B. Stambolis u.a. (Hrsg.): Jugend im Fokus von Film und Fotografie

Cover
Titel
Jugend im Fokus von Film und Fotografie. Zur visuellen Geschichte von Jugendkulturen im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Stambolis, Barbara; Markus Köster
Reihe
Jugendbewegung und Jugendkulturen – Jahrbuch 2016 / 12
Erschienen
Göttingen 2016: V&R unipress
Anzahl Seiten
515 S., 200 SW-Abb.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Hägele, Institut für Medienwissenschaft, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Die 15 Beiträge zum Themenschwerpunkt des Bandes „Jugend im Fokus von Film und Fotografie“ basieren auf einer Tagung des Archivs der deutschen Jugendbewegung, in Kooperation mit dem LWL-Medienzentrum für Westfalen, vom Herbst 2015. Die Maßgabe lautete, Ansätze der Visual History und der historischen Jugendforschung zu verbinden. Einleitend betonen Barbara Stambolis und Markus Köster die „Relevanz von Bildern für unsere historische Erinnerung“. Auffallend sei, „dass die Geschichtswissenschaft, speziell die neuere Sozial- und Zeitgeschichte, sich lange Zeit kaum ernsthaft mit ihnen beschäftigt hat“ (S. 12). Weiter umschreiben sie das methodologische Instrumentarium. Die Visual History – in Deutschland unter anderem vorangetrieben durch Gerhard Paul – zeichne sich durch einen ganzheitlichen Zugang und eine interdisziplinäre Methodik aus. Auch das Quellenspektrum sei breit gefächert: Fotografien und Filme, Plakate, Briefmarken, Plattencover und vieles mehr. „Visuelle Überlieferungen machen also Geschichte! Sie formen Wahrnehmungen, verändern Erinnerungen, beeinflussen den Blick auf die Geschichte, auch [auf] die der bewegten Jugend im 20. Jahrhundert.“ (S. 13) Gerhard Paul und Susan Sontag folgend, plädieren Stambolis und Köster für einen „historisch-kritischen Umgang“ (S. 14) mit den visuellen Quellen.

Kennzeichnend für die Herausbildung der Jugendbewegung um 1900 war ein genuin moderner Anspruch, der sich etwa in neuen Formen des Kollektivs, von Körperlichkeit und Aufbruch manifestierte – im Gegensatz zu herrschenden Konventionen des ausgehenden Kaiserreiches. Entsprechend hoch im Kurs standen die modernen Medien Fotografie und Film: Zu allen möglichen und unmöglichen Anlässen wurde geknipst und später auch gefilmt, sofern die entsprechende Ausrüstung verfügbar war. Parallel rezipierten Jugendliche immer auch öffentliche Fotografien, schufen damit individuell oder in der Peergroup eigene Bedeutungsmuster und visuelle Kontexte. Das vielleicht prominenteste Beispiel des 20. Jahrhunderts ist das seit den späten 1960er-Jahren in mannigfaltigen Varianten kursierende, ikonenhafte Che-Guevara-Portrait von Alberto Korda.

Die Texte im Hauptteil des Bandes, von denen hier nur wenige näher vorgestellt werden können, konzentrieren sich auf drei Formen der fotografischen und filmischen Visualisierung: Jugendliche Protagonisten fertigen von sich selbst, aus privatem Antrieb und zur biografischen Dokumentation Bilder an, kleb(t)en sie mit Texten versehen in Alben oder leg(t)en sie in Schuhkartons ab; Fotografien und Filme von Jugendkulturen sind zur medialen Veröffentlichung gedacht und werden von professionellen Lichtbildnern und Kinoleuten hergestellt; junge Menschen eignen sich private Fotografien oder öffentliche Bilder an und treten damit in Interaktion.

