Technology and the Making of Europe

: Europeans Globalizing. Mapping, Exploiting, Exchanging. London 2016 : Palgrave Macmillan, ISBN 978-0-230-27963-6 XX, 352 S. € 67,18

: Europe's Infrastructure Transition. Economy, War, Nature. Basingstoke 2015 : Palgrave Macmillan, ISBN 9780230307995 454 S. € 86,11

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Hansen, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Das vereinte Europa, wie wir es heute kennen, wuchs aus transnationalen Infrastrukturen, insbesondere aus grenzüberschreitenden Schienen, Straßen und Telegraphenkabeln. Dass der europäische Kontinent politisch und wirtschaftlich geeint werden konnte, war auch das Resultat einer technologischen Verflechtung, die zeitlich der Integration nach dem Zweiten Weltkrieg voranging. Dies ist die leitende These des internationalen Forschungsprojekts „Tensions of Europe: Technology and the Making of Europe“.1 Das Projekt argumentiert, dass Infrastrukturen als Integrations- und Herrschaftsmedien angesehen werden müssen, in die bestimmte Verhaltenserwartungen eingelassen sind.2 Diese Erwartungen kristallisierten sich in der (zeitgenössischen) Hoffnung, dass der Angleichung von technischen Standards auch die weitergehende politische Integration folgen würde.3

Wie wenige andere kollaborative Forschungsprojekte hat „Tensions of Europe“ in den letzten 15 Jahren eine Vielzahl von Zeitschriftenartikel, Monographien und Sammelbänden hervorgebracht, die den Beweis für die eingangs formulierte These erbringen. Den Höhepunkt und vorläufigen Abschluss des Projekts bildet nun die Buchserie „Making of Europe“, von der bislang fünf von sechs Bänden erschienen sind.4 Die beiden 2016 publizierten und hier zu besprechenden Bände „Europe‘s Infrastructure Transition: Economy, War, Nature“ und „Europeans Globalizing: Mapping, Exploiting, Exchanging“ sind, um das gleich festzuhalten, zwei großartige Synthesen und Meilensteine der Historiographie Europas, weil sie zeigen, dass die europäische Integration kein Projekt ist, das nur in den Köpfen entstand. Die Bände sind darüber hinaus bemerkenswert, weil sie demonstrieren, wie eine Kulturgeschichte von Infrastruktur aussehen kann.

Die kollektiv verfassten Bände teilen drei Charakteristika: Erstens untersuchen sie die Konstruktion Europas durch Technologien. Sie rücken Infrastrukturen als treibende Kraft der europäischen Einigung in den Mittelpunkt. Expliziter geht dieses Wagnis der von Per Högselius, Arne Kaijser und Erik van der Vleuten verfasste Band „Europe’s Infrastructure Transition“ ein. Maria Paula Diogo und Dirk van Laak interessieren sich in „Europeans Globalizing“ eher für die Selbstkonstruktion der Europäer in ihrer Begegnung mit Nicht-Europäern und für die Rolle, die Technologie dabei spielte. Die Bände ähneln sich zweitens darin, dass sie nicht strukturgeschichtlich arbeiten, sondern konkreten Akteuren mit ihren spezifischen Vorstellungen und Entscheidungen folgen. Europa ist nicht das Ergebnis von anonymen Kräften wie technologischer Fortschritt, Globalisierung oder Europäisierung, sondern ein von spezifischen Akteuren gewolltes und „gemachtes“ Produkt. Drittens zeichnen sich beide Bücher durch einen mehr systematischen als chronologischen Zugriff aus. Die Kapitel sind thematisch nachvollziehbar strukturiert und häufig in sich chronologisch gegliedert. Der Untersuchungszeitraum reicht von etwa 1830, als es zu einer Beschleunigung und Verdichtung von Infrastrukturen kam, bis in die Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts.

