-Jahre gelang es der Industriegewerkschaft Metall beispielsweise für die westdeutschen Länder die 35-Stunden-Woche tarifvertraglich festzuschreiben, 2003 scheiterte sie damit in den ostdeutschen Ländern und für die nächste Tarifrunde steht dieses Ziel wieder auf der Agenda.1

Diese zweckrationale Akzeptanz der Waren- und Marktförmigkeit der Arbeit war allerdings in der Geschichte der Gewerkschaften und Arbeiterbewegungen keineswegs eine Selbstverständlichkeit, wie die Dissertation „‘Labor is not a Commodity!‘ The Movement to Shorten the Workday in Late Nineteenth-Century Berlin and New York” von Philipp Reick zeigt. Ausgehend von den Thesen, die Karl Polanyi in seinem Werk “The Great Transformation” entwickelte, analysiert Reick vornehmlich die Diskurse (eingeschränkt auch die Praxis) im Kampf um die Verkürzung der Arbeitszeit in den beiden Metropolen in den 1860er- und 1870er-Jahren. Der Untertitel, der auf das späte 19. Jahrhundert verweist, ist daher etwas irreführend, da die beiden Jahrzehnte vor der Jahrhundertwende nicht berücksichtigt werden.

Polanyi hatte in seinem grundlegenden Werk über die Durchsetzung der „Marktgesellschaft“ darauf verwiesen, dass ursprünglich nicht als Waren vorgesehene Handlungen und Werte wie Arbeit, Land und Geld ohne Rücksicht auf Tradition und Kultur zu „fiktiven Waren“ transformiert wurden und damit die Kommodifizierung in früher nichtökonomische Bereiche übertragen wurde. Zwar erwies sich dieser Prozess im 19. und 20. Jahrhundert als durchaus erfolgreich, dennoch regte sich, wie das Zitat in Reicks Buchtitel unterstreicht, gegen diese Entwicklung Widerstand. Die Ambivalenz zwischen Akzeptanz und Kampf gegen diesen Prozess des „Zur-Ware-Werdens“ innerhalb der Arbeiterbewegungen durchziehen Reicks vergleichend angelegte Studie, die darüber hinaus auch verflechtungsgeschichtliche Aspekte integriert. Quellengrundlage bilden vor allem die zahlreichen Publikationen der Arbeiterbewegungen beiderseits des Atlantiks.

Nach einem ausführlichen Vorwort und einer umfangreichen Einleitung – beide Teile machen fast ein Fünftel der Arbeit aus – gliedert Reick seine Untersuchung über die Auseinandersetzungen um die Arbeitszeitverkürzungen überzeugend in fünf systematische, einzelne Aspekte analysierende Kapitel.

„Markets“ widmet sich den Vordenkern des freien Marktes jener Zeit, stellt äußerst knapp die sozioökonomischen Rahmenbedingungen in den beiden Metropolen vor, gibt einen Überblick über die Entstehung und Entwicklung der organisierten Arbeiterbewegungen in New York und Berlin und erhellt die wechselseitigen Verflechtungen der Bewegungen. Darüber hinaus zeigt das Kapitel erste rechtliche Bemühungen, die Länge der Arbeitszeit festzulegen. 1847 erließ New Hampshire ein 10-Stunden-Gesetz, 1866 sah ein New Yorker Gesetz den 8-Stunden-Arbeitstag für städtische Angestellte vor. Doch waren die Gesetze so offen formuliert, dass es den Aushandlungsprozessen zwischen Arbeitern und Arbeitgebern überlassen blieb, wie die tatsächliche Höhe der geleisteten Arbeitszeit aussehen sollte.

Das Kapitel „Polity“ wendet sich der bürgerschaftlichen Argumentation in den Auseinandersetzungen um die Verkürzung der Arbeitszeit zu. In den USA breitete sich nach dem Ende des Bürgerkriegs die Agitation für den Acht-Stunden-Tag in den Worten von Karl Marx in Siebenmeilen-Stiefeln rasant über das ganze Land aus. Doch über anfängliche Erfolge mit Hilfe von Streiks kamen die lokalen Gewerkschaften nicht hinaus. Stattdessen argumentierten die Arbeiterbewegungen nun, dass die Warenform der Arbeit die Arbeiter in ihren bürgerlichen Rechten und ihrer politischen Teilhabe bedrohe. Eine Verkürzung der Arbeitszeit sei daher „a precondition for the survival of the Republic“ (S. 87). In Deutschland sollte eine kürzere Arbeitszeit die Grundlage für politische Partizipation der Arbeiterschaft als gleichberechtigte Staatsbürger bilden.

