U. Lappenküper u.a. (Hrsg.): Europäische Kulturkämpfe

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Titel
Europäische Kulturkämpfe und ihre gegenwärtige Bedeutung.


Herausgeber
Lappenküper, Ulrich; Ritter, André; von Scheliha, Arnulf
Reihe
Otto-von-Bismarck-Stiftung, Wissenschaftliche Reihe 24
Erschienen
Paderborn 2017: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
253 S.
Preis
€ 26,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Georg Aschoff, Hochschuldozent i. R., zuletzt Historisches Seminar, Leibniz Universität Hannover

Der Terminus „Kulturkampf“ wurde 1873 im preußischen Abgeordnetenhaus bei der Beratung über den Gesetzentwurf über die Vorbildung und Anstellung von Geistlichen von dem Liberalen Rudolf Virchow geprägt, der damit die Notwendigkeit der Befreiung der Kultur vom Einfluss der Kirche deutlich machen wollte und sich einer bereits 1840 in der Schweiz verwandten Bezeichnung bediente. Bis heute wird der Begriff zur Charakterisierung unterschiedlicher öffentlich ausgetragener Konflikte um Kirche und Religion gebraucht. Dieser inflationäre Gebrauch gibt Veranlassung zur Diskussion, ob die Bezeichnung „Kulturkampf“ noch als wissenschaftlicher Terminus taugt oder gar als Epochenbegriff verwandt werden kann, wie es Manuel Borutta nahelegt.1 Diesem Problem ging die im September 2015 in der Evangelischen Akademie Frankfurt durchgeführte interdisziplinäre Konferenz nach, deren Ergebnisse in der hier besprochenen Veröffentlichung vorliegen. Ziel der Veranstaltung war es, „die Auseinandersetzungen zwischen den Nationalstaaten und Religionsgemeinschaften im 19. und 20. Jahrhundert an ausgewählten Beispielen sowie mit interdisziplinärem Zugriff aus geschichtswissenschaftlicher, theologisch-kirchenrechtlicher und juristischer Perspektive komparatistisch zu untersuchen“ (S. 8) und damit einen Beitrag zu aktuellen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatten zu liefern. Die geographischen Bezugsgrößen bildeten die Schweiz, Italien, Frankreich und Deutschland.

In seiner „Impulsstudie“ „Kulturkämpfe in Europa. Epochale Bedeutung und Grenzen“ (S. 17–36) äußert Hans-Christof Kraus erhebliche Zweifel an der Verwendung des Terminus „Kulturkampf“ als Epochenbegriff. Er gesteht zu, dass es sich bei den Auseinandersetzungen um einen entscheidenden Aspekt des Übergangs vom europäischen Ancien Régime zur modernen Welt handelt. Jedoch verdeutlicht er unter Hinweis auf Frankreich, Spanien, Italien, Preußen, Großbritannien und die Skandinavischen Länder, dass sowohl die traditionellen Nationalstaaten als auch die „Verspäteten Nationen“, aber durchaus nicht alle Staaten Europas im 19. Jahrhundert, von Kulturkämpfen oder kulturkampfähnlichen Auseinandersetzungen betroffen waren, dass diese Konflikte über sehr unterschiedliche, durch nationalgeschichtliche Besonderheiten bedingte Ursachen verfügten und die Trennlinien nicht nur zwischen Staat und Kirche, sondern auch zwischen den verschiedenen Konfessionen und Richtungen sowie zwischen politischen Parteien verliefen.

Der Abschnitt „Historische Fallstudien“ beginnt mit Markus Ries, „Kulturkämpfe als Treiber nationaler Integration in der Schweiz des 19. Jahrhunderts“ (S. 39–50). Ries führt aus, dass sich die schweizerischen Kulturkämpfe seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vornehmlich auf der Ebene der Kantone und nicht des Bundesstaates abspielten und nach dem Ersten Vatikanischen Konzil (1869/70) an Schärfe gewannen. Die Gesetzgebung, die u.a. Ordensverbote und die staatliche Regelung der Priesterausbildung umfasste, sowie die Vorgehensweise der Kantone, die von der Absetzung von Bischöfen bis zu gewaltsamen Aktionen gegen renitente Geistliche reichte, ähnelten den preußischen Maigesetzen und ihrer Ausführung. Eine Auswirkung des Kulturkampfes bestand in der weltanschaulichen und politischen Isolierung der Katholiken, dem Ausbau ihres verzweigten Vereinswesens und der Gründung der Schweizerischen Konservativen Volkspartei. Wegen der gemeinsamen Abgrenzung zur Sozialdemokratie kam es gegen Ende des Jahrhunderts zum Zusammenschluss von Liberalen und den durch die neu geschaffenen Binnenstrukturen gestärkten ultramontanen Katholiken, wodurch deren nationale Eingliederung gefördert wurde. René Pahud de Mortanges weist in seinem Beitrag „Zur Geschichte der konfessionellen Ausnahmeartikel im schweizerischen Verfassungsrecht“ (S. 51–65) nach, dass gegen die katholische Kirche gerichtete Sonderbestimmungen sowohl auf Kantons- als auch auf Bundesebene bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in Geltung blieben. Das in der Bundesverfassung von 1874 verankerte Verbot des Jesuitenordens und der Einrichtung von Klöstern wurde 1973 und der Bistumsartikel, wonach ohne ausdrückliche Genehmigung des Bundes keine Bistümer gegründet werden durften, erst 2001 aufgehoben. Das 2009 per Volksabstimmung in die Bundesverfassung aufgenommene Bauverbot von Minaretten erinnert an die konfessionellen Ausnahmebestimmungen des 19. Jahrhunderts.

