D. Bonanno u.a. (Hrsg.): Rechtliche Verfahren & religiöse Sanktionierung

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Titel
Rechtliche Verfahren und religiöse Sanktionierung in der griechisch-römischen Antike / Procedimenti giuridici e sanzione religiosa nel mondo greco e romano. akten einer deutsch-italienischen Tagung, Palermo, 11.–13. Dezember 2014 / Atti di un convegno italo-tedesco, Palermo, 11–13 dicembre 2014


Herausgeber
Bonanno, Daniela; Funke, Peter; Haake, Matthias
Erschienen
Stuttgart 2016: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
316 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maik Patzelt, Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien, Universität Erfurt

Ausgehend von Robert Parkers Beobachtungen zur Relation von Recht und Religion im antiken Griechenland wenden sich Daniela Bonanno, Peter Funke und Matthias Haake mit dem vorliegenden Band gegen ein einseitiges Verständnis dieser Relation, wie es nicht selten in den Debatten zum sogenannten Sakralrecht Ausdruck findet. Dementgegen stellen die Herausgeber die Interferenzen und somit die gegenseitige Bedingtheit, die notwendige Überlappung, um nicht zu sagen die tiefe Verwobenheit und Dialektik der rechtlichen und der sakralen „Sphären“ zur Debatte. Diese bedingte Verwobenheit kann nur in verschiedenen simultan ablaufenden Dimensionen gedacht werden und wird auch so gedacht. So bilden nicht zuletzt die bedingenden Relationen zu wechselnden politischen, sozialen, kulturellen und auch religiösen Verhältnissen den Ausgangspunkt der jeweiligen Untersuchungen, die sich über einen großen Zeitraum der griechisch-römischen Antike bis zur Spätantike erstrecken und somit die historische Besonderheit eines jeden Falles akzentuieren. Dem konzeptuellen Spagat geht dementsprechend nicht selten ein rhetorischer Spagat einher, der seine Anerkennung verdient. Die im Titel benannten „rechtlichen Verfahren“ und „religiösen Sanktionierungen“ bezeichnen vor diesem Hintergrund keine Strukturierung des Bandes, sondern sie bilden die zwei zentralen Pole der reziproken Verwobenheit ab, die diesen Band charakterisieren. Um dennoch Untersuchungsakzente setzen zu können, fußt der Band auf drei Sektionen.

Die erste Sektion legt bereits offen vor Augen, wie komplex durchwachsen und verschiedenartig die rechtliche und die religiöse Sphäre auf der Ebene inner- und zwischenstaatlichen Beziehungen interferieren, sodass sie keine eindeutige Präferenz zu einem dieser Pole zulassen. So eröffnen die Beiträge von Peter Funke, Marie Drauschke und Katharina Knäpper jeweils akzentuierte Einblicke in die integrative Funktion von regionalen und insbesondere überregionalen griechischen Heiligtümern. Eine Beobachtung Funkes, laut der die Sanktionsmöglichkeiten der Heiligtümer die mangelnden Sanktionsmöglichkeiten der staatlichen Bündnispartner kompensieren, entspricht dem Ausgangspunkt für Drauschkes Untersuchung. Erweiternd zu Funkes Beobachtungen, die weit mehr eine amalgame religiös-politische Identitätsbildung und eine räumliche Determination griechischer Bundespolitik hervorheben, debattiert Drauschke die Durchsetzungsmöglichkeiten und somit auch das politisch wirksame religiöse Drohpotential, das die Autoritäten überregionaler Heiligtümer gegen vertragsbrüchige Bündnispartner in den Händen hielten. Knäpper erweitert diese herausgestellte bedingte Verwobenheit von rechtlichen Verfahren und religiöser Sanktionierung, indem sie die Bedeutung dieser panhellenisch bedeutsamen religiösen Orte für die Asyliedekrete akzentuiert, in denen Eunoia, Eusebie und Euergesie als Strategien zu erkennen sind, die Vertrauenswürdigkeit und somit eine musterhafte Identität in rechtsverbindlichen und religiösen Belangen bezeugen.

