Mittelalterliche Zukunftsgestaltung und Zeitwahrnehmung

Schmieder, Felicitas (Hrsg.): Mittelalterliche Zukunftsgestaltung im Angesicht des Weltendes. Forming the Future Facing the End of the World in the Middle Ages. Köln 2015 : Böhlau Verlag, ISBN 978-3-412-50245-4 170 S. € 35,00

Czock, Miriam; Rathmann-Lutz, Anja (Hrsg.): ZeitenWelten. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung 750–1350. Köln 2016 : Böhlau Verlag, ISBN 978-3-412-50528-8 262 S. € 45,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Eva Wannenmacher, Forschungsstelle Jeremias Gotthelf, Universität Bern

Während MediävistInnen der letzten Jahre viel Gelegenheit hatten, vom spatial turn und manche anderen Wendungen hin- und hergerissen zu sein, sind die Dimensionen des temporal turn, wie es scheint, noch längst nicht alle vermessen, und gerade mit Blick auf die mittelalterliche Zeitanschauung herrscht ein oft viel zu eindimensionales Bild mittelalterlicher "Zeitenwelten" vor.

"Was ist die Zeit?" fragt der Münchner Computus1, eines der bedeutendsten mittelalterlichen Lehrwerke zur mittelalterlichen Zeitrechnung, und gibt selbst die Antwort darauf: "Die Zeit ist die Spanne, die sich vom Anfang bis zum Ende erstreckt" – eine vielsagende Antwort. Während heutige Vorstellungen die Zeit vor allem als fließenden Ablauf begreifen, deren einziger, vermeintlicher Fixpunkt die sich stets wandelnde Gegenwart ist, verdeutlicht die Formulierung des mittelalterlichen Verfassers die grundsätzliche Andersartigkeit mittelalterlicher Zeitvorstellungen, bedingt durch das teleologische Weltbild der christlich-jüdischen Welt, das die Weltgeschichte als von einem bestimmten Anfang auf ihr vorbestimmtes Ziel hin ablaufen sieht.

Naturgemäß ist es bei einem solchen Zeitverständnis besonders naheliegend, die eigene Gegenwart darin verorten und sich auf die nahe und fernere Zukunft vorbereiten zu wollen. Dies "im Angesicht des Weltendes" zu tun, wie es der Titel des von Felicitas Schmieder (als Ertrag eines 2013 am Internationalen Kolleg für Geisteswissenschaftliche Forschung "Schicksal, Freiheit und Prognose. Bewältigungsstrategien in Ostasien und Europa" der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg abgehaltenen Workshops) herausgegebenen Bandes formuliert, bedeutet bei weitem nicht immer das Heraufbeschwören apokalyptischer Szenarien vor einer möglichst bedrohlichen Endzeitkulisse, das vielgenannte Heulen und Zähneklappern angesichts zu erwartender Antichristen und Höllenstrafen. Ganz im Gegenteil zeitigt es ein überaus nüchternes und zukunftsorientiertes Planen und Gestalten der Gegenwart. Zeit wird kostbar, wenn sie knapp wird – und die Endlichkeit der Zeit, die eine Konstante mittelalterlicher Zeitenwelten ist, macht die große Bedeutung dieser nicht erneuerbaren Ressource nur umso klarer. Statt Weltflucht, wie sie die Fokussierung auf ein nahes Weltende denkbar erscheinen lassen könnte, finden wir in den meisten der von den Autorinnen und Autoren des Tagungsbands untersuchten Texte ganz im Gegenteil eine entschlossene Zugewandtheit zu einer Welt, über deren Plan und Abläufe die Protagonisten mit Blick auf ihr Ende ein tieferes Verständnis gewinnen wollen. Die Herausgeberin wiederholt dabei die 2001 von Johannes Fried aufgestellte These2, dass gerade die apokalyptische Weltsicht der Ursprung des Fortschrittsgedankens im lateinischen Mittelalter gewesen sei, und die die Beiträge mit unterschiedlichen Herangehensweisen an mehreren Textgenera exemplifizieren.

Der zeitliche und geographische Rahmen der Beiträge erstreckt sich vom frühmittelalterlichen Irland bis zu den böhmischen Hussiten im 15. Jahrhundert. Wieviel Neues das bei MediävistInnen so beliebte Durchdeklinieren der Koselleck'schen These noch bringen mag, sei dahingestellt3; durch die teilweise ungewöhnliche Auswahl von Quellen und Medien und durchaus originelle Herangehensweisen der Autoren vermag der Band einem allzu bekannten Gegenstand dennoch neue Facetten abzugewinnen – auch wenn das Fazit, das die Beiträge fast durchweg eint, in seiner Nüchternheit geradezu modern anmutet: So entsteht ein Bild des Mittelalters, das trotz oder vielmehr mit Fried gerade wegen des vor Augen stehenden Weltendes ein sehr aktives Interesse an der Gestaltung der Zukunft als künftiger Gegenwart hatte und in seiner Gesamtheit darum weder neu noch revolutionär ist oder es zu sein bestrebt, sondern dem bereits im Entstehen begriffenen, neuen Bild dieses zukunftsorientieren Mittelalters interessante Facetten hinzufügt.

