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Titel
Der montierte Mensch. Eine Figur der Moderne


Autor(en)
Stiegler, Bernd
Erschienen
Paderborn 2016: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
377 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Fritz, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

Der Reiz der Maschine ist stark. Kaum brach das technische Zeitalter an, stürzten sich Philosophie, Naturwissenschaft und Kunst auf jene neuen Bewohner der Lebenswelt und begannen die Welt im Zeichen der Maschine zu deuten, suchten das Organische im Gestell, fanden das Mechanische im Körper. Die Erforschung dieser Technoimaginationen sowie ihrer kulturellen Niederschläge erfreut sich seit Jahren größerer Beliebtheit.1 Bernd Stiegler ist mit seiner historischen Rekonstruktion der Figur des „montierten Menschen“ angetreten, die Verschmelzung von Technik und Ästhetik für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts auf den Begriff zu bringen – genauer: auf den Montagebegriff.

Montage sei, und dies versucht der Autor in seinem Buch nachzuweisen, die zentrale Leitmetapher der ersten, sich von der Technik vollends begeistert zeigenden Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen. Diese Leitmetapher weiß er, durch die Berücksichtigung russischer, amerikanischer und europäischer Quellen als „nahezu globales Phänomen“ (S. 10) zu apostrophieren. Montageverfahren der Kunst sowie die rationalisierte Industriemontage entsprangen einem sich gegenseitig beeinflussenden Bedingungsgefüge, so die Kernthese des Buches. Ziel der Montage in Technik wie in Kunst war die Schöpfung des an die veränderte Umwelt angepassten, neuen Menschen; Mittel seiner Produktion waren eben technische Kunst und künstliche Technik. Im Kontext der sich etablierenden Arbeitswissenschaft und in Auseinandersetzung mit der Psychotechnik, dem russischen Avantgardefilm sowie der Fotomontagekunst lässt Stiegler seinen montierten Menschen an Kontur gewinnen und taucht dabei in das Dickicht einer Epoche ein, die Fordismus und Taylorismus zu einer Lebenskunst werden ließ.

Der Neukonzeption des Menschen im technischen Zeitalter nähert sich Stiegler betont schlaglichtartig und gliedert sein Buch in drei Kapitel: Technik und Psychotechnik, Technik und Medien (Film und Fotomontage) sowie Technik und Ästhetik (zum Zusammenspiel von Bild und Text). Die Studien der von Stiegler ausgewählten Protagonisten der Psychotechnik Fritz Giese und Frank Bunker Gilbreth sind Symptom einer Wissenschaft, die Technik als neue, als zweite Natur des Menschen ausgemacht zu haben glaubte. Die Intention der Psychotechnik galt dabei der effizienten Neuverschaltung von Arbeit, Zeit und Leben, sie hatte die gezielte Umprogrammierung der menschlichen Psyche im Sinn. Die epistemologische Annahme dahinter lautete: Psyche ist standardisi[erbar, berechenbar und dadurch beeinflussbar. Kurz: Psyche sei „montierbar“ geworden.

Im zweiten Kapitel werden der Regisseur und der Fotomonteur als Ingenieure der Psyche eingeführt. Vertreter der russischen Avantgarde wie beispielsweise Sergei Tretjakow oder Sergei Eisenstein als auch Protagonisten der Fotografie wie Germaine Krull hatten allesamt die Erzeugung des „neuen Menschen“ mit den Mitteln der technisch-ästhetischen Produktion im Sinn. „Photomontagen sind [...] mediale Aufmerksamkeitstechniken in Zeiten des montierten Menschen“. (S. 125) Sie waren also als Rhythmisierungen der Wahrnehmung, „als Fernsteuerungen der Psyche angesehen und als solche bewußt eingesetzt“ (S. 127). Die intendierten Effekte dieser Steuerung aus der Ferne waren zwar heterogen, sie changierten jedoch stets zwischen Politisierung für und Adaptierung an eine neue, technische Umwelt. Am Beispiel der entstehenden Montagetheorien in der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts, die sich aus einer von Technik und Industrie begeisterten Kunst zu einer „Technik der Ästhetik“ (S. 159) entwickelte, zeichnet Stiegler exemplarisch nach, wie die Dinge der leblosen, technischen Welt mit der Lebenswelt des menschlichen Kollektivs assoziiert, ihre Sphären geradezu in- und übereinander geblendet wurden. So wird an diesem Begriff der Montage deutlich, welches schöpferische Potential man in die Mittel der Kunst in den 1920er- und 1930er-Jahren projizierte.

