D. Bosnakis u.a. (Hrsg.): Inscriptiones Coi insulae (IG XII.4.3)

Cover
Titel
Inscriptiones Coi insulae: Tituli sepulcrales urbani.


Herausgeber
Bosnakis, Dimitris; Hallof, Klaus
Reihe
Inscriptiones Graecae XII: Inscriptiones insularum maris Aegaei praeter Delum. Fasc. 4: Inscriptiones Coi, Calymnae, insularum Milesiarum. Pars 3
Erschienen
Berlin 2016: de Gruyter
Anzahl Seiten
S. 645–1041, XII S., II Taf.
Preis
€ 349,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Wieland, Seminar für Alte Geschichte, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Die „Inscriptiones Graecae“ (IG) gehören zu den Säulen der klassischen Altertumswissenschaft. Seit 1902 existiert das Dauerprojekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften mit dem Ziel, sämtliche antiken griechischen Inschriften des griechischen Mutterlandes und der Ägäis in einem großen Gesamtwerk systematisch zu erfassen. Obschon das Projekt in jüngerer Vergangenheit zum Teil heftig kritisiert wurde, ist die jetzt vorliegende neueste Publikation bereits der 55. Einzelband der Reihe, der die vollständige Sammlung der bekannten Grabinschriften des Stadtgebietes von Kos beinhaltet. Dimitris Bosnakis und Klaus Hallof haben insgesamt 1813 Inschriften in sorgfältiger epigraphischer Detailarbeit zusammengetragen und damit dem vierten Faszikel („Inscriptiones Coi, Calymnae, insularum Milesiarum“) des zwölften Bandes („Inscriptiones insularum maris Aegaei praeter Delum“) der IG einen weiteren Teil hinzugefügt. Jede Befassung mit den IG wirft immer einige grundsätzliche Fragen zur methodischen Vorgehensweise der Arbeitsstelle sowie der griechischen Epigraphik an sich auf, die weiter unten kurz adressiert werden sollen. Zunächst soll ein inhaltlicher Überblick über den Teilband gegeben werden.

Das Werk ist in zwei große Abschnitte unterteilt, von denen der erste die Grabinschriften vor 366 v.Chr., der zweite jene der Zeit nach 366 v.Chr. bis ins 4. Jahrhundert n.Chr. beinhaltet. Da im Jahr 366/65 v.Chr. durch Synoikismos ein neues urbanes Zentrum von Kos geschaffen wurde, überrascht es nicht allzu sehr, dass sich im ersten Teil lediglich drei Inschriften finden, von denen zwei Neueditionen sind (Nr. 1240 und 1242). Die älteste dieser Inschriften wird von Bosnakis auf paläographischer Grundlage in das Ende des 6. Jahrhunderts v.Chr. datiert, was diese bemerkenswerte Inschrift zur ältesten des gesamten Teilbandes macht. Der größte Teil der Inschriften findet sich im zweiten Teil, der grob gesprochen die Spätklassik, den Hellenismus und die römische Zeit umfasst. Hallof und Bosnakis haben eine Unterteilung der unterschiedlichen Inschriftentypen in 15 Kategorien gewählt, die aus meiner Sicht in neun Oberkategorien zusammengefasst werden können: Altäre (283 Stück); säulenförmige Grabsteine (25 Stück); viereckige Grabsteine (125); Stelen (1025 Stück); Grabgrenzsteine (125 Stück); Cippi (78 Stück); Grabmonumente sonstiger Art (114 Stück); Grabinschriften mit Fluchandrohung (6 Stück); Grabinschriften auf Monumenten unsicherer Art (29 Stück).

