K. Lohsträter: Die Entzündung der Geister

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Titel
Die Entzündung der Geister. Kommunikation, Medien und Gesellschaft in der Ruhrregion im 18. Jahrhundert


Autor(en)
Lohsträter, Kai
Reihe
Presse und Geschichte – Neue Beiträge 98
Erschienen
Bremen 2016: Edition Lumière
Anzahl Seiten
585 S., zahlr. Abb.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rudolf Stöber, Institut für Kommunikationswissenschaft, Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Kai Lohsträters Dissertation von 2012 beseitigt ein Desiderat: Seine Pressegeschichte der Ruhrregion in der Frühen Neuzeit ist ungemein gründlich geraten und liest sich gut.

Die Arbeit ist in fünf Abschnitte unterteilt. Die Einleitung beschreibt auf etwas mehr als 50 Seiten zunächst Problemstellung und Quellenlage, wobei der Autor auf einen „mitunter sehr verstreuten Quellenkorpus“ (S. 63) aufmerksam macht. Seine Untersuchung setzt um 1600 ein und findet in der Napoleonischen Zeit ihren Abschluss. Lohsträter nimmt dafür einen weiten Anlauf: Zunächst beschreibt er die Ruhrregion; den rheinisch-westfälischen Flickenteppich beschreibt er sicherlich zu Recht „als ein verdichtetes Abbild weiter Teile des Alten Reiches im 17. und 18. Jahrhundert“ (S. 43). Handel und Gewerbe waren maßgeblich von Textilverarbeitung geprägt. es dominierten die Klein- und Mittelstädte; Großstädte entstanden erst gegen oder nach dem Ende des Untersuchungszeitraums. Darüber hinaus befasst sich der Verfasser mit Pietismus und Aufklärung und deren Verhältnis zueinander.

Das erste Hauptkapitel ist den Nachrichten- und Verkehrswegen gewidmet. Die Bedeutung der Infrastruktur für eine funktionierende und leistungsfähige Medienlandschaft kann nicht stark genug betont werden. Lohsträter arbeitet die Verdichtung, Stabilisierung und Effizienzsteigerungen der Postnetze heraus. Wie schon Wolfgang Behringer1 kann er zeigen, dass die verschiedenen Netze ineinander griffen: das System der Thurn- und Taxischen Reichspost, das der Landesposten und der Botensysteme der Städte. Gleichfalls deutlich werden die Grenzen, die einer sicheren Nachrichtenversorgung in der Frühen Neuzeit gezogen waren: ihre Abhängigkeit von günstigen Witterungsbedingungen und Beeinträchtigungen durch Kriege.

Mit dem dritten Kapitel beginnt die eigentliche Darstellung. Es ist der periodischen Presse an der Ruhr, ihren äußeren Rahmenbedingungen und der geschichtlichen Entwicklung gewidmet. Zunächst knüpft Lohsträter an das Vorherige an und verbindet die Ergebnisse mit einer Schilderung der Presseregion im 17. Jahrhundert. Er arbeitet die Bedeutung des Pietismus, insbesondere des Halleschen heraus. Mit den Pressegeschichten von Essen und von Dortmund liefert der Autor zwei lokale, pressehistorische Miniaturen. Beschlossen wird das umfangreiche Kapitel mit einer Darstellung der Kommunikationskontrolle im Reich und an der Ruhr.

Der darauffolgende, noch umfangreichere Teil behandelt die Pressegeschichte im engeren Wortsinn, nennt Allgemeines zu Auflage- und ökonomischen Kennzahlen und behandelt die Funktionen und Leistungen der Presse. Hierzu gehören eine Vielzahl von Fragen: Wie entwickelte sich die äußere Gestalt? Was ist zu den pressehistorischen Quellen, zu den Medien, zu ihren Darstellungsformen, zu Aktualität, Periodizität, Publizität und Universalität zu sagen? Welches Selbstverständnis besaßen Publizisten und Journalisten? Welche Inhalte in redaktioneller Hinsicht und in den Anzeigenteilen lassen sich unterscheiden?