Nicola Cusumanos, Annarosa Gallos und Lisa Stratmanns Studien vervollkommnen diesen verwobenen Verstetigungsprozess rechtlicher Verfahren und der einhergehenden religiösen Sanktionsmöglichkeiten mit den entsprechenden historiographischen und antiquarischen Diskursen. Während Cusumano die zwischenstaatliche Dimension um deren historiographische Verarbeitung entlang der thukydideischen Plataia-Erzählung reflektiert, erlaubt Gallo einen Einblick in die diffizile Verwobenheit und die diskursive Prägung der religiösen Sphäre mit der rechtsetzenden, politischen Sphäre, wie sie sich bei der Integration neuer sacra in Rom abbildet, bei denen Gallo die Rolle des Senats deutlich über diejenige der Priester hebt und dem einhergehend der senatorischen Politik das Potential zugesteht, mit außenpolitisch bedingten religiösen Entscheidungen ganze Kulturräume über konkrete Kulträume zu prägen. In diesem Geiste schließt Stratmanns Erörterung ab, die tiefere Einblicke in römische Wahrnehmungs- und Attributionsstrukturen – zumindest derjenigen der Oberschicht – erlaubt, indem sie Tacitus‘ Spagat zwischen gezielter Verfremdung (othering) und paralleler, gezielter Romanisierung der germanischen Priester vor Augen führt.

Die zweite Sektion vermittelt ein ähnlich heterogenes Bild im Hinblick auf die Relation von göttlicher Vergeltung und religiöser Sanktionierung, die darauf ausgelegt ist, die gesellschaftliche Kohäsion je nach Kontext zu garantieren oder zu reflektieren. Durch verschiedene Genres hindurch wird die göttliche Interventionskraft als Drohkulisse debattiert, die jedoch auch reale rechtliche Maßnahmenkataloge und Durchsetzungsmöglichkeiten im Hintergrund benötigt, wie es Andrew Lepke anhand derjenigen Kaufverträge erörtert, die einen Sklaven an eine Gottheit mit der Bedingung veräußern, die Freilassung des Sklaven zu garantieren. Zu dieser verwobenen Drohkulisse religiöser Sicherungsinstrumente und weltlicher, vertragsrechtlicher Sicherungssysteme bietet auch Sebastian Scharffs Studie zu den Amnestieinschriften im chaldikischen Dikaia detaillierte Einblicke. Alessia Terrinonis Beitrag zu Feuerbränden in Rom erweitert die Verwobenheit von religiösen und rechtlichen Sanktions- und Sicherungsmaßnahmen mit dem sie konstituierenden Blick auf rechtliche und religiöse Aspekte der Schuldfähigkeit.

Dem einhergehend heben Detlef Liebs und Eva-Maria Kuhn die Signifikanz historischer Kontexte als Ausdruck ihrer jeweiligen verwobenen politischen, rechtlichen und religiösen Bedingtheiten hervor. Während Liebs den Wandel der römischen Eidpraxis pointiert, wendet sich Kuhn im Geiste dieses Bandes anhand der bischöflichen Gerichtspraxis des Augustinus in Hippo gegen Jan Assmans dichotomische Säkularisierungsthese. Kuhn und Liebs thematisieren die diskursive Prägung von Normen, die wiederum durch Anna-Sophie Aletsee anhand Plutarchs ambivalenter Delphi-Anekdote Alexander des Großen aufgegriffen wird. Im Hinblick auf Normativitätsansprüche, die nicht nur Plutarch zu vertreten scheint, legen die dichten Lektüren von Daniela Bonanno und Giovanni Ingarao nahe, dass sowohl Hesiod als auch Herodot ein Set an normativen Vorstellungen formulieren, das die moralische und somit soziale Kohäsion der Gesellschaft stabilisieren und Transgressionen problematisieren bzw. direkt tabuisieren soll.

Die dritte Sektion widmet sich den klaren politischen Ansprüchen, den Bereich des Heiligen zu disziplinieren und mitunter repressiv auszugestalten. Während Klaus Zimmermann für eine neue theoretisch fundierte Korpusbildung der sogenannten leges sacrae plädiert, die in Claudia Biagettis anschließender Studie über entsprechende inschriftliche Dokumente „sakral referenzierter Normativität“ im äolischen Cuma Ausdruck findet, verweisen Matthias Haakes und Pierangolo Buongiornos Studien auf den Anwendungsspielraum, der solchen Normativierungen und ihren jeweiligen weiteren Verwebungen in andere Lebens-, Rechts- und Religionsbereiche einhergeht. Anhand der Asebieprozesse gegen potentiell insubordinatives Verhalten veranschaulicht Haake den politisch motivierten Vorwurf religiöser Devianz, den auch Buongiorno in seinem Beitrag thematisiert, wenn er den Stoßrichtungen rechtlich sanktionierter Divination gegen die senatorische Oberschicht der römischen Republik und des Prinzipats nachspürt.