Dargestellt werden die einzelnen Inschriften im altbekannten IG-Schema: Sämtliche editorischen Vermerke sind in Latein gehalten, freilich mit Ausnahme der Seitenzahlen sowie der fortlaufenden Nummern der einzelnen Inschriften. Die wenigen philologischen und historischen Kommentare unter den Inschriften sind auf ein Minimum beschränkt und finden sich überhaupt nur bei den wenigsten Exemplaren. Wenn Kommentare vorhanden sind, beziehen sie sich zu allermeist auf unterschiedliche Lesungen anderer Editoren an kritischen Stellen der Inschrift. Der Band umfasst größtenteils bereits edierte Inschriften, unter denen sich viele befinden, die von Bosnakis selbst ediert wurden. Diese sowie alle bisher unedierten Inschriften sind mit dem Kürzel „[D. B.]“ versehen, um zu verdeutlichen, dass der Editor hier selbst tätig gewesen ist. Durch die langjährige Arbeit der beiden Editoren mit den koischen Inschriften ist dementsprechend auch ein hohes Maß an Autopsie zu konstatieren, wobei bei gut 20 Prozent der Inschriften keine Selbstbegutachtung möglich war (insgesamt 354 tragen den Vermerk „non vidi“). In den meisten Fällen handelt es sich hierbei um Inschriften, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts gefunden und dokumentiert wurden, heute aber nicht mehr auffindbar sind.

Im Anhang findet sich ein Index, der die Vergleichseditionen der bereits edierten Inschriften auflistet und sich für jeden Forscher, der sich tiefer mit den Grabinschriften von Kos beschäftigen möchte, als äußerst wertvoll erweisen wird. Zudem sind am Ende des Bandes zwei Bildtafeln mit insgesamt einundzwanzig Abbildungen angehängt. Sinn und Zweck dieser Bildtafeln soll offensichtlich nicht sein, Detailforschung zu den einzelnen Inschriften zu ermöglichen oder als Ergänzung zu den Neueditionen zu fungieren. Vielmehr haben Hallof und Bosnakis hier 21 repräsentative Bilder zu den einzelnen Inschriftenkategorien ausgewählt, die vor allem illustrative Funktion haben. Die Bilder sind von exzellenter Qualität und in schwarz-weiß gehalten. Es ist davon auszugehen, dass in näherer Zukunft zumindest die Bilder der Neueditionen in einem Tafelband publiziert werden. Die Formatierung des Bandes ist insgesamt gewohnt übersichtlich gestaltet, wobei wünschenswert wäre, dass auch die Unterkategorien in der Kopf- oder der Fußzeile vermerkt werden, damit ohne Hin- und Herblättern schnell festgestellt werden kann, in welcher Kategorie man sich befindet. Zudem stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, jedem einzelnen Teilband ein Abkürzungsverzeichnis beizufügen, das vor allem jenen Benutzern von großer Nützlichkeit sein könnte, die nicht den Luxus besitzen, auf eine komplett ausgestattete Bibliothek mit allen Vorläuferbänden zurückgreifen zu können.

Reinhold Merkelbach hat 1997 und 1998 zwei Hauptkritikpunkte an der Arbeit der IG im Allgemeinen aufgeworfen: die aus seiner Sicht antiquierte Verwendung des Lateinischen als Editionssprache sowie den Allgemeincharakter eines vollständigen Corpus.1 Beide Kritikpunkte gingen im Grunde darauf zurück, dass Merkelbach eine Umgestaltung der IG hin zu einer Sylloge im Stile von Dittenbergers Orientis Graeci Inscriptiones Selectae (OGIS) oder dem Supplementum Epigraphicum Graecum (SEG) vorschwebte. Der vorliegende Band der IG illustriert einerseits beide von Merkelbach angesprochenen Probleme, verdeutlicht jedoch andererseits, dass beiden Aspekten des traditionellen Vorgehens auch viel Positives abgewonnen werden kann. In der Benutzung eines IG-Bandes erweist es sich beim ersten Aufschlagen zunächst als mühsam, sich die Einzelheiten des Fundkontextes und die anderen Informationen zu den Inschriften auf Latein erschließen zu müssen, und Merkelbach hat aus meiner persönlichen Wahrnehmung des Umgangs der jüngsten Generation von Forschern mit den IG durchaus Recht, wenn er darauf hinweist, dass das Corpus zumeist ignoriert wird. Überwindet man jedoch die erste Hürde und beginnt damit, den Teilband sorgfältig durchzublättern, wird schnell klar, dass selbst grundlegendste Lateinkenntnisse ausreichen, um die wenigen Anmerkungen bei den jeweiligen Inschriften zu verstehen. An jenen Stellen, an denen Verständnisschwierigkeiten bestehen, bietet dies gerade dem jungen Forscher, der sich in das Feld der Epigraphik einarbeitet, die Gelegenheit, sein Vokabular zu erweitern, was ein kaum zu unterschätzender Mehrgewinn ist, weil es auch die zukünftige Arbeit mit den älteren IG-Bänden und anderen auf Latein verfassten Werken erleichtert. Die IG haben gerade in Bezug auf den epigraphischen „Jargon“ Maßstäbe gesetzt, die das gesamte Fach geprägt haben, weswegen es sinnvoll erscheint, auch die jüngste Generation von Forschern zumindest zuweilen damit zu konfrontieren.