Ein interessanter, aber trotz großer Informationsfülle immer noch eher am Rande behandelter Gegenstand ist die Entwicklung des Anzeigenteils. Zum einen lassen sich die Anzeigenteile für die allgemeine pressehistorische Entwicklung auswerten, zum anderen für eine Untersuchung der Sozialstruktur und weiterer Merkmale des Publikums einer Zeitung. Es ist allgemein bekannt, dass Buchhandelsanzeigen eine der Keimzellen der Anzeigenteile waren. Das war in der Ruhrregion nicht anders. Lohsträter zeigt, dass auch Lotterieanzeigen zu den frühesten Anzeigen zu zählen sind (S. 347). Daneben aber gab es bald Inserate aller Art: von amtlichen Bekanntmachungen zu Privat- und Kleinanzeigen, selbst Lebensmittel- und Arzneimittelanzeigen, Anfang des 19. Jahrhunderts sogar Möbel- und Hausratsanzeigen. Schon 1792 fand sich eine Todesanzeige in der „Essener Zeitung“, nur drei Jahre nach einer von Holger Böning identifizierten, mutmaßlich ersten Todesanzeige in einem deutschen Blatt, im „Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten“.2

In der Ruhrregion waren alle Medien ihrer Zeit vertreten: neben den Zeitungen und Zeitschriften auch Intelligenzblätter, Kalender und diverse Mischformen. Die Intelligenzblätter der Region waren ebenso variantenreich wie in anderen Reichsteilen auch. Manche machten eine Art vormoderner „Öffentlichkeitsarbeit für die Interessen des Fürstenstaats“ (S. 217), z.B. in Preußen, andere waren typische Blätter der Volksaufklärung.

Interessant ist die Frage nach dem Selbstverständnis der Redakteure, da sich hierzu nur sehr verstreut etwas finden lässt. Die Bemühungen um Qualitätskontrolle, Unparteilichkeit, Transparenz der Quellen, die Beispiele für eine Problematisierung von Widersprüchlichkeiten in der Nachrichtenlage, zu kommentierenden bzw. erklärenden Fußnoten, die Lohsträter zusammenträgt, sind eindrucksvoll.

Noch schwerer zu eruieren ist das Verhältnis von Presse und Publikum. Der Autor sieht einen engen Konnex zwischen den modernisierungsaffinen und den pressezugewandten Schichten. Wie detailliert er die Arbeit angegangen ist, zeigt schon der Umstand, dass er aus den beiden Jahrhunderten 1.231 Abonnenten der verschiedenen Zeitungen zusammengetragen hat, soweit als möglich deren Beruf und Sozialstatus eruiert hat, um dann Gemeinsamkeiten herausarbeiten zu können. Allerdings stellt sich dabei die Frage, wie weit die überlieferten Namen und Berufe ein zuverlässiges Bild der Gesamtlage abgeben können. Lohsträter stellt an einer Stelle fest, dass die bessergestellten Kreise sich auch in der Überlieferung besser erhalten haben und sich über sie am ehesten weiteres in Erfahrung bringen lässt. Da ist es schon erstaunlich, dass überhaupt „Kleinbürger“ gelistet waren. Wenn der Autor mithin bei der Ausweitung des Publikums in die unteren sozialen Schichten zu anderen Urteilen als die Literatur vor ihm kommt (S. 457)3, dann könnte man dies mit dem von ihm selbst vorgebrachten quellenkritischen Einwand wieder etwas relativieren. Der Verfasser listet neben Allgemeinem zu Auflagezahlen auch weitere ökonomische Kennzahlen. Abgesehen von den Informationsbeschaffungskosten, die dunkel bleiben, sind in Teilen sehr detaillierte Zusammenstellungen von Papier, Redaktions- und Vertriebskosten darunter (vgl. beispielsweise S. 444–450).

Insbesondere interessieren Lohsträter die Funktionen der Zeitungen, Zeitschriften und Kalender für Aufklärung und Volksaufklärung. Dabei überschnitten sich religiöse Motive mit denen des Strebens nach Wissen und Wahrheit. Für den Pietismus galten die medial berichteten Ereignisse als Beispielsammlungen für Gottes Wirken und Weisheit. Selbst zu den Anfängen der Zeitungskunde in den Zeitungskollegs findet sich einiges. Am Beispiel der Berichte über astronomische Ereignisse wird gezeigt, wie Esoterik und Aberglaube allmählich aus dem öffentlichen Diskurs verschwanden. Während noch im 17. Jahrhundert Himmelserscheinungen wie Kometen etc. als Prodigien interpretiert wurden, setzte sich im 18. Jahrhundert in Zeitungs- und Kalenderbeschreibungen von astronomischen Beobachtungen die Distanzierung vom Volksglauben durch. Sie wurde regelmäßig den entsprechenden Nachrichten hinzugefügt.