Inwieweit derartige und andere kaiserliche und reichsweite Verordnungen lokal umgesetzt werden, beleuchtet Alister Filippini in einer epigraphischen Studie, die vielfältige Möglichkeiten offenbart, religiös-deviant erscheinende Personen auf Grundlage übergreifender Gesetze abzustrafen. Alessandro Saggioro erweitert die Komplexität diesbezüglicher religiös oder politisch motivierter Zuschreibungsdiskurse, indem er am Beispiel des Magiediskurses den Aspekt von Raum und Zeit zur analytischen Kategorie erhebt, um den Wandel rechtlicher, politischer und religiöser Verwobenheit kulturgeschichtlich genauer verorten zu können.

Dieser Sektion entgeht nicht das heikle Thema spätantiker römischer Kaiser, die zumeist als Projektionsfiguren rechtlicher Normierungen der religiösen Sphären herhalten müssen. Die Beiträge von Giorgio Ferri, Laura Mecella und Daniela Motta räumen dankenswerter Weise mit dem Topos auf, Religionspolitik und Entwicklungen einzelner Kulte, wie derjenige der Salier, allein auf die kaiserlichen religiösen Präferenzen zu reduzieren. Stattdessen akzentuieren sie sowohl die Eigendynamiken, die den jeweiligen Kaisern zukamen, als auch die vielschichtigen literarischen Diskurse, die sich inmitten rechtlicher und religiöser Verwebungen zumeist einem der beiden Pole als Deutungsparadigmata hingaben.

Der Band in seiner Gesamtheit ist deutlich positiv zu bewerten. Es liegt der grundsätzlich erstrebenswerte Versuch vor, die Vielfalt und Komplexität der Beziehung zwischen Recht und Religion explizit als verwobene Beziehung zu betrachten und nicht als einseitiges Bezugssystem. Darüber hinaus war zu beobachten, dass die einzelnen Beiträge innerhalb ihrer jeweiligen Pole ihrer jeweiligen Sektion die unterschiedlichen Stoßrichtungen der jeweiligen Beziehung mit in den Blick nahmen, ohne der Quellendiskussion einen einseitigen Fokus zu verleihen. Auch in formaler Hinsicht ist an Lob nicht zu sparen. Der Band besticht einerseits durch die Prägnanz seiner Beiträge, die den übergeordneten Fokus nur selten verlieren. Hierin ist zweifellos eine außergewöhnliche Leistung nicht nur der jeweiligen Autoren, sondern insbesondere der Herausgeber zu erkennen, die angesichts des erschwerenden Anspruches, die deutsche und italienische Forschungstradition zusammenzubringen, eine nuancierte Kompilation an Beiträgen gewährleisten konnten.

Gleichwohl die einzelnen Beiträge mitunter wegweisende Akzente setzen, indem sie neue Perspektiven eröffnen, ist ein Mangel an theoretischer Präzision kaum zu übersehen. Dies beträfe etwa den expliziten und impliziten Fokus auf Identitäten und Identitätspolitik. Ebenso reiht sich der Normen- und Normativitätsbegriff in diese Kritik mit ein, zu dem lediglich Kuhn und graduell auch Zimmermann ein konkretes Deutungs- und Anwendungsangebot unterbreiten. Nicht zuletzt wirkt die mangelnde Schärfe der Identitäts- und Normenbegriffe irreführend, weil sie als Surrogat eines implizit operierenden Modells einer Polis- und Civic-Religion zu dienen scheinen. Demgegenüber scheint mir der Wert solcher Ansätze darin zu liegen, exakt diese Konzepte in Frage zu stellen.1 Vor diesem Hintergrund ist auf den demnächst erscheinenden Band von Tanja Itgenhorst und Philippe Le Doze zu verweisen2, der einen präziseren Einblick in die Signifikanz und die Bedeutungsvielfalt von (religiösen) Normen bereitstellt.

Kurzum, der vorliegende Band hält einen wichtigen Beitrag zu einer regen Forschungsdebatte bereit, die lang etablierte Konzepte und Vorstellungen der antiken Religionsgeschichte sukzessive auflöst und durch komplexere Perspektiven ersetzt, die die Komplexität sozialer und religiöser Realitäten immer mehr berücksichtigen. Nicht zuletzt die angemerkte Kritik offenbart das Potential dieses Bandes, das zweifellos zu weiteren Detailstudien und Grundsatzdebatten anregt.

Anmerkungen:
1 Éric Rebillard / Jörg Rüpke, Groups, Individuals and Religious Identity, in: Dies. (Hrsg.), Group Identity and Religious Individuality in Late Antiquity, Washington D.C. 2015, S. 1–12.
2 Tanja Itgenshorst / Philippe Le Doze (Hrsg.), La norme sous la République et le Haut-Empire romains, Bordeaux 2017.

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