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Titel
Tangenten. Holocaust und jüdisches Leben im Spiegel audiovisueller Medien der SBZ und der DDR 1946 bis 1990 – Eine Dokumentation


Autor(en)
Schieber, Elke
Reihe
Schriftenreihe der DEFA-Stiftung
Erschienen
Anzahl Seiten
692 S., 30 Fotos
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Günter Agde, Berlin

Auf rund 700 Seiten mit über 1000 einzelnen Textbeiträgen inventarisierte die Filmhistorikerin Elke Schieber alles „Jüdische in den audiovisuellen Medien der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR“ (wie es ebenso sperrig wie treffend im Untertitel heißt). Sie referiert alle Filme, die für Kino und Fernsehen der DDR produziert wurden, und die zahlreichen publizistischen Beiträge in der DEFA-Wochenschau „Der Augenzeuge“, in Fernseh-Magazinen, Sondersendungen und Reports. Sie erfasst auch publizistische Nebenschauplätze wie den „Schwarzen Kanal“1 oder weniger bekannte Politiker-Filmporträts für die Staatliche Filmdokumentation2; und es ist gut, dass sie auch die Absolventenfilme der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg einbezogen hat: ein eindrücklicher Nachweis, dass sich schon die Jungen in der Filmkunst der DDR – jeweils auf zeitgenössisch-eigene Weise, versteht sich – mit diesem Thema beschäftigt haben.

Allen Titeln fügt Schieber die nötigen Stabangaben hinzu, wie Personalia, Sende- und Aufführungsdaten, und ordnet sie den diversen Genres zu. Damit wird dem selbstgewählten enzyklopädischen Anspruch mit empirischer Genauigkeit Genüge getan. Sie gliedert die riesige Materialmenge nach großen Themenfeldern: Judenverfolgung im Nationalsozialismus, Antisemitismus vor 1933, Vergangenheit in der Gegenwart, Jüdisches Leben, Palästina – Israel – Naher Osten. Innerhalb dieser Großkapitel geht sie chronologisch vor, insgesamt eine nutzerfreundliche Struktur, unterstützt von genauen Registern, die das Auffinden jedes Beitrages und jedes Mitwirkenden erleichtern. Zu jedem Film und jeder Fernsehsendung gibt es kurze Annotationen der Inhalte.

Schiebers Rapport macht deutlich, wie umfassend und wie kontinuierlich das schwierige und weitverzweigte, aber auch widerspruchsreiche Thema in allen Bereichen audiovisueller Produktion in allen DDR-Jahrzehnten präsent war und wie sich die mediale Abbildung im Laufe der Jahre entlang den politischen und außenpolitischen Intentionen der DDR-Oberen wandelte.

Das Hauptfeld des medialen Umgangs bildete der deutsche Faschismus mit allen seinen Farben und Folgen. Dem folgt ein Überblick über die Nachkriegsauseinandersetzungen, auch mit diversen Formen des Neo-Faschismus in beiden deutschen Staaten, wobei man heute weiß, dass antisemitische Erscheinungen in der DDR ebenso „übersehen“ wurden wie neofaschistische Anzeichen. Damit entsteht eine Art Schieflage in der Enzyklopädie, die zu Lasten der innenpolitischen Verdrängungsstrategien der DDR-Oberen gehen muss. Konsequenterweise bezieht Schieber auch die mediale DDR-Berichterstattung über die Palestine Liberation Organisation (PLO) in aller Ausführlichkeit ein, ein Feld, das zu den Grauzonen des Themas gehört, weil in der SED-Propaganda merkwürdige, höchst einseitige Agitations-Parolen eine wirkliche Auseinandersetzung überdeckten: Der Nahost-Konflikt wurde ausschließlich als „Klassenauseinandersetzung“ beschrieben, der von „imperialistischen Regierungen und monopolistischen Ausbeuterinteressen“ bestimmt sei. Hinter diesen offiziellen SED-Parteiversionen, die mit den außenpolitischen Intentionen der Moskauer Bruderpartei einhergingen, verbargen sich die wirklichen Konflikte, über die geschwiegen wurde.

Allerdings: Die DDR-mediale Auseinandersetzung „mit allem Jüdischen“ allein auf die Darstellung des Holocaust zu reduzieren und dies als erhebliches Manko zu kennzeichnen, wie es Fabian Tietke in seiner Rezension des Buches tut,3 ist unseriös. Schiebers Arbeit widerlegt eindrucksvoll seine These von der Trennung zwischen Darstellung des Holocaust und Antisemitismus in der DDR. Auch Tietkes Referenz, die bundesdeutsche Ausstrahlung der US-Serie „Holocaust“ 1979, greift als Argument nicht: Der vierteilige DDR-Fernsehfilm „Die Bilder des Zeugen Schattmann“ wurde sieben Jahre vor der Serie gesendet, und er hat sehr wohl – trotz aller propagandistischen Umhüllungen der Story – den Holocaust (mit einem großen Auschwitz-Teil) thematisiert, was ihm sogar das Lexikon des Internationalen Films attestiert.4

Wer heutzutage die These vom „verordneten“ Antifaschismus in der DDR ernsthaft vertritt, kann sich überzeugen, wie brüchig und unvollkommen eine solche Meinung erscheint – zumindest, was Film und Fernsehen der DDR angeht. Freilich müsste er sich dann auch die relevanten Beiträge wirklich ansehen (auch Tietke hat offenbar die Filme nicht gesehen). Viele der Filme sind mittlerweile preiswert auf DVD erhältlich, und dies in bester optischer Qualität (dank der DEFA-Stiftung).5 Andere Quellen für das aufgelistete Material, wie vor allem das Deutsche Rundfunkarchiv in Babelsberg, das alle erhaltenen Sendungen des DDR-Fernsehens aufbewahrt, stehen Nutzern zur Verfügung – nicht zu reden von zahlreichen mehr oder minder legalen und dauerhaften Angeboten im Netz.