Die kulturkämpferischen Auseinandersetzungen, die um 1850 im Königreich Piemont-Sardinien einsetzten und ebenfalls im Jesuitenverbot und im Ordensgesetz eine besonders radikale Ausprägung fanden, weiteten sich im Zuge des Risorgimento auch auf das übrige Italien aus und erreichten 1876 nach dem Regierungsantritt der der Garibaldi-Tradition verpflichteten linken Liberalen ihren Höhepunkt; dies beschreibt Christian Liermann in seinem Beitrag „Kulturkampf in Italien: Sonderfall unter Sonderfällen“ (S. 67–95). Der italienische Sonderfall bestand in der Römischen Frage, dem Konflikt um die Annexion des Kirchenstaates und die Sicherung der Unabhängigkeit des Heiligen Stuhls, der den italienischen Streitigkeiten im Staat-Kirche-Verhältnis eine besondere Schärfe verlieh und die Katholiken durch die päpstliche Verlautbarung „Non expedit“ von 1874 zur politischen Enthaltsamkeit auf der nationalen Ebene verpflichtete. Erst nach der Jahrhundertwende und angesichts des Erstarkens der Sozialisten kam es zur Entspannung und schrittweisen Annäherung der Kirche an die Institutionen des Königreichs. Seine rechtliche Beilegung fand der Konflikt in den zwischen Papst Pius XI. und Benito Mussolini 1929 abgeschlossenen Lateranverträgen.

Winfried Becker („Frankreichs Religionspolitik vom Napoleonischen Konkordat bis zur Trennung von Kirche und Staat 1905“, S. 97–132) vermittelt einen Überblick über die Entwicklung des französischen Katholizismus im 19. Jahrhundert. Er legt überzeugend dar, wie das Konkordat von 1801 zur Voraussetzung für die Aufwärtsentwicklung der katholischen Kirche nach der Revolution wurde und die verschiedenen Regierungen und staatlichen Systeme mit ihrer unterschiedlichen Nähe zur Kirche überlebte. Zeitlich parallel vollzog sich das Entstehen der „Deux France“, des katholisch-monarchistischen und des von der Revolution herrührenden liberal-laizistischen Lagers. Letzteres gewann Ende der 1870er-Jahre mit dem Regierungsantritt des ‚parti républicain‘ unter der Führung Léon Gambettas eindeutig die Oberhand und führte einen verschärften Kampf gegen Kirche und Klerikalismus. Der Antiklerikalismus wurde in der Folgezeit das verbindende Element für die parteipolitische Mehrheitsherrschaft aus gemäßigten Republikanern, Linken, kleinbürgerlichen Radikalsozialisten und Sozialisten, die 1905 im Zeichen des Laizismus die radikale Trennung von Kirche und Staat durchführten. Der „Démocratie chretienne“, einer Gruppe von Katholiken, die die liberalen Errungenschaften der Französischen Revolution auch für Kirche nutzbar machen wollten, kam während dieser Zeit kein entscheidender politischer Einfluss zu. Marcel Albert setzt in seiner Abhandlung „Frankreichs Religionspolitik seit der Trennung von Kirche und Staat 1905“ (S. 133–182) den Überblick über die Entwicklung des französischen Staat-Kirche-Verhältnisses nach der Separation fort. Er weist auf Vorteile des Trennungsgesetzes von 1905 für die katholische Kirche hin; zwar erlitt diese eine erhebliche materielle Schädigung, wenn auch nicht alle staatlichen Subsidien eingestellt wurden. Auf der anderen Seite bedeutete das Gesetz einen weitgehenden Bruch mit dem Gallikanismus und erweiterte ihren Freiheitsraum. Nach dem Ersten Weltkrieg verbesserten sich bei Aufrechterhaltung prinzipieller Trennung die Beziehungen zwischen Staat und Kirche; nach dem Zweiten Weltkrieg übte der Staat der Kirche gegenüber eine „wohlwollende Neutralität“ und kam ihr in der Militärseelsorge und im Schulbereich weit entgegen, ohne Gegenleistungen zu erhalten. Bis in die Gegenwart leiden allerdings alle Religionsgemeinschaften in Frankreich an einer „chronischen Unterfinanzierung“.