Vor allem aus gesellschaftlicher Perspektive forderten die Arbeiterbewegungen eine De-Kommodifizierung der Arbeit. Denn, wie die im Kapitel „Society“ rekonstruierten Diskurse verdeutlichten, hatte die Warenförmigkeit der Arbeit entwürdigende, entmenschlichende Folgen für die Arbeiterschaft. Der unregulierte Arbeitstag bringe Schande über jede Form von Zivilisation, hieß es beispielsweise 1869 auf einer Arbeiterversammlung in New York. Die „Waare Arbeit“ sei eine Anomalie der Gegenwart und die Tendenz hin zu dieser Warenförmigkeit habe nichts Natürliches an sich, sondern sei „bedauerlich und verwerflich“, betonte ADAV-Präsident Johann Baptist von Schweitzer 1874 im Reichstag (S. 127, Anm. 428).

So überzeugend dieses Argumentationsmuster in der Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse für die Anhänger sein mochte, in der Wirtschaft hatte es nur partiellen Einfluss, wie Reick im nachfolgenden Kapitel „Economy“ darstellt. Vor allem die Gewerkschaften fanden sich mit der Kommodifizierung der Arbeit ab und machten sich die ihr inhärente Marktlogik für ihre eigenen Forderungen zunutze. Beiderseits des Atlantiks fanden sich Argumente, dass eine Verkürzung der Arbeitszeit die Produktivität steigern würde und von daher auch die Arbeitgeberseite nur zustimmen könnte. Ein „Zeitbewusstsein“ innerhalb der Arbeiterschaft setzte sich durch, das völlig anders verortet war als in den früheren Zeiten einer moralischen Ökonomie. Da die Idee der Arbeitszeitverkürzung aber auch mit Ideen der „Veredelung“ des Arbeiters verknüpft sein konnte, barg sie auch die Strategie der Exklusion in sich. In den USA wurde zum Beispiel den chinesischen Arbeitern diese Fähigkeit zur Kultivierung abgesprochen. Sie gäben sich mit einer Schale Reis schon zufrieden und wären daher eine Gefahr für die weißen arbeitenden Klassen und ihren Kampf um Arbeitszeitverkürzung.

Eine ähnlich ausgrenzende Strategie sieht Reick im abschließenden längsten Kapitel „Gender“. Frauenarbeit, so lauteten die Argumente in den Arbeiterbewegungen, trage entscheidend zur Durchsetzung der Arbeit als Ware bei, die zunehmende Beschäftigung von Frauen bei gleichzeitig niedrigen Löhne stelle eine Gefahr für die männliche Arbeiterschaft dar. Die von den Unternehmen vorgebrachten Argumente der Emanzipation der Frau durch Arbeit seien nur vorgeschoben, um die Arbeit des Mannes zu entwerten. Während Vertreter der deutschen Arbeiterbewegungen auf eine Gesetzgebung speziell zum Schutz der Frauen setzten und sie damit ausgrenzten und von Arbeit fernhalten wollten, schotteten New Yorker Gewerkschaften ganze Gewerbezweige vor Frauenarbeit ab.

In einem abschließenden Rück- und Ausblick betont Reick, dass die Kommodifzierung der Arbeit vor allem in Zeiten des Fordismus eine weitgehend akzeptierte (und hingenommene) Tatsache war. In Zeiten der Massenproduktion und der Betriebsmacht von Arbeitnehmervertretungen ließ sich Arbeit als Ware auch für die Interessen der Arbeiterschaft nutzen. Mit der Krise des Fordismus seit Ende der 1970er-Jahre dränge dagegen auch wieder sehr viel stärker der Diskurs um Alternativen zur Warenförmigkeit der Arbeit in den Vordergrund.

Philipp Reick zeigt, dass man auch auf nur rund 200 Seiten eine weiterführende, anregende Dissertation schreiben kann, die der Geschichte der frühen Arbeiterbewegungen neue Perspektiven abgewinnt. Sicherlich hätten sich manche Einschätzungen zur Vertiefung angeboten. Kann man wirklich aus einer Artikelserie im „Demokratischen Wochenblatt“ über „Weiße Sklaven“ einen rassistischen Diskurs innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung ableiten? Obwohl im Buch betont, hätte der Unterschied zwischen den verschiedenen Berufstraditionen systematischer herausgearbeitet werden können. Gerade die frühe deutsche Arbeiterbewegung hatte eine starke handwerkliche Basis. Viele dieser Handwerkerarbeiter setzten noch auf berufliche Selbständigkeit und Autonomie. Sie sahen auf allen von Reick analysierten Ebenen in der Kommodifizierung der Arbeit eine abzuwehrende Gefahr. Auch die Relativierung von Polanyis Ansatz in Reicks Schlussbetrachtungen wirft Fragen nach der Bedeutung von Polanyis „Great Transformation“ für empirisch-diskursgeschichtliche Fragen auf. Schließlich: Sind die Ähnlichkeiten zwischen deutscher und amerikanischer Arbeiterbewegung vielleicht doch etwas zu stark in den Vordergrund gerückt? Doch solche Fragen zu provozieren, zeigt auch die Stärke dieser Arbeit.

Anmerkung:
1 Alfons Frese, IG Metall traut sich 35-Stunden-Woche zu, in: Der Tagesspiegel, 15. Mai 2017.