Presse war ein wichtiges Bildungsmittel. Die Volksaufklärung umfasste nützliche Informationen für jedermann. Sie lieferte medizinische Aufklärung über Impfungen ebenso wie Informationen für die Landwirte zu robusten, ertragreichen und nahrhaften Pflanzen (z.B. zum Kartoffelanbau). Ergänzt war dies bisweilen um Rezepte (z.B. „Kartoffelkäse“). Die Popularisierung, Zusammenfassung und Vereinfachung der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse war vielgestaltig: So trugen unter anderem das „Münsterische gemeinnützliche Wochenblatt“ und die „Duisburgischen gelehrten und gemeinnützigen Beyträge“ die Volksaufklärung. Allerdings war auch die Volksaufklärung ein Geschäft, wie die Neupositionierung eines Blattes, das ursprünglich eine Modezeitschrift gewesen war, im volksaufklärerischen Bereich verdeutlicht.

An der Empirie der Arbeit wird man allenfalls in Details Kritik üben können. Bei Interpretationen und theoretischer Rahmung sieht das ein bisschen anders aus: Lohsträter knüpft in seiner Analyse dezidiert an Luhmann an, jedoch wird nicht recht deutlich, wozu er die Systemtheorie konkret benötigt. Luhmanns zentrales Argument der Autopoiesis wird an keiner Stelle genannt, die doppelte Kontingenz nur im theoretischen aber an keiner Stelle im empirischen Teil.

Aber diese Kritik soll den großen Wert der Arbeit nicht schmälern. Weitere Kritikpunkte sind eher Quisquilien. Der Titel ist mir zum einen zu zeitgenössisch-barock, zum anderen wird die „Entzündung der Geister“ heutige Leser vielleicht eher desorientieren. In der Literaturliste fehlen Titel von Hubert Wolf ebenso wie Reumanns Anzeigenanalyse.4 Wenn der Verfasser die Trennung der geistlichen von der weltlichen Zensur, von der die Literatur bislang immer ausging, bezweifelt (S. 244), möchte ich dem schon mit Blick auf die verschiedenen Institutionen widersprechen. Lohsträter spricht selbst auch vom einem „Nebeneinander der Instanzen“ (S. 247). Das aber galt nicht nur für die weltlichen. Man wird im Übrigen betonen müssen, dass auch diese Arbeit etliche Beispiele enthält, die dem Geschwätz von einem Zeitalter der allmächtigen Zensur die damaligen Realitäten entgegenhält, die komplex und widersprüchlich waren.

Wenn Lohsträter die Ruhrregion als „Nahtstelle der Aufklärungsgeschichte“ (S. 509) bezeichnet, ist das vielleicht doch eine gewisse Übertreibung. Sie war nicht viel anders als weitere Gebiete des Reiches auch. In der Zusammenfassung der Ergebnisse betont der Autor nochmals die Bedeutung der Effizienzsteigerungen im Mediensystem. Diesem Aspekt ist bislang erheblich zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden.5 Für die Volksaufklärung gilt das glücklicherweise nicht.6

Alles in allem darf man resümieren, dass Lohsträter eine großartige regionale Pressegeschichte gelungen ist, die breite Rezeption in den historischen Wissenschaften verdient.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Behringer, Im Zeichen des Merkur: Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2003.
2 Holger Böning, Periodische Presse. Kommunikation und Aufklärung. Hamburg und Altona als Beispiel, Bremen 2002.
3 Vgl. u.a. Martina Kurzweg, Presse zwischen Staat und Gesellschaft. Die Zeitungslandschaft in Rheinland-Westfalen (1770–1819), Paderborn 1999.
4 u.a. Hubert Wolf, Index. Der Vatikan und die verbotenen Bücher, München 2007; Kurt Reumann, Entwicklung der Vertriebs- und Anzeigenerlöse im Zeitungsgewerbe seit dem 19. Jahrhundert, in: Publizistik, 13 (1968), Nr. 4, S. 226–271.
5 Rudolf Stöber, Redundant Layers of Efficient Media Communication. Why communication seems to be stable and the media is not, in: SC/M. Studies in Communication / Media, 4/2015, Nr. 4, S. 301–364, http://www.scm.nomos.de/archiv/2015/heft-4/ (13.12.2016).
6 Vgl. zuletzt die Beiträge in Holger Böning / Reinhart Siegert, Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850. 3 Bde, Stuttgart 2015.