N. Doumanis (Hrsg.): The Oxford Handbook of European History 1914–1945

Cover
Titel
The Oxford Handbook of European History 1914–1945.


Herausgeber
Doumanis, Nicholas
Reihe
Oxford Handbooks
Erschienen
Anzahl Seiten
672 S.
Preis
£ 95.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kiran Klaus Patel, Department of History, Maastricht University

Politische Gewalt definierte die Jahre von 1914 bis 1945 wie kein zweites Phänomen. Mit diesem Ansatz stellt sich das „Oxford Handbook of European History“ in eine Deutungstradition, die häufig mit Eric Hobsbawm verbunden wird, ihre Ursprünge aber bereits in Debatten der frühen 1940er-Jahre hat. Der von Nicholas Doumanis herausgegebene Band folgt einer längst klassisch gewordenen Phaseneinteilung, die zugleich einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen den beiden Weltkriegen und der zwischen ihnen liegenden Phase herstellt. Im Wesentlichen kreist er um das Problem, wie die Gewalterfahrung und wie „History with a capital ‚H’ imposed itself on the everyday“ (S. 6). Mit seinem Schwerpunkt auf der Gewalt- und der Erfahrungsgeschichte trifft der Band wichtige interpretatorische Vorentscheidungen; dem Charakter des Handbuchs entsprechend will er nicht so sehr neue Perspektiven aufwerfen, als vielmehr zuverlässig entlang von etablierten Deutungsmustern informieren.

Diese Aufgabe erfüllen die in ihm versammelten Beiträge sehr gut, die eine Vielzahl von Zugriffen und Thesen zusammenbringen. Die sieben großen Teile des Werkes mit ihren insgesamt 31 Kapiteln gehen grob chronologisch geordnet vor und behandeln zentrale Fragen, wie etwa die Linke und die Revolutionen (David Priestland), die Geschichte der Sozialpolitik (Julia Moses), die Nationalisierung der Massen (Roger D. Marwick/Nicholas Doumanis) sowie natürlich den Holocaust (Mark Roseman). Alle Kapitel gehen über die Geschichte einzelner europäischer Gesellschaften hinaus; häufig spielen transnationale Aspekte eine wichtige Rolle. Begrüßenswert ist zudem, dass es einen eigenständigen Teil zu „Interwar Europe and the Wider World“ mit drei Kapiteln gibt. Bedenkt man, dass in jenen Jahren die imperiale Expansion Europas das welthistorisch größte Ausmaß annahm und dass Spuren imperialer Weltdeutungen den Alltag in ganz Europa prägten, hätte dieses Themenfeld eigentlich noch mehr Aufmerksamkeit verdient. Umso wichtiger sind Matthew G. Stanards Beitrag zu „Europe’s Unfinished Empires“ und das Kapitel von Martin Thomas zum Wechselverhältnis von Europa, dem Zweiten Weltkrieg und der kolonialen Welt.

Das führt allgemeiner zum Problem der Gewichtungen, bei der sich auch andere Entscheidungen kritisch hinterfragen lassen. So legen überraschend viele Kapitel Schwerpunkte auf die großen Staaten Westeuropas (sowie die Sowjetunion) – eigentlich ist die Forschung in diesem Punkt weiter. Beiträge wie die von Aviel Roshwald zu „Europe’s Civil Wars“ oder von Alexander V. Prusin zu „Nation-Building and Moving People“ setzen in dieser Hinsicht wichtige Gegenakzente, da hier etwa Jugoslawien und die Tschechoslowakei recht ausführlich behandelt werden. Auch andere neuere Tendenzen der Forschung sind nur teilweise sichtbar. Da Europas Geschichte im Zeichen der Gewalt gedeutet wird, lassen sich – zumindest bei schneller Lektüre – die positiveren Potentiale und Entwicklungen auf politikgeschichtlicher Ebene oder etwa die bedeutsamen Beiträge in Kunst und Kultur leicht übersehen. In den empirischen Kapiteln leuchten solche Alternativen zum Krisen- und Gewaltnarrativ jedoch immer wieder auf, etwa wenn Andrea Orzoffs Beitrag zur Geschichte der Demokratie in der Zwischenkriegszeit die pessimistische Deutung von Mark Mazowers „Dunkler Kontinent“ deutlich relativiert.1 Die wahrscheinlich größte Lücke ist jedoch das Fehlen einer eigenständigen Analyse der Ursachen und Auslöser des Ersten Weltkrieges, gerade da dieses Problem in den letzten Jahren so viel Aufmerksamkeit gefunden hat. Was Alan Sked dazu in seinem Überblick zu „Belle époque: Europe before 1914“ zu sagen hat, kann nur an der Oberfläche kratzen. Und während die Gewaltgeschichte entsprechend den Ankündigungen der Einleitung im gesamten Band eine wichtige Rolle spielt und selbst jene 18 Schüler erwähnt werden, die einem Luftangriff auf London zum Opfer fielen, bleibt die Militärgeschichte, selbst in ihren gewalt- und erfahrungsgeschichtlichen Dimensionen, ziemlich blass. Erwähnt sei schließlich, dass die Beiträge auf recht unterschiedlichem Niveau ansetzen: Während etwa das Kapitel von Aristotle Kallis zu „Fascism and the Right in Interwar Europe“ recht viel Raum für historiographische und konzeptionelle Fragen aufwendet und Anthony Adamthwaite zu „War and Peace in the 1930s“ meint, vor allem den Beitrag A. J. P. Taylors (1906–1990) zur Debatte und andere längst geschlagene historiographische Schlachten würdigen zu müssen, konzentrieren sich viele Texte auf eine Darstellung des Vergangenen ohne große Metareflektion.

Solche Probleme in der Gesamtanlage und in der Komposition der einzelnen Kapitel sind typisch für das Genre, aber letztlich prägen eindeutig die positiven Aspekte den Leseeindruck. Viele der Texte spielen die Stärken des systematischen Zugriffs des Buches aus, der immer wieder den Blick auf übergreifende Trends, transnationale Beziehungen und Wechselwirkungen eröffnet. Überzeugend ist auch das relativ große Gewicht, das wirtschaftshistorische Fragen in der Gesamtkomposition des Werkes einnehmen. Auch die Dynamiken (innereuropäischer) Migration, sowie die staatlichen Versuche, diese zu lenken und zu kontrollieren, tauchen in erfreulich vielen Kapiteln auf, ebenso wie die häufig vergessene ländliche Welt, für die das entsprechende Kapitel außerdem umwelthistorische Bezüge zumindest anreißt (Laird Boswell).

Zusammengefasst: Es handelt sich um ein wichtiges Werk, das zuverlässig in viele zentrale Probleme der europäischen Geschichte im Zeitalter der Weltkriege einführt und bald seinen festen Platz besonders in der Lehre finden dürfte. Für manche Fragen und neuere Tendenzen der Forschung, etwa zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, einer modernen Militärgeschichte oder eines Narrativs jenseits der Krisengeschichte für die 1920er- und 1930er-Jahre, wird man weiterhin auf eine Vielzahl anderer Studien angewiesen sein.

Anmerkung:
1 Vgl. Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000. Vgl. als ein Werk, das im Vergleich zum Handbook und zu Mazowers einflussreichem Buch stärker kleinere Staaten und die außereuropäische Dimension einbezieht, Lutz Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945, München 2011.

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