L. Gilhaus u.a. (Hrsg.): Elite und Krise in antiken Gesellschaften

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Titel
Elite und Krise in antiken Gesellschaften / Élites et crises dans les sociétés antiques.


Herausgeber
Gilhaus, Lennart; Kirsch, Stephanie; Mossong, Isabelle; Reich, Franziska; Wirz, Sebastian
Reihe
Collegium Beatus Rhenanus 5
Erschienen
Stuttgart 2016: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
182 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katarina Nebelin, Heinrich-Schliemann-Institut für Altertumswissenschaften, Universität Rostock

Elite und Krise – Aktualität und Brisanz dieser Begriffskombination scheinen angesichts der gegenwärtigen politischen Entwicklungen auf der Hand zu liegen. Zugleich handelt es sich dabei um Kernbegriffe der historischen, gerade auch der althistorischen Forschung. Zudem sind beide Begriffe im Alltagssprachgebrauch fest verankert und so vieldeutig, dass sie schon wieder als geradezu inhaltsarm gelten können; hinzu kommt, dass sie meist stark wertend gebraucht werden. Der Titel des anzuzeigenden Sammelbandes verspricht also eine Auseinandersetzung mit zwei ebenso aktuellen wie klassischen und noch dazu hoch problematischen, in ihrem forschungspraktischen Nutzen umstrittenen Begrifflichkeiten. Konkret bietet der Band eine Auswahl der Beiträge, die auf einer Tagung des deutsch-französisch-schweizerischen Graduiertenkollegs „Masse und Integration in antiken Gesellschaften“ (Bonn / Straßburg / Bern) gehalten wurden. An einen einführenden Überblick schließen sich die Einzeluntersuchungen an, die einen zeitlichen Rahmen von der griechischen Archaik bis zur Spätantike abdecken und inhaltlich von eher makrohistorisch angelegten Analysen bis zu biographischen Studien einzelner Akteure reichen.

Lennart Gillhaus eröffnet den Band mit einem einführenden Beitrag über die Begriffe ‚Krise‘ und ‚Elite‘ in der historischen und insbesondere der althistorischen Forschung. Er bietet einen Überblick zu einigen Krisentheorien und -definitionen von Jacob Burckhardt bis Jürgen Friedrichs mit Fokus auf Theorien zu Spätantike und Völkerwanderungszeit, zweifellos eine von Zeitgenossen wie Forschern immer wieder als krisenhaft beschriebene Epoche. Aus dieser Schwerpunktsetzung resultiert aber auch das völlige Fehlen jeder Erwähnung einer der ausgefeiltesten und anschlussfähigsten althistorischen Krisentheorien: Christian Meiers These einer ‚Krise ohne Alternative‘ und seiner Überlegungen zur Konzeptionierung historischer (auch krisenhafter) Prozesse.1 Bezogen auf ‚Elite‘ geht Gillhaus zum einen auf Forschungen zu elitären Habitus im Gefolge Pierre Bourdieus ein, zum anderen auf struktur- und systemtheoretische Ansätze zur Integrations- und Orientierungsfunktion von Eliten. Insgesamt plädiert Gillhaus für einen akteurszentrierten Ansatz, bei dem die gemeinschaftsstabilisierende Rolle der Eliten gerade auch bei der Deutung und handlungspraktischen Bewältigung von Krisenerfahrungen im Mittelpunkt steht.

Alain Duplouy setzt sich kritisch mit zwei zentralen Begriffskonzepten auseinander: dem des ‚griechischen Adels‘ und dem der ‚archaischen Krise‘ des 7. Jahrhunderts v.Chr. Die Kernthese seiner Monographie zum gleichen Thema bündig zusammenfassend, betont Duplouy, dass weder Macht noch Geburt oder Reichtum allein die gesellschaftliche Stellung der griechischen Elitenangehörigen determinierten.2 Ausschlaggebend seien vielmehr die Handlungsstrategien gewesen, mit denen die Einzelnen ihren sozialen Status darzustellen oder zu verbessern suchten. Diese Strategien waren dezidiert agonal ausgerichtet, weshalb es keinen Sinn mache, von einer ‚Krise‘ zu sprechen. Konkurrenz und interne Konflikte bis hin zur Stasis seien der Normal- und sogar der Normzustand der archaischen Kultur gewesen und hätten deren Dynamik ausgemacht.