Was beide Bücher so inspirierend macht, ist die Vorsicht, mit der die Autoren einem emphatischen Europa-Narrativ begegnen. Högselius, Kaijser und van der Vleuten unterstreichen in ihrer Einleitung, dass die Konstruktion Europas ein „highly volatile, ambiguous, and contested development“ (S. 23) gewesen sei. Europa als Friedensprojekt war mit der Hoffnung gestartet, Armut zu überwinden und Wohlstand zu sichern. Materielle Vernetzungen wie Eisenbahnen, Dampfschiffe und Stromleitungen sollten dabei eine wichtige Rolle spielen. Aber Infrastrukturen verbanden nicht nur. Sie teilten auch – indem sie sozial ohnehin Benachteiligte von neuen Versorgungsnetzen ausschlossen und Ungleichheiten zementierten. So kommen diese Bücher als eine Geschichte von Verbindungen und Vernetzungen daher, aber auch als eine Geschichte von Hierarchien, Grenzziehungen und Asymmetrien.

„Europe’s Infrastructure Transition“ besteht aus drei großen inhaltlichen Teilen. Der erste, überschrieben mit „Connecting Europe“, erzählt von der Etablierung der europäischen Transport-, Kommunikations- und Energiestrukturen. Er berichtet auch von den waghalsigen Träumereien, ein den gesamten Kontinent umfassendes Autobahnsystem und Stromnetz zu bauen (Piero Puricello, Hermann Sörgel, Oskar Oliven). Klar wird in diesen Kapiteln, dass das Verschwinden der sogenannten Mikrostaaten Hand in Hand ging mit der nationalen Territorialisierung. Dies mag zwar schon hinreichend erforscht worden sein. Högselius, Kaijser und van der Vleuten betonen aber, dass der frühen Vernetzung insbesondere im transnationalen Schienenverkehr kein europäischer Antrieb, sondern bilaterale und häufig unkoordinierte Bemühungen zugrunde lagen. Europa erscheint so eher als ein Zufallsprodukt. Sie verdeutlichen auch, dass diese Entwicklung ambivalent war. Wurde der Wandel vor allem von den städtischen Eliten erfahren, war er auf dem Land völlig unbedeutend. Die Infrastrukturprojekte begründeten so neue Ungleichheiten. Europa rückte in manchen Regionen näher zusammen, in anderen blieb es schlichtweg inexistent.

Im zweiten Teil „Economy & War“ beleuchten Högselius, Kaijser und van der Vleuten wirtschaftsgeschichtliche Aspekte der technologischen Konstruktion Europas sowie die Logistiken des Krieges. Im Zentrum stehen militärische „system builders“, die Infrastrukturen zu Kriegszwecken nutzten und für den Holocaust instrumentalisierten. Ursprünglich nahmen Militärstrategen an, dass moderne Technologien den Krieg verkürzen und die Kriegsführung effektiver machen würden. Das Gegenteil traf ein. Wichtig ist gleichwohl, dass Infrastrukturen, die in Kriegszeiten an die Erfordernisse der Schlacht angepasst wurden, sich manchmal auch in Friedenszeiten bewährten und dort in anderer Funktion weiterexistierten (S. 224). Der dritte Teil über „Networking Nature“ spannt einen weiten zeitlichen Bogen und erzählt von der Vernetzung von Land, Wasser und Luft. Lesenswerte Fallbeispiele sind die Abschnitte über die Umweltverschmutzung als gesamteuropäisches Problem sowie über die disparaten nationalen Wahrnehmungen von transnationalen Flüssen (Rhein, Donau).

Maria Paula Diogo und Dirk van Laak richten ihren Fokus stärker nach außen. Sie untersuchen in „Europeans Globalizing“ den Konnex der europäischen Kolonial- und Technologiegeschichte. Beziehungen zwischen Europäern und dem kolonialen Anderen, so ihre These, sind über Technologie – also die damit verbundenen Wissensbestände, Praktiken und materiellen Artefakte – ausgehandelt worden. Europäer bauten Eisenbahnen, Häfen und Straßen, sie verlegten Telegraphenleitungen, elektrifizierten Dörfer und Städte, bauten eine funktionierende Wasserversorgung und eine dem bakteriologischen Wissensstand entsprechende Kanalisation. Zugleich legen die Autoren offen, dass Infrastrukturen im Dienst der Beherrschung und Verfestigung von hierarchischen Machtverhältnissen standen. Europas Austausch mit der Welt war – auch, aber nicht nur – von Gewalt und Unterdrückung geprägt.