Alexander J. Schwitanski vom Haus der Geschichte des Ruhrgebiets (Bochum) konzentriert sich in „Statische Bilder als Bilder von Bewegung“ auf visuelle Praktiken der Arbeiterjugend der 1920er- bis 1950er-Jahre. Deren Maxime lautete Freiheit in allen Lebenslagen, so jedenfalls kolportierte es die zeitgenössische Literatur. Schwitanski ist sich dessen nicht so sicher und fragt, „welche Bedeutung Selbständigkeit auf den unterschiedlichen Ebenen des komplexen Geflechts aus individuellen Interaktionen, kollektiven Aktionen und Institutionen hatte“. Fotografien, so die These, „können eine neue Perspektive auf diese Fragestellung eröffnen“ (S. 62f.). Die Quellen des Autors sind Fotografien von Arbeiterjugendtagungen der Zeit von 1920 bis 1955 aus dem Bestand des Archivs der Arbeiterjugendbewegung in Oer-Erkenschwick – rund 300 Einzelfotos, teils von professionellen Lichtbildnern, teils aus privater Hand. Schwitanski ermittelt eine tendenziöse Auswahlstrategie der Veröffentlichungen in Zeitschriften und Bildbänden: Bürgerlich gekleidete Jugendliche mit Anzug und Krawatte muss man auf den publizierten Fotografien mit der Lupe suchen, so als seien sie nicht vorhanden gewesen, was aber offenbar nicht der Realität entsprach. Die Auswertung der Privatfotos zeigt noch ein anderes Ergebnis: Das Unterwegssein mit dem Fahrrad oder zu Fuß spielte bei den jugendlichen Knipsern, wie Fotografien kleinerer Gruppen zeigen, bis weit in die 1950er-Jahre hinein eine zentrale Rolle, doch bei den veröffentlichten Aufnahmen sucht man diese Bilder (S. 73) vergeblich. Schwitanski folgert daraus, der fotografischen Praxis sei eine gruppenspezifische Renitenz gegenüber den offiziösen Aufnahmen des Verbandes nicht abzusprechen. Es sei offenkundig, dass sich die betreffende Jugendclique „durch ihre Fotografien ein bildliches Gedächtnis gibt, das sich der Bildprogrammatik des Verbandes widersetzt und entzieht“ (S. 79).

Verdienstvoll und lesenswert ist Rolf Seuberts Aufsatz über „Die (Selbst-)Darstellung der Hitlerjugend im zeitgenössischen Dokumentarfilm“, hat sich doch noch niemand ähnlich tiefgründig an dieses schwierige Genre der Filmgeschichte gewagt. Laut Seubert stellen die HJ-Filme „unverzichtbare“ Quellen für die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus dar, weil es kaum mehr Überlebende gibt. Filme treten „an die Stelle der narrativen Kompetenz der Zeitzeugen [...], wenn die Frage nach dem ‚Wie war das damals?’ nicht mehr gestellt werden kann.“ Die Filme sind natürlich zu Propagandazwecken entstanden, weshalb (wie im Übrigen bei Zeitzeugen-Erzählungen auch) ein quellenkritisches Herangehen unabdingbar sei: „Sie müssen erst entschlüsselt und getrennt betrachtet werden in ihrer Mischung aus Propagandaelementen und ihrem Wert als Dokumentationsmaterial.“ (S. 168) HJ-Filme gab es schon vor 1933. In „Hitlerjugend in den Bergen“ (1932) erlebt ein Trupp Jungens in den bayerischen Alpen ein Abenteuer à la Arnold Fanck und Leni Riefenstahl. Bei den Protagonisten handelt es sich noch nicht um die später geschliffenen Volksgenossen in Uniform. Es sind wilde Gesellen – ihr Ziel: dem „Führer“ dort droben auf dem Berg, wo sonst das Gipfelkreuz steht, die Hakenkreuzfahne zu hissen. Weitere Filme folgten: „Wir unter uns“ (1934) wollte die Jugendlichen der verbotenen Parteien ansprechen, „Jugend erlebt Heimat“ (1935) sollte im Jahr vor der Berliner Olympiade Weltoffenheit demonstrieren, und „Einsatz der Jugend“ (1939) galt – wie auch „Soldaten von morgen“ (1941) – dem Kriegseinsatz als Frontsoldat. Dieser letztere Film stand Pate für den Aufbau der „12. SS-Panzerdivision Hitlerjugend“: „Der Film suggeriert, dass diese Jugend aus in jeder Hinsicht gestählten Welteroberern besteht.“ Mitglieder der „Panzerdivision Hitlerjugend“ erwiesen sich als besonders grausam: Im Juni 1944 waren sie nach der Landung der Alliierten für die Erschießung von 187 kanadischen Kriegsgefangenen verantwortlich (S. 197).