Während sich Duplouy im Mainstream der neueren Forschungsansätze zur Archaik bewegt, geht Lisa Roques von einem historischen Szenario aus, in dem es in der Mitte des 5. Jahrhunderts v.Chr. in Athen zu einem Wechsel von einem oligarchischen zu einem demokratischen Regime gekommen sei. Der damit einhergehende Wandel der politischen Kultur der Elite, verkörpert durch Kimon, den „chef du parti oligarchique athénien“ (S. 47), und seinen demokratischen Gegenspieler Perikles, habe sich aus der Sicht von Beobachtern wie Ion von Chios als Krise des überkommenen, panhellenisch ausgerichteten elitären Habitus dargestellt.

Die folgenden Beiträge haben Rom und das Imperium Romanum bis zur Spätantike zum Gegenstand. Dominik Maschek untersucht den scheinbaren Widerspruch zwischen den literarischen Berichten über massive innere Konflikte bis hin zu Bürgerkriegen im spätrepublikanischen Mittelitalien und der zeitgleichen materiellen Prosperität und regen Bautätigkeit. Dabei fragt er auch ganz grundsätzlich nach der Nachweisbarkeit von Krisen durch archäologische Methoden.3 Durch die differenzierte Untersuchung der je spezifischen Konstellationen auf regionaler Ebene ergibt sich das schlüssige Bild lokaler Eliten, die sich in einer Legitimitätskrise (J. Habermas) befinden und versuchen, „durch zum Teil enorme Investitionen in soziales Kapital eine Krisenstabilisierung herbeizuführen“ (S. 74).

Die Späte Republik steht auch im Fokus von Yann Berthelets Beitrag zur Ausweitung der Obnuntiation von den Auguren auf sämtliche Magistrate. Diese sei von der konservativen Senatsmehrheit als Gegenstück zur tribunicischen Intercession eingeführt worden, um unliebsame Gesetzesvorhaben stoppen oder im Nachhinein annullieren zu können, aber stets umstritten geblieben. Angesichts der weitreichenden personellen Identität von religiösen und politischen Amtsträgern stellt sich allerdings die Frage, wie zentral die von Berthelet aufgemachte Differenz in der Praxis tatsächlich war.

Aus einer anderen Perspektive betrachtet Miguel Canas die Krise der Späten Republik. Seine Analyse senatorischer Heiratsstrategien in der Zeit der spätrepublikanischen Bürgerkriege kommt zu dem interessanten Ergebnis, dass die Senatoren nach wie vor versuchten, interne Konflikte durch Verwandtschaftsbeziehungen zu entschärfen: Die führenden Familien hätten faktionsübergreifende Heiratsverbindungen bewusst genutzt, um das Risiko zu minimieren, nach dem Sieg einer der Bürgerkriegsparteien vollständig auf Seiten der Verlierer zu stehen.

Stephanie Kirsch befasst sich mit der Bedeutung der Ablehnung von Körperstrafen für die Elitenerziehung im Prinzipat. Im Zentrum der Ausführungen steht Quintilians Konzeption des idealen Redners, dessen Habitus auch körperliche Unversehrtheit beinhalte. Körperstrafen waren negativ konnotiert, da sie den Sklaven, den Unterschichtsangehörigen und innerhalb der Elitenerziehung nur dem Kindesalter vorbehalten waren. Kirsch interpretiert diese Vorstellungen als Form der Selbstvergewisserung und -definition einer kaiserzeitlichen ‚Bildungselite‘, die zu deren Stabilisierung in allerdings nicht näher spezifizierten Krisenphasen habe beitragen können.