„Europeans Globalizing“ zeigt, wie Technologie den europäischen Einfluss in der Welt vermittelte und wie diese Vermittlung auf die Europäer rückwirkte und sie wiederum veränderte. Dass die Europäer sich seit der Aufklärung für technologisch überlegen hielten, ist bekannt. Dass sie aus ihrer vermeintlichen Begabung eine zivilisatorische Verpflichtung ableiteten, ihre Technik und das dazugehörige Wissen in der Welt zu verbreitern, ebenfalls. Diogo und van Laak erzählen diese Geschichte aber stärker und konsequenter als zuvor entlang der Technologie. Sie kehren auch immer wieder die Blickrichtung um und schauen von außen auf Europa. Zentral sind für die Autoren die Rückwirkungen, die die Kolonisierung auf die europäischen Gesellschaften und insbesondere auf die Welt- und Selbstdeutungen der Europäer hatte. Diese Gewichtung folgt einem mittlerweile etablierten historischen Trend, der den Schwerpunkt auf die Gleichzeitigkeit von Aushandlung und Aneignung, von Zirkulation und produktiver Adaption legt. Diogo und van Laak betonen, dass „the objects and human victims of European technologies and scientific judgements were not simply passive recipients but rather scientific and technological agents in their own rights“ (S. 9). Wie die Europäer ihre Technologien mit lokalen Elementen hybridisierten und wie die Nicht-Europäer sich diese Technologien kreativ aneigneten und an indigene Bräuche anpassten, steht im Zentrum der Darstellung.

Diogo und van Laak bekennen offensiv, dass sie keinem Anspruch auf Vollständigkeit folgen, sondern mit „Vignetten“ arbeiten, um ihre These zu erhärten (S. 19). So besteht das Buch denn auch aus sieben Kapiteln, die aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln über Technologie als vermittelnden Faktor zwischen Europäern und Nicht-Europäern nachdenken. Das erste, einleitende Kapitel unterstreicht den doppelseitigen Prozess des „mapping and being mapped“ (S. 27). Am Beispiel von chinesischen Europa-Vorstellungen analysieren Diogo und van Laak, wie diese Fremdzuschreibungen auf die europäischen Selbstbilder zurückwirkten. Daran anschließend beleuchten sie im zweiten Kapitel mit dem Osmanischen Reich, Russland und den Vereinigten Staaten „Europe’s Significant Others“, also Länder, mit denen die Europäer technologisch interagierten. Die Fallauswahl leuchtet ein, denn im Bau der Bagdad-Bahn – um nur ein Beispiel herauszugreifen – mussten die Europäer ihre eigene Identität bestimmen.

Wie relevant Technologien für die komplexe Aushandlung von Identität durch Alterität waren, wird besonders anschaulich im dritten Kapitel, das von der Techniknutzung in der außereuropäischen Kriegsführung handelt. Hier bestehen zahlreiche Verbindungslinien zu den entsprechenden Passagen bei Högselius, Kaijser und van der Vleuten. Das vierte Kapitel ist wohl so etwas wie das Herzstück der Argumentation. Hier untersuchen Diogo und van Laak den Kampf um Afrika, der nicht zuletzt mittels Infrastrukturen geführt wurde. Die Autoren sind weit davon entfernt, nur Bekanntes zu wiederholen. Denn der Fokus liegt neben dem britischen Kolonialismus auch auf den weniger gut erforschten Fällen Portugal und Frankreich. Am Ende des Kapitels steht die Erkenntnis, dass Kolonialismus und Infrastrukturen eine unauflösliche Einheit bildeten, die in der historischen Forschung noch immer nicht angemessen berücksichtigt worden ist.5 Die Autoren sprechen sogar von einer „hidden history“ (S. 148). Während Diogo und van Laak im fünften Kapitel Begegnungen mit Indern, Chinesen und Japanern untersuchen und dabei zeigen, wie unterschiedlich verschiedene Kulturen auf europäische Technologien reagierten (und ihnen ausgefeiltere Techniken entgegensetzen konnten), analysieren sie im sechsten Kapitel die Bedeutung von Technik für die Dekolonisierung. Der Fokus liegt mit der Arktis und Südafrika auch hier auf weniger bekannten Fallstudien. Das siebte Kapitel wirft schließlich einen Blick auf die Zeit nach 1945 und skizziert den rasanten technologischen Wandel, der europäische und nicht-europäische Gesellschaften erfasste.

