S. Haake: Die Narratologie des Kinobesuchs der 1930er bis 1950er Jahre

Cover
Titel
Die Narratologie des Kinobesuchs der 1930er bis 1950er Jahre. Formen des Erinnerns eines saarländischen Publikums


Autor(en)
Haake, Susanne
Reihe
Cadrage. Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft 3
Erschienen
Göttingen 2016: V&R unipress
Anzahl Seiten
174 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Clemens Zimmermann, Kultur- und Mediengeschichte, Universität des Saarlandes

Der Band ist zwar schmal, das Thema aber gewichtig: Es geht nicht nur um Formen des Erinnerns, sondern auch um deren Inhalte, nämlich um Erinnerungen an Kinoerlebnisse und deren mikrosoziale Kontexte, um gesehene Filme und all das, was mit ihnen verbunden war. Da Susanne Haakes Trierer Dissertation gleichermaßen zwei Fächern verpflichtet ist, der Medienwissenschaft (Martin Loiperdinger) und der Germanistik (Georg Guntermann), ist es naheliegend, dass zunächst der interdisziplinäre Gegenstand (kollektives Gedächtnis, identitätsstiftende Erinnerungsorte und lokalisierte Kinoforschung) beleuchtet wird. Die Untersuchungsmethode (narrative Interviews) wird ausführlich vorgestellt, insbesondere werden die Gesprächssituationen reflektiert, die zwischen Interviewerin und Interviewten entstanden, und es wird eine mögliche Verortung der Kinoerinnerung im Lichte von Erzähltheorien diskutiert. Die Autorin beschäftigt sich intensiv mit den jeweiligen Zeitebenen und Frequenzierungen der Erinnerungen und hebt auf die Rolle der Kinoorte ab, deren frühere und spätere Nutzungen den Befragten stark präsent bleiben.

Empirisch geht es um die nordsaarländische Kleinstadt St. Wendel und ihre Umlandgemeinden von der Saargebietszeit über den Anschluss an NS-Deutschland bis zur französisch geprägten Nachkriegszeit. Im Ort bestanden erst ein, dann zwei Kinos, das heißt es gab ein kontinuierliches Filmangebot. Ob dieses teils in einem Gasthausgebäude stattfand, minderte nichts am Erlebnis. 15 Personen der Jahrgänge 1915 bis 1939 wurden jeweils 15 bis 80 Minuten lang befragt. Auf der Grundlage ihrer Stichprobe sucht die Autorin, eine Differenzierung von Stadt und Land vorzunehmen sowie noch eine besondere Form weiblicher Erinnerung festzustellen, was allerdings bei zwölf befragten Frauen gegenüber drei Männern kaum signifikante Ergebnisse erwarten lässt. Es geht um die spezifischen Erinnerungen von jungen Kinobesuchern, wobei freilich nicht auszuschließen ist, dass sich spätere Eindrücke mit den früheren doch vermischten. So ergibt sich zunächst der Eindruck eines theorielastigen und empirisch doch weniger stark aufgestellten Projekts, das allerdings durch einige klassische Quellen lokaler Kino- und Regionalforschung angereichert wird.1