"The nature of the End had been revealed by Christ and through the Apocalypse of John, the nature of the future before the End had not", stellt Elizabeth Boyle für das mittelalterliche Irland fest (S. 32), für das sie Texte verschiedenster Quellengattungen untersucht hat, die sich mit Zukunftsgestaltung befassen und die individuelle und die eschatologische Zukunft kaum miteinander in Beziehung setzen. Barbara Schlieben geht neue Wege, indem sie drei Texte unterschiedlicher Gattungen, aus ganz verschiedenen Entstehungskontexten, die jedoch alle die Gegenwart im Blick haben, "auf ihr prognostisches Potenzial" (S. 35) untersucht, die sich vor allem auf die unmittelbare Zukunft beziehen, ohne unbedingt das Weltende im Blick zu haben. Anke Holdenried erklärt die "moralische […] Herangehensweise an das Zukünftige" bei Hugo von St. Vicor und Petrus Cantor als Ausdruck einer mittelalterlichen Geisteshaltung, wobei sie, die sich als Erben der Kirchenväter verstehen, utopische Lesarten der Zukunft strikt vermeiden und sie lieber als Ort der Läuterung darstellen. Angst vor dem Ende als Gegenwartskritik konstatiert Hans-Christian Lehner in den von ihm untersuchten Chroniken. Ähnlich ist das Fazit Susanne Ehrichs bei der Interpretation der Chorfenster der Frankfurter Marienkirche (im Bildteil farbig), die durch die Gegenüberstellung der beiden Zukunftsalternativen die Gläubigen zu Buße und Läuterung veranlassen wollen. Im Spannungsfeld zwischen Endzeitpredigt und Kirchenreform stehen auch die beiden Beiträge von Ulrike Wuttke über den niederländischen Autor Jan van Boendale und Pavlina Cermanova über apokalyptische Prophetie im Hussitismus.

Zusätzlich zu den Abstracts, die jedem der Beiträge in der jeweils anderen Sprache des deutsch-englischen Bandes hinzugefügt sind, verfügt der Band über ein Personenregister und Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren.

Andere inhaltliche Schwerpunkte setzen die Beiträge im ein Jahr später erschienenen Band "ZeitenWelten. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zukunftswahrnehmung, 750–1350", der auf eine Tagung zurückgeht, die die Herausgeberinnen Miriam Czock und Anja Rathmann-Lutz 2015 organisierten; gleichzeitig versteht er sich als Ertrag eines gleichnamigen DFG-Projekts an der Universität Duisburg-Essen aus den Jahren 2012–2015. Zeit und Zeitlichkeit, Deutungszusammenhänge und wechselseitige Bezugsetzungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stehen auch hier im Fokus. Während die Beiträge der "Mittelalterlichen Zukunftsgestaltung" in der Nachfolge Frieds demonstrierten, dass die Erwartung eines nahen Weltendes kein erstarrtes Warten und keine Abkehr von der Welt mit sich brachte, sondern im Gegenteil zum Anlass für energische Durchstaltung der Gegenwart werden konnte, loten die Autorinnen und Autoren um Miriam Czock und Anja Rathmann-Lutz die Tiefen mittelalterlicher Zeitdimensionen aus und gehen der Frage nach, "wie die Konstruktion von Zeit mit der Deutung von Welt zusammenhängt" (S. 9). Die Zeit wird unter den Händen der Autorinnen und Autoren zu einem formbaren Material, sie untersuchen die Verschränkung verschiedener Zeitebenen, die aktive Gestaltung der Zeit in der Liturgie, die Verschachtelung, Schichtung, Durchbrechung von Zeit und Zeitebenen, und es ist kein Zufall, dass die Herausgeberinnen am Ende ihrer sehr lesenswerten Einleitung "Sedimente, Verwerfungen, Verkrustungen, Aus- und Aufbrüche ihres Materials" (S. 26) beschreiben und damit eher eine archäologische Grabung oder eine geologische Exkursion zu beschreiben scheinen. Vom gemeinen, im Vergleich mit diesen Ausführungen wenig reizvollen Bild des mittelalterlichen Zeitverständnisses als einer linearen Bewegung mit bekanntem Anfang und feststehenden Ziel bleibt bei diesen Untersuchungen nicht viel übrig; sie zeigen, dass den verschiedenen Lebenswelten des Mittelalters auch ebenso unterschiedliche Zeitenwelten entsprachen, die nebeneinander existierten und sich gegenseitig berühren und sogar durchbrechen konnten, die die Menschen ebenso aktiv gestalten und messen konnten wie den Raum, den sie durchmaßen.