So überzeugend die beiden Bände zu einer integrierten Geschichte Europas und der Technologie beitragen, so selbstverständlich ist auch, dass sie Lücken lassen, die von anderen Historikerinnen und Historikern bearbeitet werden müssen. Aus meiner Sicht sind vor allem drei miteinander verbundene Punkte zu nennen. Erstens ließe sich noch konsequenter nach den Nutzern fragen.6 Wie sind die Menschen in ihrem Alltag mit den Infrastrukturen umgegangen? Was bedeutete es aus der Perspektive eines Reisenden, mit der Eisenbahn Grenzen zu überqueren? Wurde Europa so erlebbar, oder schärfte die Erfahrung des Grenzübertritts die eigene nationale Identität? Gerade weil der Band von Högselius, Kaijser und van der Vleuten den Schwerpunkt auf die „system builders“, auf Ingenieure, Politiker und internationale Verbände legt, sollte zukünftige Forschung vermehrt die Veralltäglichung von Infrastrukturen jenseits der Eliten untersuchen. Dies könnte zweitens durch eine (auch körpergeschichtlich informierte) Erfahrungsgeschichte der Technik geschehen.7 So ließe sich fragen, ob es zu einer europäischen Angleichung der Erfahrung von Infrastruktur kam. Gab es einen kontinentalen Trend zur Harmonisierung? Letzteres deuten Högselius, Kaijser und van der Vleuten selbst an, ohne den Gedanken systematisch weiterzuführen (S. 62). Diogo und van Laak wiederum geben in dieser Hinsicht zahlreiche Hinweise, wie Nicht-Europäer europäische Technik erlebten, die sich als Ausgangspunkt für weitere Forschungsprojekte eignen. Schließlich kommt wohl kaum eine Geschichte von Infrastrukturen um die Frage herum, wie sie es mit der Agency der Technik hält. Hatten die Eisenbahnen, Telegraphen, Schiffe, Autos, Glühbirnen und Wasserhähne selbst historische Wirkungsmacht? Wie könnten wir eine solche Agency überhaupt untersuchen? Beide Bände geben auf diese Frage keine klare Antwort. Das schmälert keinesfalls ihre Bedeutung, sondern markiert eher das Ende des Fadens, den andere Historikerinnen und Historiker aufgreifen sollten.

Anmerkungen:
1 Siehe die Homepage des Netzwerks „Tensions of Europe (TOE)“: http://www.tensionsofeurope.eu (23.08.2017).
2 Dazu auch kürzlich Jens Ivo Engels / Gerrit Jasper Schenk, Infrastrukturen der Macht – Macht der Infrastrukturen. Überlegungen zu einem Forschungsfeld, in: Birte Förster / Martin Bauch, Infrastrukturen und Macht. Von der Antike bis zur Gegenwart, München 2014, S. 22–58; klassisch Dirk van Laak Infra-Strukturgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 367–393.
3 Siehe paradigmatisch Erik van der Vleuten / Arne Kaijser, Networking Europe, in: History and Technology 21 (2005), S. 21–48.
4 Siehe auch die Homepage der Bücherserie „Making Europe“: http://www.makingeurope.eu/www/bookseries (23.08.2017).
5 Mit Ausnahme u.a. von Dirk van Laak, Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas 1880 bis 1960, Paderborn 2004.
6 Konzeptionelle Überlegungen bei Nelly Oudshoorn / Trevor Pinch, Introduction: How Users and Non-Users Matter, in: dies., How Users Matter: The Co-Construction of Users and Technologies, Cambridge MA 2003, S. 1–25.
7 Siehe dazu Paul Dourish / Genevieve Bell, The Infrastructure of Experience and the Experience of Infrastructure: Meaning and Structure in Everyday Encounters with Space, in: Environment and Planning B: Planning and Design 34 (2007), S. 414–430.

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