Schiebers Methode der Inventarisierung schließt aus darzustellen, welche Projekte zum Thema nicht realisiert oder verhindert wurden. Einschlägiges Schriftgut lagert in den Archiven und bleibt wohl einstweilen noch im Verborgenen. Die Gründe, weshalb ein Projekt nicht realisiert wurde, könnten weitere Aufschlüsse über die Widersprüchlichkeit des DDR-Umgangs mit dem Thema liefern. Die Enzyklopädie offenbart das existentielle Dilemma aller lexikalischer Filmerfassung: Beschreibungen können die Filme nicht ersetzen, sind bestenfalls bescheidene textliche Stellvertreter. Um den Wert der Annotationen und ihren Ort in dem Geflecht der Thematik bestimmen zu können, muss man die Filme selbst ansehen. Erfahrungsgemäß entdeckt man dabei viel Unerwartetes, Neues und Spezifisch-Filmisches, das kein noch so guter Text beschreiben kann. Die Filme relativieren jedes verbale Pauschalurteil.

Einige Beispiele: Der ersten Gesamt-Berliner Antifa-Kundgebung nach dem Krieg im Berliner Lustgarten widmet die DEFA-Wochenschau „Der Augenzeuge“ in Nr. 21 / 1946 ein langes Sujet. Die Säulenvorhalle des Alten Museums wurde mit Fahnen der „Opferländer“ zugehängt, darunter auch die israelische mit dem Davidstern. Alle sind gleich groß und also gleichberechtigt. Die Fahnen und ihre Hängung werden im Off nicht kommentiert, aber sie sind nicht zu übersehen. Diese bildliche Gleichberechtigung, die ja auch eine politische Anerkennung darstellt, verschwindet später aus den Filmbildern wie auch aus dem öffentlichen Leben der DDR – ein Indiz für einen schwierigen öffentlichen, politisch intendierten Wandel. Oder jene atemberaubende Einführung in den bereits erwähnten, nach Peter Edels Roman inszenierten Fernseh-Mehrteiler „Die Bilder des Zeugen Schattmann“ (1972, Regie Kurt Jung-Alsen): Familie und Freunde nehmen mit einem großen melancholisch-zeremoniellen Abendessen nach jüdischem Brauch Abschied von einem, der am nächsten Tag nach Theresienstadt deportiert werden soll. Die dichten Bilder assoziieren das spätere Schicksal der Versammelten als Vorahnung auf Auschwitz, dem der folgende Fernseh-Teil gewidmet ist.

Ferner: Karlheinz Munds kurzer Feuilletonfilm „Memento“ (1966) bietet einen stimmungsvollen Gang über den menschenleeren herbstlichen jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee. Wie er jedoch einzelne Grabstellen und Erinnerungsmerkmale oder Steinmetzarbeiten sowie die kahlen Bäume und Laubhaufen abbildet, weist über den Appell des Filmtitels weit hinaus. Oder: In dem Film „Jakob der Lügner“ (1974, Regie Frank Beyer, nach Jurek Beckers gleichnamigen Roman) wird durchgängig und streng die Farbe Grün vermieden. Erst ganz zum Schluss, als die Ghetto-Bewohner in Eisenbahnwaggons abtransportiert werden, zeigt der Film sattes Grün. Die rasende Fahrt durch dichten Wald signalisiert eine flirrend-flüchtige Sehnsucht im Angesicht des Todes und entspricht somit dem Grundton von Zuversicht bei Becker und Beyer. Diese bemerkenswerte Erscheinung ist nur im Film zu sehen. Und schließlich: Der Film „Das zweite Gleis“ (1962, Regie Joachim Kunert nach einem Buch von Günter Kunert) gehört zu den wenigen DDR-Filmen, die die Schuld eines NS-Täters, der in der DDR untergetaucht ist und als Eisenbahner arbeitet, darstellten. Die allmählichen Enthüllungen seiner Schuld bis in Privatestes hinein werden mit avantgardistisch anmutenden Zeichenformeln von Eisenbahnanlagen und Schienen so kontrastiert, dass die Schuldverstrickungen eine filmische Überhöhung erhalten.

So gesehen sollte man die Enzyklopädie als praktikable Handreichung verstehen, der die Ansicht der Filme nachfolgen muss.

Anmerkungen:
1 Sämtliche Sendeprotokolle und weiterführendes Schriftgut der Sendereihe sind online verfügbar unter http://sk.dra.de/ (06.04.2017).
2 Vgl. Anne Barnert (Hrsg.), Filme für die Zukunft. Die Staatliche Filmdokumentation am Filmarchiv der DDR, Berlin 2015.
3 Fabian Tietke, Die Liste vor „Schindlers Liste“, in: Freitag, 10.08.2016, URL: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-liste-vor-schindlers-liste (06.04.2017).
4 Vgl.: https://www.zweitausendeins.de/filmlexikon/?sucheNach=titel&wert=637663766 (06.04.2017).
5 Die Firma Icestorm betreibt den Verkauf, die Stiftung Deutsche Kinemathek den kommerziellen Verleih der Filme.