Auch in diesem Band sprengen bei weitem die für diese Forschung herangezogenen Quellengattungen und die Lebenswelten, denen sie zugehören, den Erwartungshorizont, den man konventionell zur Untersuchung von Zeitvorstellungen vor Augen hätte. Mit der Expertise der Musikgeschichte, der Literaturwissenschaft oder der Paläographie werden literarische, liturgische und hagiographische Texte ebenso untersucht wie historiographische Texte und Visionsberichte. Während Richard Corradini, Miriam Czock, Barbara Schlieben, Eva-Maria Butz und Uta Kleine frühmittelalterliche Autoren wie Walafrid Strabo, Amalarius von Metz oder Theodulf von Orléans betrachten, lädt Petra Waffner ein zu einem "Spiel mit Zeit und Raum" (S. 179) im altfranzösischen Livre du Sidrac, einem enzyklopädischen Werk des 13. Jahrhunderts, das die Zeit in der Endzeit innehalten lässt, und Patrizia Carmassi zu einer Zeitreise durch das hoch- und spätmittelalterliche Halberstadt und seine Bibliothek, die Rückbesinnung und Neuaufbruch in liturgischen Handschriften verschiedener Aufbewahrungsorte, doch identischer Halberstädter Provenienz über mehrere Jahrhunderte hinweg nachverfolgen lässt. Jörg Bölling zeigt die wechselseitigen Bezüge zwischen regnum und sacerdotium, Zeremonie und Zeit am Beispiel der liturgischen Petrusverehrung in der Salierzeit.

Angesichts der Fülle und der Neuartigkeit vieler der gezeigten Ein- und Ausblicke in die Zeitenwelten des Mittelalters fällt es schwer, einzelne der insgesamt neun Beiträge gesondert hervorzuheben; die Auswahl ist notwendigerweise subjektiv. Besonders faszinierend fand ich – neben dem vorgenannten Beitrag von Jörg Bölling –, wie Anja Rathmann-Lutz im letzten Beitrag "Monastische Zeit – Höfische Zeit" im Umfeld des kapetingischen Königtums das überraschende Nebeneinander und die funktionale Verschmelzung dieser beiden Sphären und ihrer Zeitebenen zeigt, die nicht nur linear aufeinander folgen mussten, sondern so konstruiert werden konnten, dass "verschiedene Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünfte […] zur Legitimation des Klosters wie der Dynastie miteinander verschmolzen" (S. 250).

Außer einer umfassenden Einleitung über mittelalterliche Zeitvorstellungen, die durch eine ausführliche Bibliographie ergänzt wird, erhält der Band gut benutzbare (und einmal nicht nur schwarz-weiße, wie das Verlage sonst gern tun) Abbildungen, englische Zusammenfassungen aller Beiträge und wenn auch knappe Personen-, Sach- und Ortsregister, die seine Benützung angenehm gestalten.

Wie der zuvor besprochene Band besticht auch dieser durch sorgsam zusammengestellte, einander gut ergänzende Beiträge, deren hohes Niveau durchweg erfreut und das Fazit erlaubt, dass trotz einer langen Forschungsgeschichte zum Thema mittelalterlicher Zeit- und Endzeitvorstellungen längst noch nicht alles gesagt war. Und vor allem der Band "ZeitenWelten" regt dazu an, die Fragestellung über das bisher Gesagte hinaus zu erweitern: Denn schließlich liege, so stimmen erstaunlicherweise fast alle der in beiden Bänden zu Wort gekommenen mittelalterlichen Autorinnen und Autoren überein, die unmittelbare Zukunft auch in unseren Händen. Vielleicht ist ja noch mehr zu erwarten.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. S. 18 des Beitrags von Elisabeth Boyle im hier rezensierten, von Felicitas Schmieder herausgegebenen Sammelband (S. 17–32).
2 Johannes Fried, Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter, München 2001.
3 Zum Ursprung der von Reinhard Koselleck ins Leben gerufenen Debatte, ihren Grenzen und Möglichkeiten vgl. den Beitrag von Barbara Schlieben in: Schmieder (Hrsg.), Zukunftsgestaltung, S. 33–37.

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