Wie exemplarisch am neusten Band der Reihe deutlich wird, verstand und versteht sich das Projekt nicht als Hort der eigentlichen Erforschung der antiken Inschriften, sondern vor allem als Dokumentationszentrum und Gesamtarchiv, das dem einzelnen Forscher die Möglichkeit bietet, seine Detailerkenntnisse in einen großen Gesamtkontext einzufügen. So sehr es dem heutigen Anspruch der Effizienz entgegenzulaufen scheint, besitzen Gesamtcorpora antiker Inschriften einen ungemeinen Wert für die Beurteilung einer gesamtgesellschaftlichen Grundsituation in einem bestimmten Zeitraum und einem bestimmten Ort. Es ist unabdingbar, dass detailliertere Corpora zu einzelnen Gebieten in moderner Sprache und mit ausführlichem Kommentar erstellt werden, diese können jedoch zu vielen wichtigen Fragen nur bedingt Antworten liefern. Dies betrifft insbesondere große statistische Auswertungen bestimmter Forschungsaspekte. Ein Beispiel hierfür sind prosopographische Untersuchungen, die auf ein möglichst vollständiges Corpus angewiesen sind, um aussagekräftige Ergebnisse liefern zu können. So ist es im vorliegenden Fall der Grabinschriften von Kos beispielsweise faszinierend zu beobachten, dass sich vom 3. Jahrhundert v.Chr. bis in römische Zeit hinein Personennamen, die hellenistische Dynastien rezipieren („Ptolemaios“, „Antiochos“, „Berenike“ usw.), offenbar die Waage halten. Dazu kommt, dass einige Personen auch noch im 1. Jahrhundert v.Chr. als „Alexandriner“ bezeichnet werden. Beides zusammengenommen könnte Anstoß zu einem Forschungsprojekt geben, dass ein genaueres Bild des Verhältnisses der Insel mit den einzelnen hellenistischen Dynastien liefert, würde jedoch in einer auf die Darstellung der „wichtigsten“ Inschriften bedachten Sylloge vollkommen untergehen. Da ein Großteil der Inschriften im vorliegenden Band bereits ediert wurde (viele davon von Bosnakis selbst) besteht nicht die Gefahr, dass die repräsentativen Einzelexemplare in der Masse untergehen.

Die IG leisten auch heute noch unumgängliche und äußerst wertvolle Arbeit für die griechische Epigraphik, wofür der aktuellste Band zu den koischen Grabinschriften das beste Beispiel ist. Hallof und Bosnakis haben es geschafft, einen Teilband zu erstellen, der das Gesamtbild der Forschung auf das hellenistisch-römische Kos erhellen und erweitern wird. Allerlei neue Forschungen werden unter anderem durch diesen Band angestoßen werden und dazu beitragen, dass auch die jüngste Generation von Epigraphikern nicht den Blick für das große Ganze verliert.

Anmerkung:
1 Reinhold Merkelbach, Überlegungen zur Fortführung der Inscriptiones Graecae, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 117 (1997), S. 297–303; ders., Nochmals Inscriptiones Graecae, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 122 (1998), S. 293–299.

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