An die Peripherie des Imperium Romanum führt Elena Köstners biographischer Überblick über den militärischen Aufstieg des germanischen ‚Räuberhauptmanns‘ Charietto zum nützlichen Handlanger Roms bei der Durchführung von Sonderkommanden gegen rivalisierende Räubergruppen. Von dieser Delegation der praktischen Durchsetzung von innerer Sicherheit und Befriedung an einen dubiosen, mit dem römischen Bürgerrecht leicht zu ködernden Außenseiter profitierten letztlich beide Seiten. Es stellt sich daher die Frage, ob das römische Vorgehen für die ‚Krise des 4. Jahrhunderts n.Chr.‘ spezifisch ist, oder ob hier nicht eher eine typische Herrschaftspraxis imperialer Großmächte zu beobachten ist.

Isabelle Mossong betrachtet die Auswirkungen von Kaiser Iulians Abwendung vom Christentum auf die christliche Führungselite. Ihr zufolge war diese recht überschaubare Gruppe die einzige, die von Iulians Maßnahmen getroffen wurde, da diese nicht die ‚einfachen‘ Gläubigen erreicht hätten. Daher habe es sich nicht um eine allgemeine religiöse, sondern um eine politische Krise gehandelt, die bei den Betroffenen zu unterschiedlichen Reaktionen geführt habe.

Mit den Reaktionen christlicher Elitenangehöriger auf krisenhafte Zustände befasst sich auch Karsten C. Ronnenberg. Er nimmt mit den Familien Melanias der Jüngeren und Anicia Faltonia Probas zwei Einzelschicksale in den Blick. Beide Gruppen gehörten zur stadtrömischen Elite und flüchteten infolge der Eroberung Roms 410 n.Chr. zunächst nach Africa. Ronnenberg zeichnet ihre Fluchtwege, ihr Verhältnis zu den lokalen christlichen Eliten sowie ihr weiteres Schicksal nach. Auch wenn die Wege beider Familiengruppen differierten – die eine zog weiter nach Palästina, die andere kehrte schließlich nach Rom zurück –, zeigt sich, dass eine führende gesellschaftliche Stellung, (beweglicher) Reichtum und durch christlich-asketische Lebensführung errungenes symbolisches Kapital den Flüchtlingsstatus zu einem aushaltbaren Zustand machen können.

Insgesamt zeigt der Band das Potential einer vertieften althistorischen Auseinandersetzung mit den Begriffen von ‚Elite‘ und ‚Krise‘, auch wenn die einzelnen Beiträge, wie üblich bei Sammelbänden, von unterschiedlicher Qualität sind.

Anmerkungen:
1 Vgl. sein Standardwerk zur römischen Republik: Christian Meier, Res publica amissa. Eine Studie zu Verfassung und Geschichte der späten römischen Republik, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1997 (1. Aufl. 1966); zur Konzeption historischer Prozesse auch am Beispiel der Entstehung der athenischen Demokratie siehe Christian Meier, Fragen und Thesen zu einer Theorie historischer Prozesse, in: Karl-Georg Faber / Christian Meier (Hrsg.), Historische Prozesse, München 1978, S. 11–66. Zur Anwendung auf die Gegenwart siehe Christian Meier, Zustände wie im alten Rom? Überlegungen anhand einer anderen Epoche des Übergangs und der Ratlosigkeit, in: Merkur 580 (1997), S. 569–580. Zur Bedeutung der Krisentheorie Meiers sowie generell zur Deutung der Späten Republik als Krisenzeit vgl. auch die Anmerkungen von Dominik Maschek im selben Band.
2 Vgl. Alain Duplouy, Le prestige des élites: Recherches sur les modes de reconnaissance sociale en Grèce entre les Xe et Ve siècles avant J.-C., Paris 2006.
3 Diese methodologisch interessante Frage klingt auch in Alain Duplouys Beitrag an.

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