Im dritten Hauptteil des Buches zeichnet der Autor nach, wie die Montage Merkmale eines pädagogischen Programms annahm. Stiegler nennt das, Walter Benjamin folgend, eine „visuelle Alphabetisierung“ (S. 265). Die Technik befehle, so die Zeitgenossen, eine neue Pädagogik. Mit den Mitteln der Ästhetik wollte man nicht weniger als eine „umfassende Neucodierung der Kultur“ (S. 261) erreichen. Mit dem populärwissenschaftlichen Autor Fritz Kahn, der standardisierten Vermittlungsschrift Isotype des Ökonomen Otto Neurath und dem typografischen Projekt Jan Tschicholds buchstabiert Stiegler das Programm der visuellen Alphabetisierung als eine gezielte Komposition von Bild und Schrift aus. Diese Versuche einer an der technischen Effizienz orientierten Elementarschrift kündigten sich als Aufklärungsarbeit und nahmen damit die Form einer „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (S. 285) an.

Im Epilog des Buchs wird der montierte Mensch recht abrupt zum Faschisten. Kein Geringerer als die Figur des Arbeiters bei Ernst Jünger sei die faschistische Neuinterpretation des montierten Menschen. Unter Berufung auf den Konstruktionscharakter des Gestaltbegriffs ziele Montage in Jüngers Texten wie auch in seinen Bildbänden nicht mehr auf Dynamisierung, sondern auf konservative Stillstellung, auf industriell-standardisierte Abbildung. Mit diesem vorläufigen Kulminationspunkt beendet Bernd Stiegler seine historische Rekonstruktion. Auch wenn Jünger im Grunde an keiner Stelle selber von Montage spricht, so meint Stiegler jedoch in der überhistorischen, jegliche Veränderung einfrierenden Arbeiterfigur das pervertierende Finale seines montierten Menschen lesen zu können.

Ob man sich nun dieser Jünger-Exegese anschließen mag oder nicht, zu kritisieren ist an dieser – zweifelsfrei mit so vielen luzide argumentierenden Einzelinterpretationen aufwartenden – Studie ein Punkt. Der von Stiegler vorgeschlagene Montagebegriff ist so weit gefasst, dass er an Präzision verliert und letztlich alles meint, was den Menschen mit Maschine, Industrie und Technik zu verbinden suchte. Nicht genug auseinandergehalten, verschwimmen Montage als Begriff der Quellen und als Analysemittel ineinander. Die Beeinflussung des Menschen mit den Mitteln einer technisierten Kunst – die ästhetische Strategie, wenn man so will –, der Glaube an die Möglichkeit sowie die Notwendigkeit dieser Beeinflussung ist ein faszinierendes und von dieser Studie gründlich erfasstes Signum der Epoche. Ob man dafür jedoch notwendig alles unter Montage subsumieren muss, ist diskutabel.

Das in professioneller Lässigkeit geschriebene, kurzweilig lesbare Buch bewegt sich mühelos in sehr disparaten Forschungsfeldern und nicht zuletzt in ganzen Disziplinen ebenso gut informiert wie kenntnisreich. Es ist nicht nur ein Buch für Kulturwissenschaftler, Kunst-, Medien- und Kulturhistorikerinnen, sondern bietet darüber hinaus für eine breitere Leserschaft eine interessante und aufschlussreiche Lektüre. Nicht unterschlagen sollte man neben der reichhaltigen Auswahl an schriftlichen Quellen die 136 Abbildungen, die die Argumentation ästhetisch stützen und somit dem montierten Menschen Leben einhauchen. Ein nicht nur spannendes und gut lesbares Buch, sondern auch ein schönes.

Anmerkung:
1 Richtungsweisend für das Verhältnis von Industrialisierung und Organismus ist Philipp Sarasin / Jakob Tanner (Hrsg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1998; der philosophischen Reflexion technischer Objektkulturen widmet sich Erich Hörl (Hrsg.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Frankfurt am Main 2011; zuletzt exemplarisch Heiko Schmied, Metaphysische Maschinen. Technoimaginative Entwicklungen und ihre Geschichte in Kunst und Kultur, Bielefeld 2016.