Ebenfalls dem Medium Film widmet sich die Mitherausgeberin Barbara Stambolis. Ihr Thema: „Der Film ‚Junge Adler’ (1944) in generationellen Kontexten“. Als Hauptdarsteller waren Dietmar Schönherr, Gunnar Möller und Hardy Krüger zu sehen. Der Film spielt in einer Flugzeugfabrik, in der ein Feuer ausbricht, und handelt vom bedingungslosen Durchhaltewillen der jugendlichen Lehrlinge an der „Heimatfront“, im propagandistischen Gegensatz zur rauchenden und Alkohol trinkenden städtischen Swingjugend. Stambolis konnte bei ihren Recherchen auf einen Probedruck von „Achtung Aufnahme! Ein Blick hinter die Kulissen beim Drehen des UFA-Spielfilms ‚Junge Adler‘“ zurückgreifen. Verfasst von Dietmar Schönherr, sollte der mit Bildern vom Dreh illustrierte Band Anfang 1945 in Stuttgart erscheinen. Dazu kam es aber nicht mehr. Schönherr selbst hatte kurz nach der Premiere im Mai 1944 seine Einberufung zu den Gebirgsjägern erhalten und sich, wie er im Buch schrieb, „schon lange darauf gefreut, Soldat zu werden“ (S. 223). Dem entgegen setzt die Autorin spätere autobiografische Äußerungen sowie das soziale und politische Engagement von Schönherr und Krüger, die in „Junge Adler“ ihre Filmdebüts hatten und sich Zeit ihres Lebens kritisch damit auseinandersetzten. Ob und wie sich Möller später geäußert hat, darauf geht Stambolis nicht weiter ein.

Einer gänzlich anderen Gruppe mit visuellen Selbsterfahrungen widmet sich der Text „Bilddokumente jugendlicher Devianz unter der NS-Herrschaft“ des Leipziger Geschichtsdidaktikers Alfons Kenkmann: jenen Peergroups, die mit Jungvolk, HJ und BdM nicht so viel anfangen konnten – die Edelweißpiraten und Swingjugendlichen. Vor allem während des Krieges verloren, so der Autor, die streng kontrollierten Organisationen HJ und BdM „enorm an Anziehungskraft [...]. Die dort aufrecht erhaltene Geschlechtertrennung entsprach nicht den Bedürfnissen von Jugendlichen, die unter den Bombenangriffen der Alliierten in ihren Freundesgruppen trotzdem dem Alltag in der Katastrophe etwas abgewinnen wollten.“ (S. 240) Die abgedruckten Fotos stammen aus dem Album eines Angehörigen der bündischen Jugend, der in der Krupp’schen Arbeitersiedlung in Essen-Holsterhausen aufgewachsen ist. Nach einer durch die Gestapo veranlassten Zwangsrasur nannte sich die Gruppe „Glatzenkönige“ – die Jugendlichen waren verbotenerweise in die Moorlandschaft Kirchhellener Heide nahe Bottrop unterwegs gewesen und dort verhaftet worden. Danach wurde subkulturell mehrfach vor der Kamera posiert: „Die Fotos dokumentieren das Scheitern des staatspolizeilichen Ansinnens. Die Jugendlichen waren nicht eingeschüchtert. Im Gegenteil: Auf den Fotos inszenieren sie den ungebrochenen Zusammenhalt der Gruppe.“ (S. 240)

Mit diesen und weiteren Beiträgen bietet der Band „Jugend im Fokus von Film und Fotografie“ einen facettenreichen Einblick in die Visualisierung von adoleszentem Verhalten im 20. Jahrhundert – allerdings weitgehend konzentriert auf die Zeit bis zu den 1960er-Jahren, was das Spektrum des Bildmaterials und der damit verbundenen Praktiken leider etwas einschränkt. Beeindruckend sind jedoch gerade die vielen abgedruckten Fotografien, die jahrzehntelang in Archiven, Alben oder Bilderkisten schlummerten. Für alle, die sich mit jugendlichen Subkulturen, dem Kulturphänomen der Peergroups oder Jugendbewegungen generell und deren Formen in Diktaturen beschäftigen, ist der Band unbedingt zu empfehlen. Insgesamt bleibt die Herangehensweise der meisten Autorinnen und Autoren allerdings zu sehr einem geschichtswissenschaftlichen Duktus verhaftet, der sich mehr am Text und weniger direkt am Bild orientiert. Auch im Kontext der Visual History sollten die Bilder doch als Primärquellen im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses stehen. So wäre es wünschenswert gewesen, die Methoden der Bildanalyse als vorrangiges Instrumentarium einzubeziehen, wie es die transdisziplinäre Bildwissenschaft seit vielen Jahren mit Erfolg praktiziert.