Abgesehen von den Orten der Kinoerinnerung wird zudem nach besonderen Filmen aus der Untersuchungszeit gefragt, etwa nach Unterhaltungsfilmen der NS-Zeit. Beide Ebenen der Fragestellung entsprechen einem dringenden Forschungsdesiderat. Die Studie kann zwar gängigen sozialwissenschaftlichen Repräsentativitätskriterien nicht entsprechen, und bekanntlich bringen der große zeitliche Abstand und unkontrollierbare Interviewbedingungen trotz der Reflexion von z.B. nonverbaler Interaktion erhebliche methodische Unsicherheiten mit sich. Es ist bei einem solchen Verfahren nicht klar, ob die Rekonstruktion der Erinnerung auf das hier und heute abzielt oder ob dadurch ‚authentische’ vergangene Situationen geklärt werden können. Es ist indes gar nicht die Absicht von Susanne Haake, etwas ‚Objektives’ über die erzählten Filminhalte oder die in den Filmen auftauchenden Stars und Darsteller auszusagen, sondern es wird stets im reflexiven Modus eruiert, was die Interviewten als relevant betrachteten. Im Rahmen dieser Perspektive schälen sich dann in der Tat einige Komplexe hervor, die etliche der Hauptthesen überzeugend erscheinen lassen, und wie sie schon durch die bisherige Forschung nahe gelegt werden: Mediale Erlebnisse haben demnach durchaus etwas mit den Orten zu tun, wo man sie erfuhr, eben in diesem Falle dem Kino. Wohl gerade die anscheinend relative Seltenheit des Kinobesuchs im ländlichen Kontext minderte keineswegs die Wichtigkeit des Mediums. Sehr deutlich zeigt sich, dass Kinobesuche stark familiär reguliert wurden und allein aus Kostengründen ein nicht allzu häufiges Vergnügen darstellten. Junge Frauen fanden sich zum gemeinsamen Kinobesuch zusammen, man legte teils recht lange Wege zurück, die schon zum Erlebnis gehörten. Man leistete sich nach den Vorstellungen den fast illegitimen Besuch eines Cafés, trat aus familiärer Kontrolle und Dürftigkeit hinaus. Die gezeigten Filme repräsentierten vielfach Luxus, Mode und attraktive Urbanität, brachten die Vorstellung ins Leben, dass alles auch anders sein könnte, nicht zuletzt hinsichtlich traditioneller Gender-Modelle. Ebenso wird deutlich, mit welch umfänglichen Assoziationen und religiösem Wissen und wie detailliert beispielsweise die französische Produktion „Der Abtrünnige“ von 1954 erinnert wird. Handlungen, Inhalte und gezeigte Symbole des Films sind in der Interviewsituation erstaunlich präsent, was also heißen muss, dass emotional und kognitiv das Gezeigte auf einen tiefen Resonanzboden fiel. Ebenso wird der 1936 als „Film von deutscher Seele“ beworbene „Fährmann Maria“ Jahrzehnte später seinen Grundsituationen und Grundmotiven nach im Erzählen wieder präsent.

Politische Indoktrination trat gegenüber einem solchen Filmerlebnis offensichtlich zurück. Dieser Punkt ist allerdings besonders schwer zu untersuchen, denn die spätere ‚Aufarbeitung’ des Nationalsozialismus veränderte die Einstellung und die wahrgenommenen Narrative gesehener Filme wie „Jud Süß“ (1940) offensichtlich mehr als das ursprüngliche Seherlebnis eine bestimmte Erzählung evoziert hatte. Es bleibt also unklar, ob der Film damals überhaupt als ‚Propaganda’ im Sinne einer tendenziösen Darstellung wahrgenommen wurde oder, bei einem Sechzehnjährigen, doch als ‚objektiv’, das heißt ohne doppelten Boden. Indes die Gattung der Propagandafilme stieß bei den Probanden privat nicht auf großes Interesse, man sah sie eher im Rahmen der Schulklasse.

Gut gelungen ist, trotz des knappen Umfangs der Arbeit, die lokale Kontextuierung der erzählten Befunde. Es erschließen sich mit St. Wendel die Verhältnisse einer nicht untypischen südwestdeutschen Kleinstadt, eines durchaus professionellen Kinobetriebs, dessen Umschlagshäufigkeit zwar durch das Kriegsende gestört wurde, der aber nicht zum Erliegen kam. Etliche weitere Ergebnisse der Studie können die weitere Forschung anregen: Die Differenz des Sehens in einem regelrechten Kino und in einem Wirtshaussaal, Probleme der Wahrnehmbarkeit von Untertitelungen französischer Filme und die Fragmente der Vergegenwärtigung der eben eindrücklichen Kleinstadtumgebung, die man vor und nach dem Kino wieder antraf. So gibt es „eine Welt der Kinowege“, die der Alltagswelt zuzuordnen ist, in die Elemente einer „Welt der Verzauberung“ (S. 126) hineingetragen werden. Rekonstruierte Kinoerinnerung ist notwendig fragmentarisch und inselartig, dennoch ein legitimes Forschungsprojekt. Wie stark das Erforschte ein Teil „kollektiven“ Gedächtnisses ist, bleibt offen, als Teil einer Geschichte des cinema goings erscheint es als plausibel.

Anmerkung:
1 Vgl. Richard Maltby / Daniel Biltereyst / Philippe Meers (Hrsg.), Explorations in New Cinema History, Chichester 2011; Judith Thissen / Clemens Zimmermann (Hrsg.), Cinema beyond the City. Small-town and Rural Film Culture in Europe, London 2016.