In seinem Aufsatz „‘Nach Canossa gehen wir nicht‘. Otto von Bismarck und der preußisch-deutsche Kulturkampf“ (S. 183–206) vermittelt Ulrich Lappenküper einen Überblick über den Verlauf des Kulturkampfes vornehmlich in Preußen und arbeitet die Motive für Bismarcks Handlungsweise heraus. Diese sieht er in einem Komplex aus Ideen, Vorurteilen und Umständen, wozu die Gründung der Zentrumspartei, die Auswirkungen des Unfehlbarkeitsdogmas und die Sorge um eine Revanche-Koalition katholischer Staaten gehörten. Zentrales Ziel des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten war die Umwandlung der Kirche in eine Staatsanstalt und damit die „Stärkung der konservativen, christlich-säkularen und souveränen Monarchie“ der Hohenzollern (S. 204). Die Frage nach dem Sieger im Konflikt ist nicht eindeutig zu beantworten. Wie Lothar Gall sieht auch Lappenküper in der Stärkung des Interventionsstaates eine Auswirkung des Kulturkampfes. Auf zwei kleinere Ungenauigkeiten ist in seinem Beitrag hinzuweisen: Bismarck beabsichtigte Kardinal Gustav August zu Hohenlohe-Schillingsfürst zum Gesandten des Deutschen Reiches beim Heiligen Stuhl und nicht Preußens zu ernennen (S. 191). 1929 kam es zum Abschluss des Preußen- und nicht des Reichskonkordates (S. 205).

Im dritten Abschnitt der Veröffentlichung werden „Aktuelle Aspekte“ der Kulturkampfproblematik behandelt, wobei der Schwerpunkt auf dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft zum Islam liegt. Arnulf von Scheliha („Religionsfreiheit und staatliche Lenkung. Chancen und Grenzen gegenwärtiger Religionspolitik in Deutschland“, S. 209–221) hebt die Bedeutung der negativen Religionsfreiheit, der Freiheit von Religion und zur Kritik an der Religion, hervor und warnt vor zu hohen Erwartungen an eine Religionspolitik, die sich durch eine konkrete Steuerung die Integration der Anhänger des Islams verspricht. Claus Dierksmeier („Religiöse Freiheit: Innenperspektive versus Außensicht des Glaubens“, S. 223–239) weist unter Bezug auf Ausführungen Immanuel Kants darauf hin, dass eine fundamentalistische Religionsausübung dem wahren und eigentlichen Wesen der Religion widerspricht, während Norbert Lammert („Droht uns ein neuer Kulturkampf? Weltanschauungskonflikte als Herausforderung der westlichen Gesellschaft“, S. 241–252) unterstreicht, dass ein moderner Staat ohne Voraussetzungen, die er nicht geschaffen hat, nicht existieren kann; außerdem möchte er die Demokratiefähigkeit des Islams in Zukunft nicht in Abrede stellen und untermauert dies mit dem Hinweis auf entsprechende Entwicklungen in der Geschichte des Christentums.

Die Herausgeber legen eine beachtenswerte Studie über kulturkämpferische Auseinandersetzungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vor, die die Problematik des Begriffs „Kulturkampf“ verdeutlicht. Aufschlussreich wäre ein Beitrag über die religionspolitische Situation in den konfessionell heterogenen, lange Zeit durch ein protestantisches Staatsverständnis bestimmten Niederlanden gewesen, wo man durch die „Verzuiling“ („Versäulung“) das friedliche Nebeneinander unterschiedlicher Gruppen zu garantieren versuchte; außerdem hätte man den Sonderfall Belgien anführen können, wo es durch den Zusammenschluss von Katholiken und Liberalen gegen das Staatskirchentum und das absolutistische Gebaren Den Haags in den 1830er-Jahren zur Staatsbildung kam.

Anmerkungen:
1 Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, 2. Aufl., Göttingen 2011 (1. Auflage 2005).